Das No-Border-Camp in Bulgarien

»Wir sollen für Europa die Tür dicht halten«

Bald wird Bulgarien Teil des Schengen-Raumes sein. Dann wird die rund 200 Kilometer lange Grenze zur Türkei die neue Außengrenze der EU bilden. Schon jetzt wird von der bulgarischen Regierung erwartet, dass sie effektive Strategien zur Abwehr von Flüchtlingen entwickelt. Beim diesjährigen No-Border-Camp versuchten Aktivistinnen und Aktivisten, die Bevölkerung für Themen wie Ausländerfeindlichkeit in Bulgarien und die Migrationspolitik der EU zu sensibilisieren.

In der Umgebung sind Hakenkreuze an die Wände gesprüht, und wer nach dem Weg zum Aufnahmezentrum fragt, muss sich von dem bulgarischen Pärchen an der Ecke fragen lassen, ob er »ein Masochist« sei. Doch ein Besuch bei Saina Osama bereitet keine Qualen. Sie hat selten Gäste und ist sehr freundlich.
Das Wohnheim der staatlichen bulgarischen Flüchtlingsagentur liegt in einem Außenbezirk der Hauptstadt Sofia. Der siebenstöckige Komplex verströmt die Atmosphäre einer staatlichen Großklinik zu Warschauer-Pakt-Zeiten. 400 Menschen sind hier untergebracht, die meisten kommen aus dem Nahen Osten. Vor dem Eingang liegen Hunde, der Wachmann lässt Besucher nur passieren, wenn sie erklären, zu wem sie wollen – und weshalb. Osama trägt ein schwarzes Trikot von Bayern München, die Haare hat sie straff zurückgekämmt, an der Hand hält sie ihren kleinen Sohn. Seit vier Jahren lebt die 30jährige Palästinenserin mit ihm in dem Heim, staatliche Unterstützung bekommt sie keine, seit ihr erster Asylantrag abgelehnt wurde. »›Sei froh, dass du hier wohnen kannst‹, haben sie gesagt«, erinnert sie sich. Nun gibt ihr ein bulgarischer Freund manchmal Arbeit und etwas Geld, das Leben ist für die junge Frau ein ständiger Kampf.
Den müsste sie nicht alleine führen. Osama ist verheiratet mit einem irakischen Mann, dem Vater ihres Sohnes. Doch er ist einer von vielen hundert Flüchtlingen, von der bulgarischen Regierung in gefängnisartigen Lagern interniert werden. »Seit 15 Monaten ist er dort«, sagt Osama. »Wir haben kein Geld für einen Anwalt, wir wissen nicht, wann er rauskommt oder ob sie ihn nicht einfach irgendwann abschieben. Niemand sagt uns etwas.«

Osamas Mann sitzt im Lager Busmantsi, einem Vorort Sofias. Kürzlich verbot das Amtsgericht Magdeburg die Abschiebung eines Syrers nach Bulgarien. In dem Urteil erwähnte es Busmantsi. In Bulgarien gebe es »nicht hinnehmbare Probleme« im Asylsystem, so die Richter. Das Land halte Flüchtlinge »weiterhin Monate oder sogar Jahre lang in Gewahrsam«. Berichten zufolge stehe zu befürchten, dass solche Inhaftierungen »zur Routine geworden seien«. In Busmantsi sei es zu einer Revolte gekommen.
Im vergangenen Jahr war bekannt geworden, dass ein Syrer vier Jahre in Busmantsi gefangen gehalten wurde, eine Haftdauer von zwei Jahren ist nach Auskunft bulgarischer Rechtsanwälte keine Seltenheit. Seit langem schauen Menschenrechtsorganisationen vor allem nach Griechenland, wo jedes Jahr Zehntausende Flüchtlinge aus der Türkei ankommen, viele im Fluss Evros oder in der Ägäis ertrinken und mit Geld der EU seit Jahren entsetzliche Lager betrieben werden, in denen der Staat Papierlose einsperrt. Doch es ist nur noch eine Frage von Monaten, bis auch Bulgarien Teil des Schengen-Gebiets wird. Dann wird die rund 200 Kilometer lange Grenze zur Türkei die neue Außengrenze der EU sein, und die Fluchtrouten in Richtung Zentral­europa werden sich entsprechend verlagern.
Doch Bulgarien ist kein guter Ort für Menschen, die ohne Erlaubnis nach Europa kommen. 22 Tage saß Osama im Internierungslager von Nova Zagora. »Es gab kaum Essen, die Männer wurden geschlagen, einer hatte sich auf der Flucht am Fuß verletzt und wurde nicht behandelt«, erzählt sie. Die Freiheit besserte ihre Lage nur wenig. »Als sie meinen ersten Asylantrag abgelehnt haben, wollten sie mich nach Syrien abschieben«, sagt Osama. Dort hat sie gelebt, nachdem sie 1998 aus dem Gaza-Streifen geflohen war. »Mein Sohn ist staatenlos, er hätte nicht mitkommen können. Dann sagten sie: ›Er kann ja hier ins Heim, und du gehst zurück.‹« Sie protestierte, stellte einen neuen Asylantrag, die Behörden prüfen ihn bis heute. Viel Hoffnung hat sie nicht mehr. »Ich weiß nicht, was ich noch vom Leben erwarten kann«, sagt sie. »In Gaza konnte man nicht überleben, in Syrien war es gefährlich, es gab keine Arbeit, und hier? Ich verstehe nicht, wie ein Land, das uns so behandelt, in die EU aufgenommen werden kann.« Sie deutet auf die Roma-Siedlung, die sich auf einer Brache hinter dem Flüchtlingswohnheim ausgebreitet hat: »Sieh nur, die Zigeuner, die haben gar nichts. Die müssen aus der Mülltonne essen«, sagt sie. »Das hier ist nicht Europa.«

