Die israelische Protestbewegung diskutiert über die Anschläge

Nur noch auf dem zweiten Platz

Die jüngsten Anschläge in Israel und die Reaktion der Regierung stellen den Zusammenhalt der sozialen Protestbewegung auf die Probe. Es gibt Versuche, die Protestbewegung zu kri­minalisieren, diese hält aber an der Forderung nach Gewaltlosigkeit fest. An einer ­radikalen Gesellschaftskritik ist ihr nicht gelegen.

»Wir fühlen uns dem Süden Israels stark verbunden«, sagt Stav Shaffir der Jungle World. Die Studentin ist eine der Sprecherinnen der Protestleitung im Organisationsteam der J14, der Sozialproteste, die am 14. Juli begannen. Dessen Reaktion auf die Anschläge in Be’er Sheva und Eilat war unmissverständlich: Statt einer weiteren jener Großdemonstrationen, die auf ihrem Höhepunkt eine für Sozialproteste in Israel historische Anzahl von 300 000 Personen auf die Straßen gebracht hatten, veranstaltete es am vorvergangener Samstag mit nur etwa 5 000 Personen einen Schweigemarsch durch Tel Aviv. Die Demonstrierenden gedachten der Opfer und forderten einen Waffenstillstand. Kurz nach den Anschlägen reagierte die israelische Armee mit Luftangriffen auf Ziele im Gaza-Streifen, dort ansässige Terrorgruppen beschossen Israel mit Raketen. Während des Schweigemarschs kam es zu Rangeleien mit Anhängern rechter israelischer Gruppen.
Die Entscheidung für den Gedenkmarsch wurde nicht von allen in der Protestbewegung getragen. Zu den Argumenten der Gegner gehörte die Befürchtung, die Proteste könnten die neuerliche Eskalation und die bevorstehenden Verhandlungen um einen palästinensischen Staat nicht überdauern. Dies spiegelt sich inzwischen in der Berichterstattung der israelischen Medien wider, die Zeltstadt ist nicht mehr das wichtigste Thema. Trotz der Entscheidung gegen eine Massendemonstration stellten die Organisatorinnen und Organisatoren um Stav Shaffir, Daphne Leef, Yonatan Levi und Yigal Rambam ihre politischen Ziele weiter an die erste Stelle. »Wir wissen, dass wir gerade in diesem Moment nicht aufgeben dürfen. Wir müssen zusammenbleiben und die Veränderung einfordern«, sagte Stav im Anschluss an den Schweigemarsch.
Worin die Veränderung bestehen soll, ist weiterhin unklar. Die Proteste werden von ihren Anhängern fast durchgehend als »Revolution« bezeichnet, und der Protestleitung geht es tatsächlich um eine grundlegende Neuordnung der israelischen Gesellschaft. Die proklamierte Revolution bleibt aber symbolisch. Sie spielt sich auf der Ebene der Partizipation, des Aktionismus im öffent­lichen Raum, eines enorm angewachsenen Veränderungswillens und eines neuen Sinns für das Politische abseits alltäglicher Politik ab. Obwohl auch die konkreten Forderungen längst über eine Kritik an hohen Mieten und fehlenden Wohnrechten hinausgehen, beinhaltet der massentaugliche Ruf nach »Zedek Chevrati« – sozialer Gerechtigkeit – keine grundlegende Systemkritik. Er funktioniert als Zusammenfassung des politischen Unmuts, der jahrzehntelang unter der Oberfläche vorhanden gewesen sein muss. Jetzt ist er groß genug, um Familien, Anarchisten, Zionisten, Studenten und sogar Ultraorthodoxe unter diesem Slogan zu vereinen.

