Die deutsche Debatte über Ratingagenturen

Die neuen Heuschrecken

In Europa wird die Kritik an der Arbeit der US-amerikanischen Ratingagenturen schärfer. Die Debatte, die hierzulande über die Ratingagenturen geführt wird, erinnert an die Kampagne gegen »Heuschrecken«, die 2004 von Franz Münte­fering (SPD) initiiert wurde.

Viviane Reding drohte, die G20-Staaten könnten den Beschluss fassen, das »Kartell der drei US-Ratingagenturen zu zerschlagen«. Damit reagierte die EU-Justizkommissarin in der vorigen Woche auf die erneute Herabstufung der Kreditwürdigkeit Griechenlands und die neuesten Warnungen bezüglich der Bonität Portugals, Irlands, Spaniens und Italiens durch die drei großen Ratingagenturen Moody’s, Standard & Poor’s und Fitch Ratings. Seit der US-Immobilienmarkt im Jahr 2007 zusammenbrach, den die »Big Three« noch unmittelbar zuvor als stabil eingeschätzt hatten, erfreuen sie sich ohnehin keiner großen Beliebtheit, aber die derzeitige Schuldenkrise hat die Kritik an ihnen noch einmal schärfer werden lassen.
Vor allem in Europa wird diese Kritik immer offensiver vorgetragen. »Europa darf sich den Euro nicht von drei US-Privatunternehmen kaputtmachen lassen«, sagte Reding der Welt. Ein Kartell dürfe nicht über das Schicksal ganzer Volkswirtschaften und ihrer Bürger entscheiden. Ähnlich hatte sich der EU-Kommissionspräsident José Manuel Barroso bereits Anfang Juli geäußert. Er hatte den Agenturen vorgeworfen, bei der Bewertung der Lage in Europa voreingenommen zu sein, und angekündigt, dass seine Behörde an einer weiteren Regulierung der Ratingagenturen arbeite. Vor allem dass alle drei großen Agenturen in den USA beheimatet sind, will man in Europa nicht länger hinnehmen. Es sei schon merkwürdig, so Barroso, »dass keine einzige große Ratingagentur aus Europa kommt«. Sein Vorschlag, »mehr Wettbewerb in der Branche zu schaffen«, kann als Auftakt für die Bildung einer eigenen Agentur interpretiert werden, auch wenn Barroso selbst darauf nicht weiter eingehen wollte.
Da gibt man sich in Deutschland bereits etwas forscher. Zahlreiche Politiker brachten die Gründung einer europäischen Ratingagentur in der jüngsten Vergangenheit wiederholt ins Gespräch. Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble (CDU), der bereits seit einem Jahr fordert, das »Oligopol« der US-Unternehmen zu brechen, mahnte angesichts der Äußerungen des Kommissionspräsidenten an, nun endlich »Nägel mit Köpfen« zu machen. Und Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) sekundierte im Interview mit der ARD, das Fehlen einer europäischen Ratingagentur sei »ein Manko« der EU. Noch prinzipieller argumentiert Bundespräsident Christian Wulff. Er sagte im ZDF-Sommerinterview: »Wir brauchen eine Restrukturierung der Bankenlandschaft, wir brauchen eine andere Struktur der Ratingagenturen und wir brauchen natürlich auch mehr Mechanismen, zu sanktionieren.« In Hinblick auf die Ratingagenturen forderte er nicht nur die Bildung eines europäischen Instituts, sondern auch eine Haftungsverpflichtung von Agenturen für den Fall, dass sich ihre Prognosen als falsch herausstellten. Einig sieht er sich darin mit der Opposition. Vor allem von Jürgen Trittin, dem Fraktionsvorsitzenden der Grünen im Bundestag, und vom ehemaligen Bundesfinanzminister Peer Steinbrück, der derzeit als Kanzlerkandidat der SPD gehandelt wird, konnte man ähnlich lautende Äußerungen vernehmen.

Tatsächlich könnte eine politisch gelenkte europäische Ratingagentur den EU-Staaten derzeit gute Dienste leisten. Die teilweise dramatischen Herabstufungen der Kreditfähigkeit der sogenannten PIIGS-Staaten Portugal, Italien, Irland, Griechenland und Spanien machen es diesen beinahe unmöglich, sich auf den Finanzmärkten mit Krediten zu versorgen. Die Zinsen auf Staatsanleihen mit zehnjähriger Laufzeit liegen für Griechenland mittlerweile bei über 17,5 Prozent, für deutsche Anleihen sind es nur rund 2,6 Prozent. Für Italien, dessen Finanzministerium vor zwei Wochen wütend die Manager von Standard & Poor’s zum Rapport einbestellte, droht dieser Zinssatz über sechs Prozent zu steigen. Je weiter die Agenturen die Kreditwürdigkeit eines Landes herabstufen, desto schwerer wird es für dieses Land, sich Geld am Kapitalmarkt zu leihen, und damit steigt auch die Wahrscheinlichkeit, dass der Europäische Rettungsfonds mit Steuergeldern der übrigen Mitgliedstaaten einspringen muss. Bayerns Finanzminister Georg Fahrenschon (CSU) bezeichnete die Herabstufungen als »bewusste Provokation gegenüber den europäischen Steuerzahlern«.