Ist es doch. Seit 2007 ist das südosteuropäische Land in der EU, und eigentlich sollte es seit Anfang des Jahres auch Teil des Schengen-Raumes sein. Doch vor allem auf Betreiben von Deutschland und Frankreich wurde die Aufhebung der Grenzkontrollen immer wieder verschoben. Dem von Korruption und Kriminalität geplagten Land wurde nicht zugetraut, seine Grenzen so abzuschotten, wie man sich das in Deutschland und Frankreich vorstellt. Seit langem sind Grenzpolizisten aus verschiedenen EU-Staaten an Ort und Stelle, sie beraten den bulgarischen Zoll bei der Überwachung der Grenze, neue Internierungslager werden mit EU-Geld fertiggestellt.
Der bevorstehende Schengen-Beitritt löst in Bulgarien gemischte Gefühle aus. Die Freude über die künftige Visa-Freiheit mischt sich mit einer heftigen Stimmungsmache gegen Migranten. Von denen gibt es bislang wenige. Nur 0,3 Prozent der Bevölkerung sind Ausländer, nur rund 1 000 Menschen stellen durchschnittlich pro Jahr einen Asylantrag. Doch viele fürchten, dass die bislang aus der Türkei nach Griechenland kommenden Papierlosen demnächst den Weg über Bulgarien wählen – und womöglich hängenbleiben.
»Das Problem hat begonnen«, sagt Ivo Stefanov von der antirassistischen Liga in Bulgarien. In Sofia schlägt er sich als Journalist durch, entsprechend routiniert sind seine Antworten: »Es gibt hier noch nicht viele Flüchtlinge, aber man merkt es schon: Die Ausländerfeindlichkeit nimmt zu. Nach dem Schengen-Beitritt wird das voll durchschlagen.« Mit einer Handvoll Aktivisten hat Stefanov dieses Jahr das erste No-Border-Camp in Bulgarien organisiert. Rund 250 Personen, die meisten aus Deutschland, sind in der vergangenen Woche in den Südostoen Bulgariens gereist. »Während des Kommunismus war die Grenze zur Türkei die am stärksten militarisierte«, sagt Stefanov, »jetzt ist sie es wieder, aber diesmal wegen der Flüchtlinge.«
Vom Camp aus sind es drei Kilometer bis nach Griechenland, 15 bis in die Türkei. In der Nähe wurde kürzlich ein neues Internierungslager fertiggestellt, ein weiteres ist im Bau. »Eigentlich sollte Bulgarien schon zum 1. September in das Schengen-System aufgenommen werden«, sagt Stefanov. »Daraus ist zwar nichts geworden, aber wir wollten das Camp auf jeden Fall vorher machen.« Es sei wichtig, die lokale Bevölkerung zu erreichen, sagt er. Wenn demnächst immer mehr Transit-Migranten die Region durchqueren, seien diese auf die Solidarität der Bevölkerung angewiesen. Rassistisch aufgehetzt, womöglich als freiwillige Hilfspolizisten, könnten die Bulgaren den Flüchtlingen das Leben noch schwerer machen, als es ohnehin schon ist.

