Streit in der Union über den Umgang mit der Schuldenkrise

Niemals der Verwandtschaft trauen

Kohl gegen Merkel, von der Leyen gegen Huber, Abweichler gegen die Regierung – die Konservativen streiten um ihre Politik angesichts der europäischen Schuldenkrise.

Am Ende einer aufregenden Woche kehrte Bundespräsident Christian Wulff wieder zu den Aufgaben zurück, auf die er sich versteht. Im Schloss Bellevue in Berlin verlieh er am Freitag vergangener Woche jungen Menschen, darunter die Schauspielerin Jeanette Biedermann, Verdienstorden für ihr ehrenamtliches Engagement und lächelte dabei staatsmännisch in die Kameras. Kurz zuvor hatte er mit einer Rede ein Maß an Aufmerksamkeit erregt, das ihm in seiner bisherigen Amtszeit kaum zuteil geworden war. Wulff präsentierte sich bislang vor allem als schweigsamer Präsident, wegen seines steifen Auftretens und seiner nüchternen Art gilt er als wenig charismatisch.

Warum er ausgerechnet ein Treffen von Wirt­schafts­nobelpreisträgern im beschaulichen Lindau gewählt hatte, um sich mit einer populistischen Rede zur europäischen Schuldenkrise zu profilieren, wird wohl sein Geheimnis bleiben. Insbesondere kritisierte er dabei die Ankäufe maroder Staatsanleihen durch die Europäische Zentralbank (EZB) als »rechtlich bedenklich«. Damit gehe die Bank »weit über ihr Mandat hinaus«. Die Po­litik müsse »sich davon lösen, hektisch auf jeden Kursrutsch an den Börsen zu reagieren«.
Manche seiner Gedanken waren völlig unsinnig. »Mit wem würden Sie persönlich einen gemeinsamen Kredit aufnehmen? Auf wen soll Ihre Bonität zu Ihren Lasten ausgedehnt werden? Für wen würden Sie persönlich bürgen? Und warum? Für die eigenen Kinder – hoffentlich ja! Für die Verwandtschaft – da wird es schon schwieriger«, räsonierte er öffentlich. Bereits vor geraumer Zeit hatte sich Bundeskanzlerin Angela Merkel auf die vermeintliche Weisheit der »schwäbischen Hausfrau« berufen und gesagt: »Man kann nicht auf Dauer über seine Verhältnisse leben.« Nun erklärte der Bundespräsident anhand des Beispiels der nicht vertrauenswürdigen Verwandtschaft mit zweifelhaftem Lebenswandel, warum sich die Bundesregierung nicht für von der Insolvenz bedrohte Euro-Staaten engagieren dürfe.
Mit einem Aufkauf insbesondere von italienischen und spanischen Staatsanleihen hatte die EZB kürzlich gerade noch eine dramatische Verschärfung der Schuldenkrise verhindern können. In Lindau konnte Wulff mit seinen Forderungen daher wenig Zustimmung finden. »Herr Wulff irrt gewaltig. Er vertritt zum Glück eine Einzelmeinung, der ich widerspreche. Wäre das die offizielle Haltung Deutschlands, wäre der Euro schon lange Geschichte«, sagte der US-amerikanische Nobelpreisträger für Wirtschaft, Joseph E. Stiglitz. Später führte er vor Journalisten aus, dass er Deutschland rate, mehr Schulden zu machen, um mehr aus Südeuropa zu importieren, damit die Wirtschaft dort wieder in Gang komme.
Allerdings hat es Wulff geschafft, in der Berliner Regierungskoalition mit seiner Rede einen heftigen Streit zu entfachen. »Unser Bundespräsident hat recht. Die Euro-Rettung darf nicht zum Strick um den Hals künftiger Generationen werden«, wetterte etwa der CSU-Generalsekretär Alexander Dobrindt in der Bild-Zeitung. Bundeskanzlerin Merkel wies die Kritik zwar zurück. Sie muss aber mit ernsthaften Schwierigkeiten rechnen, denn am 23. September soll im Parlament über die Erweiterung des Euro-Rettungsschirms (EFSF) abgestimmt werden. Nach Informationen von Focus sollen 23 Abgeordnete der Regierungsfraktionen bereits angekündigt haben, die wahrscheinlich wichtigste Entscheidung in Merkels Amtszeit ablehnen zu wollen, darunter auch der CDU-Abgeordnete Wolfgang Bosbach. Die Bundesregierung kann sich aber höchstens 19 Abweichler leisten, wenn sie die symbolisch wichtige Kanzlermehrheit erreichen will. Geht die Abstimmung verloren, muss Merkel wohl um ihr Amt fürchten.