In Europa erhofft man sich von einer eigenen Ratingagentur offensichtlich, die Kapitalströme beeinflussen und in die gewünschten Regionen lenken zu können. Trotz der zeitweiligen Drohung von Standard & Poor’s, die Kreditwürdigkeit der USA wegen ihres an die PIIGS-Staaten erinnernden nationalökonomischen Zustands herabzustufen – das Haushaltsdefizit beträgt etwa zehn Prozent, die Staatsverschuldung hat beinahe die Höhe des jährlichen Bruttoinlandsproduktes erreicht –, wurden die USA bisher immer mit der Bestnote AAA versehen. Das offenbart eine Verquickung zwischen den formal unabhängigen Ratingagenturen und den Ländern, in denen sich ihr Stammsitz befindet. Die chinesische Ratingagentur Dagong Global Credit Rating, die kürzlich Aufsehen erregte, weil sie die Bonität der USA gleich um zwei Punkte herabstufte, könnte zum Vorbild für die Europäer werden. Der Autor Detlef Hartmann hat in seiner Studie über das »Krisenlabor Griechenland« eindringlich darauf hingewiesen, dass sich gerade auf der »wissensökonomischen Ebene der Analysten, Beratungsunternehmen und Ratingagenturen (…) eine neue Auseinandersetzung im Wettbewerb der aggressiven Regionen innerhalb der führenden Industrienationen und zwischen diesen« abspiele.

Das beinhaltet keineswegs, dass die europäische »Schicksalsgemeinschaft« (Merkel) zur Transferunion werden soll, in der die Zentren der industriellen Produktion in Deutschland, dessen Export zu annähernd 70 Prozent in den Euro-Raum geliefert wird, und in Nord- bzw. Mitteleuropa beispielsweise durch die Ausgabe von Euro-Bonds einen Ausgleich der Zinsen auf Staatsanleihen innerhalb der Euro-Zone bewirken würden. Im Interview mit der ARD sagte Merkel, weder ein Schuldenschnitt für Griechenland noch Euro-Bonds kämen für sie in Frage, denn beides habe »den negativen Effekt, dass sich auch andere Länder nicht mehr so anstrengen« würden. Für die Regierung in Berlin wäre das natürlich inakzeptabel, schließlich wurde schon das im Lissabon-Vertrag für das Jahr 2010 vereinbarte Ziel, Europa zur »dynamischsten und wettbewerbsfähigsten wissensgestützten Wirtschaft der Welt« zu machen, nicht erreicht. Auch Barroso wollte seine Kritik an den Ratingagenturen keineswegs als Aufforderung zur Aussetzung der aggressiven Sparpolitik innerhalb der Euro-Zone verstanden wissen. Der frühere portugiesische Premierminister mahnte seine Landsleute, aber auch die Bevölkerungen der anderen südeuropäischen Staaten noch einmal eindringlich, am strikten Sparkurs festzuhalten und sich von der Herabstufung durch Moody’s nicht »ablenken oder demotivieren zu lassen«.
Die Ratingagenturen sind, anders als es derzeit in Europa und vor allem in Deutschland suggeriert wird, nicht die Ursache der Sparpolitik. Hartmann stellt im Hinblick auf das Rating fest, es handele sich um »nicht mehr als qualifizierte Arbeit aus der bürgerlich-wissenschaftlichen Perspektive der neuen politischen Ökonomie des Kapitals«. Dass die Ratingagenturen mittlerweile eine so überragende Rolle bei der Steuerung der Finanzflüsse gewonnen haben, liege daran, dass der größte Teil des Kapitals inzwischen über den Kapitalmarkt in Anleihen oder Verkäufe verbriefter Schuldtitel investiert werde.
Die europäische Unzufriedenheit mit den in den USA ansässigen Ratingagenturen drückt dabei letztlich aus, dass der Lissabon-Prozess ins Stocken geraten ist. Dass weiterhin ein Gefälle zu den USA als Kapitalimporteur existiert, wird von Moody’s, Standard & Poor’s und Fitch Ratings zunächst einmal nur konstatiert.
Dass sich diese Agenturen nebenbei auch ganz gut als Projektionsfläche zur Entladung des Frustes über die Folgen des Sozialabbaus innerhalb der EU eignen, weiß man spätestens seit der von Franz Müntefering (SPD) initiierten Kampagne gegen »Heuschrecken«, die sich gegen die ebenfalls wenig sympathischen Hedgefond richtete. Immerhin, für die Entlarvung solcher Kampagnen wäre eine europäische Ratingagentur hilfreich.