Revolution ist in der Debatte um die Zeltproteste nicht das einzige geflügelte Wort, »Trachtenberg« steht auch hoch im Kurs. Der Name steht für das von der Likud-Regierung eingerichtete Komitee, in dem Manuel Trachtenberg den Vorsitz hat und das mit der J14-Leitung debattieren und Lösungen aushandeln soll (Jungle World 33/11). Für die meisten gilt Trachtenberg als Reformist, der den Protest durch oberflächliche Reformen zum Verstummen bringen soll. Die Antwort auf Trachtenberg sind autonome Komitees aus den Reihen der Protestleitung und der israelischen Gesellschaft. Nach einigen medienwirksamen Veranstaltungen und der Veröffentlichung von Forderungskatalogen sind die Gegenkomitees als halboffizielle Verhandlungspartner anerkannt, sie vermeiden bislang aber jede Verhandlung.
Der 26jährige Yonatan Levi, Student und Mitglied der Protestleitung, erklärte kurz nach der jüngsten Pressekonferenz: »Daphne und ich haben eben Trachtenbergs Rücktritt gefordert. Die Angebote seines Komitees sind völlig irreführend. Angenommen, er meinte sie ernst, dann besitzt das Komitee nicht einmal die nötigen Ressourcen, um uns abzuspeisen. Prinzipiell liegen Welten zwischen unseren Forderungen und Trachtenbergs Ansätzen, es geht hier um die Ideologie. Solange Trachtenberg nicht von Netan­yahus Politik abweicht und weiterhin unfähig bleibt, unseren Forderungen entgegenzukommen, werden wir nicht verhandeln.« Statt zu verhandeln, versuchen die Gegenkomitees also seit knapp zwei Wochen, der geforderten Veränderung und dem allgemeinen Enthusiasmus eine Richtung zu geben. Ist das »revolutionäre« Moment aber nicht bereits abhanden gekommen? Was müsste passieren, damit der Protest massenwirksam bleibt? »Natürlich, die Situation ist problematisch«, gibt Yonatan zu Bedenken, die Zeltbewohner würden müde. »Der Protest geht immerhin in die sechste Woche, und die Anschläge im Süden haben die Aufmerksamkeit der Menschen abgelenkt. Dennoch stehen immer noch über 90 Zeltstädte, und wir nutzen alle Energie, die bleibt.« Nächste Woche sollen eine Million Menschen auf die Straße gehen. Nach der Demonstration am vergangenen Samstag, an der in Tel Aviv nur 25000 Personen teilnahmen, scheint dieses Ziel utopisch.

Ob mit der Gründung der Komitees die Chancen auf Erfolg gestiegen sind, ist bislang nicht abzusehen, zumal nicht klar ist, was genau als Erfolg verbucht werden soll: mehr Mieterrechte und Reformen des Erziehungs-, Bildungs-, Gesundheits- und Kulturbereichs? Die Garantie auf mehr Geld, freie Selbstentfaltung und Konsum, die Einlösung des kapitalistischen Glücksversprechens unter gleichen Voraussetzungen? »Kapitalismus mit menschlichem Anlitz«, antwortet Yonatan schmunzelnd, »klar, nicht alle wollen die sozia­listische Gesellschaft, aber soziale Gerechtigkeit wäre ein Anfang.«
Was die Protestformen angeht, kam es in der vergangenen Woche zu einer Radikalisierung. Zum zweiten Mal wurde in der Nähe des Rothschild-Boulevards ein leerstehendes Haus besetzt, diesmal in der Dov-Hoz-Straße. Die ungefähr 200 Besetzerinnen und Besetzer aus den Reihen der J14 hatten es gereinigt, bezogen und der Öffentlichkeit auf einem großen, roten Fronttransparent als »befreites Haus« präsentiert. Obwohl Hausbesetzungen in Israel kein so verbreitetes oder erprobtes Mittel linker Politik wie in Europa sind, trafen die Besetzerinnen und Besetzer mit ihrer Aktion einen Nerv.

Nach dem Wunsch des verstorbenen Besitzers sollte das Haus als Kulturzentrum genutzt werden, ein Plan, den die Stadt Tel Aviv nie verwirklichte. Trotzdem wurde das Haus noch in derselben Nacht geräumt, die Besetzer wurden von Bürgermeister Ron Huldai als Kriminelle stigmatisiert. »Ich habe erst kürzlich meine öffentliche Unterstützung für diesen Protest kundgetan. Ich war sogar bei der großen Demonstration dabei. Nun aber wurde eine Grenze überschritten: Eine Minderheit von Hitzköpfen hat sich entschieden, das Gesetz zu brechen. Diese Leute beuten den öffentlichen Zuspruch für die guten Seiten des Protests aus und führen ihn auf den Weg von Kriminalität und Gewalt«, wird Huldai von der Wirtschaftszeitung Globes zitiert. Dass die Räumungsaktion bis auf ein paar kaum nennenswerte Rangeleien mit der Polizei gewaltlos ablief, erwähnte er nicht.
Es erscheint recht unwahrscheinlich, dass es zu einer gewalttätigen Eskalation des Protests kommt. Abgesehen davon, dass radikalere Gruppen in der Minderheit sind, schreibt die Protest­leitung sich Gewaltlosigkeit auf die Fahnen, egal ob es sich dabei um rote, blau-weiße oder bunte handelt. Auf die Frage, ob die J14 nicht ein Quentchen London vertragen könnte, meint Yonatan: »Nein, wir haben genug Gewalt in und um Israel. Das ist keine Lösung.«