Für Ärger sorgte zudem die Arbeitsministerin und Vize-Parteivorsitzende der CDU, Ursula von der Leyen. Wenn ein Land künftig Hilfen aus dem Rettungsfonds beanspruchte, solle es dafür mit Goldreserven und Industriebeteiligungen garantieren, forderte sie vergangene Woche – und stieß damit in der Koalition auf wenig Begeisterung. »In Währungs- und Finanzfragen sollten diejenigen, die nichts davon verstehen, lieber den Mund halten«, erwiderte der frühere CSU-Vorsitzende Erwin Huber. Erst kürzlich hatten finnische und slowakische Politiker ähnliche Forderungen erhoben. Würden sich weitere Länder dieser Idee anschließen, käme der Rettungsfonds wohl nie zustande, da hochverschuldete EU-Staaten wie Griechenland oder Portugal gar nicht über entsprechende Goldreserven verfügen.
Kurz darauf irritierte von der Leyen ihre Parteikollegen mit der Aussage, ihr Ziel seien die »Vereinigten Staaten von Europa«. Um im globalen Wettbewerb zu bestehen, reiche eine gemeinsame Währung nicht aus, man brauche eine politische Union, sagte sie dem Spiegel. Als Beispiel nannte sie föderale Staaten wie die Schweiz, die USA oder Deutschland.
Wie zerstritten und orientierungslos die Union tatsächlich ist, zeigten die Reaktionen auf die Äußerungen eines anderen konservativen CDU-Politikers. Nur einen Tag nach Wulff meldete sich plötzlich der ehemalige Bundeskanzler Helmut Kohl zu Wort. Wer nur frage, wie viel Europa kosten dürfe, habe die Chancen und Risiken nicht begriffen, dozierte Kohl vergangene Woche in der Zeitschrift Internationale Politik. Die Hilfe in der Schuldenkrise, beispielsweise für Griechenland, sei notwendig, »wenn wir Europa nicht auseinanderbrechen lassen wollen«.
Die pathetische Mahnung Kohls zeigt den Zwiespalt der Konservativen, denn viele der Politiker, die Wulff mehr oder weniger offen zustimmen, sehen sich selbst in der Tradition des ehemaligen Kanzlers. »Es passt aber nicht zusammen, für Helmut Kohl zu sein und gegen die Stützung des Euro«, kommentierte die Welt. »Die Widersprüchlichkeit der Sehnsucht nach früheren Zeiten, die gerade wegen Kohls Politik unwiderruflich vergangen sind, lässt sich nicht sinnvoll auflösen.«
Doch nach wie vor verstehen sich viele deutsche Politiker als Opfer der Schuldenkrise und lehnen weiter gehende Rettungsmaßnahmen wie die Einführung von sogenannten Euro-Bonds entschieden ab. Wie irrational diese Haltung ist, hat kürzlich der ehemalige britische Premierminister Gordon Brown in einem Beitrag für die New York Times dargelegt. »Wo auch immer eine Party stattgefunden hat, haben die deutschen Banken die Drinks serviert«, beschreibt er das lange Zeit profitable Engagement der Deutschen. Brown verweist auf Zahlen der Bank für internationalen Zahlungsausgleich, denen zufolge Deutschland insgesamt 1,5 Billionen Euro an Griechenland, Spanien, Portugal, Irland und Italien verliehen habe. Zu Beginn der Euro-Schuldenkrise hätten 30 Prozent der Kredite an den privaten und öffentlichen Sektor dieser Länder aus Deutschland gestammt. »Im Ergebnis tragen die deutschen Banken – gemessen an ihrem Eigenkapital – die höchsten Risiken aller entwickelten Volkswirtschaften«, schreibt Brown mit Verweis auf Daten des Internationalen Währungsfonds. »Es ist an der Zeit, dass Deutschland anerkennt, dass es ein integraler Bestandteil der Lösung des Problems sein muss, weil es schon ein integraler Bestandteil des Problems war«, resümiert der ehema­lige Premierminister, der zugleich für die Einführung von Euro-Bonds wirbt.

Ironischerweise kommt daher der von Wulff so vehement kritisierte Euro-Rettungsfonds vor ­allem deutschen Banken zugute. Ohne diese Unterstützung wären nicht nur die Regierungen der südeuropäischen Eurostaaten bald zahlungsunfähig, sondern auch die privaten Finanzinsti­tutionen der jeweiligen Länder. Hauptleidtragende einer Staatspleite wären wiederum vor allem deutsche Banken. Die Folgen kämen die Bundesregierung vermutlich wesentlich teurer zu stehen als der gemeinschaftlich finanzierte Euro-Rettungsschirm. In diesem Sinne hat Wulff vielleicht doch unfreiwillig Recht gehabt. Der eigenen Verwandtschaft kann man tatsächlich nicht immer trauen. Nur lebt sie in diesem Fall nicht in Athen oder Lissabon, sondern in Frankfurt und Düsseldorf.