Der Herbst kann positiv überraschen

Warten auf den Herbst

Der Herbst ist unbeliebt, weil er den beliebten Sommer ablöst. Dabei ist er die beste Jahreszeit, weil nur der Herbst uns positiv überrascht.

Wenn alles ganz schlimm kommt, sehen Jahreszeiten so aus: Ums Verrecken nicht beginnen wollende Frühlinge. Verregnete, viel zu kalte Sommer. Und natürlich Winter, die sich mit allen ihren unangenehmen Begleiterscheinungen wie Dauer­erkältungen, Blitzeis und Schneematsch bis weit in den April hinziehen.
Der Herbst bildet in diesem jahreszeitlichen Horrorkabinett die strahlende Ausnahme, denn er bringt genau das, was man von ihm erwartet: tief hängende dunkle Regenwolken, lebensbedrohliche Stürme, Dunkelheit und Depressionen. Okay, das ist alles nicht wirklich gut, aber der Herbst kann auch anders, und oft genug wird man, wenn man sich gerade ganz auf all das von ihm drohende Ungemach eingestellt hat, positiv überrascht. Dann gibt es diese Momente, in denen auf einmal die Sonne auf buntes Laub scheint, auf glitzernde Spinnweben und auf Menschen, die ihr Wetterglück gar nicht fassen können.
So viel gute Laune wie an einem unvermutet warmen sonnigen Herbsttag herrscht in den anderen Jahreszeiten nie. Man läuft beispielsweise keine Gefahr, von einem Autofahrer überrollt zu werden, wie im Sommer, wenn Fahrzeuglenker, von plötzlich einsetzenden Höchsttemperaturen überrascht, vollkommen dehydriert und damit absolut gaga hinterm Steuer sitzen. Oder wie im Winter, wo natürlich kein Mensch damit rechnen kann, dass dieses Glatteis tatsächlich glatt ist und Autos darauf ausrutschen können.

Gleiches gilt übrigens auch für Fahrradfahrer, die ebenfalls mit keinerlei Wetter zurechtkommen. Aber die glitschigen Blätter, die im Herbst überall herumliegen!? Eben. Matschlaub sorgt dafür, dass blödsinnige Fahrradrowdies, die Bürgersteige als ihr Eigentum betrachten und Fußgänger als ihre ausgewiesenen Feinde, sich mit erfreulicher Regelmäßigkeit fein säuberlich auf die Fresse legen. Und mehr kann man von einem einfachen Blatt nun wirklich nicht verlangen.
Aber natürlich hat der Herbst noch viele weitere Vorteile. Kastanien zum Beispiel. Kastaniensammeln gehört – wenn man nicht über Kinder verfügt, die man mit der Anfertigung diverser hässlicher Figuren gründlich durchlangweilen möchte – zu den schönsten und sinnlosesten Tätigkeiten überhaupt. Und das geht so: Begeistert von den wunderschön glänzenden Früchten, die sich ganz sicher super als Herbst-Deko auf dem Fensterbrett machen (vielleicht zusammen mit diesen Zweigen, an denen zweifellos giftige rote Beeren wachsen, ein paar Brombeerblättern und was man sonst noch so findet), beginnt man damit, die kullernden Dinger aufzusammeln. Stolz geht man mit seiner Beute nach Hause, wo man sie umgehend irgendwo hinlegt und vergisst. Wenn man dann nach ein paar Tagen nachguckt, sind die schönen Kastanien unrettbar verschrumpelt, was aber nicht weiter schlimm ist, denn von den Zweigen sind die roten Beeren mittlerweile auch abgefallen und die Brombeerblätter sind unattraktiv vertrocknet, so dass man den ganzen Krempel auf der Stelle in den Müll wirft – und sich beim nächsten Spaziergang voller Elan daran macht, neue Kastanien aufzusammeln und neues Strauchgedöns.

Nun besteht so ein richtiger Herbst aber natürlich nicht bloß aus idyllischen, sonnigen Tagen, das ist ja schließlich auch gar nicht der Job dieser Jahreszeit. Der ist es vielmehr, dunkle, regnerische Wochen zu präsentieren. Die sind in der Tat nicht schön, aber man kann sie bequem aussitzen, zum Beispiel, indem man den Sessel ans Fenster rückt, all die Bücher, die man schon immer mal lesen wollte, ohne die Zeit dafür zu finden, daneben platziert und loslegt. Wenn es draußen allzu finster wird, kann man sich dazu noch in eine dieser Kuscheldecken einmummeln, die es derzeit überall für Zwofuffzich gibt. Oder dicke Flauschsocken anziehen. Und, ganz wichtig, immer mal wieder aus dem Fenster gucken, das usselige Wetter draußen überprüfen und sich sehr darüber freuen, dass man da nicht raus muss in diese Depressionsscheiße.
Gut, das mit diesem Draußen ist ein echter Nachteil des Herbstes, gegen den es außer hässlichen Regenjacken und überdachten Fußgängerzonen auch noch kein probates Mittel gibt. Aber dafür dauert die Jahreszeit ja auch nicht besonders lang, sondern geht in aller Regel zügig erst in einen langen Winter voller Hustenschnupfenheiserkeit und Eisglitschen und dann in einen sonnenlosen, viel zu kalten Frühling über. Und vielleicht, vielleicht, vielleicht in einen traumhaften Sommer voller Sonnenschein, Wärme und guter Laune, mit Urlaub am Meer und langen Abenden, an denen man in Restaurants und Kneipen draußen sitzen kann. Sehr wahrscheinlich ist das aber nicht, denn da ist ja noch die Sache mit der Jahreszeiten-Verlässlichkeit. Und da toppt der zuverlässige Herbst nun einmal wirklich alles.