Räumlich sind die Grenzcamper der örtlichen Bevölkerung ein ganzes Stück weit entgegengekommen. Ihr Zeltlager errichteten sie auf einer Wiese in dem Dorf Siva Reka, in Marschweite zur griechischen Grenze. Hügel erheben sich am Horizont, ringsum dörren rote Trauben, und zur Produktion von Biodiesel werden Sonnenblumen auf den Feldern angebaut. In Kühlschränken unter Sonnenschirmen wird das Wasser kalt gehalten, neben der Volksküche gibt es eine kleine Werkstatt und ein Sanitätszelt, an jeder Latte, selbst vor den Müllsäcken, hängen Warnschilder, die mahnen, dass Filmen und Fotografieren strikt verboten sind. Mitten auf dem Platz ist eine grüne Plane aufgespannt, ein Schild weist darauf hin, dass es sich um den Raum für »People of Color« (PoC) handele. Wer sich die ausliegenden Bücher anschauen will, muss umgehend zwei offensichtlich deutschen Frauen die Frage beantworten, ob man »sich selbst als PoC bezeichnen würde«. Wem darauf nicht sofort etwas einfällt, der wird darauf hingewiesen, dass hier gleich der »PoC-Empowerment Workshop« beginne und man sich deshalb bitte entfernen möge. »Du kannst ja zum White-Awareness-Workshop ins Zirkuszelt gehen. Alles cool!«
Jeden Abend schwärmen einige der Camper zu öffentlichen Videovorführungen in die Dörfer der Umgebung aus. Mit Filmen über das europäische Grenzregime soll den Einwohnern das Thema nahegebracht werden. Vergangene Woche waren die Aktivisten in Lyubimez, wo kürzlich ein hochmoderndes Internierunsglager fertiggebaut wurde. »Die Reaktionen in den Dörfern waren gut«, sagt Stefanov. »Die Menschen haben uns recht gegeben – jeder Mensch ist ein Wesen mit gleichen Rechten. Und sie haben gesagt, dass die Regierung sie nicht gefragt hat, ob sie diese Lager hier haben wollen.« Ob seine optimistische Einschätzung über die Haltung der Bevölkerung zutreffend ist, ist fraglich. Anderen Aktivisten gegenüber äußerten die Einwohner von Lyubimez vor allem den Einwand, dass alle der im Lager beschäftigten Bulgaren aus Sofia stammten – und sie von dem grauen Klotz in ihrem Städtchen deshalb nicht profitierten.

Am nächsten Tag sind die Bewohner von Siva Reka zum Essen ins Camp geladen. Die untergehende Sonne taucht den Abend in rotes Licht, die Camper haben einige Klapptische für ihre Gäste aufgestellt und sie mit Blumen dekoriert, kleine Colaflaschen stehen darauf, die Volksküche hat Karottensalat und Aubergineneintopf gekocht. Nach und nach kommen einige Familien über die Wiese, ein paar junge Männer knattern auf Motorrädern mit ihren Freundinnen auf dem Rücksitz heran. Rund um die Tische für die Gäste sitzen die Aktivisten mit ihren Tellern auf dem Boden im Gras. Eine der bulgarischen Camp-Organisatorinnen bittet um Ruhe und ergreift das Wort. »Sie sind aus Ihrem Dorf zu uns gekommen, ohne eine Grenze überqueren zu müssen. Jetzt sitzen wir hier zusammen und essen, und so soll es sein, denn wir glauben nicht an Grenzen.« Die Bulgaren sehen sie freundlich an. Nach dem Essen beginnen einige auf mitgebrachten Instrumenten zu spielen und Prawo Choro, den bulgarischen Volkstanz, zu tanzen.
Später beginnt das Camp mit dem offiziellen Auftaktplenum, und die Bulgaren nutzen es für eine Ermahnung. »Wir wollen, dass hier alles strikt gewaltfrei abläuft«, sagt ein Aktivist. »Dass die Polizei unsere Namen kennt und wir verantwortlich sind, interessiert vielleicht nicht alle. Aber die Flüchtlingsfrage ist in Bulgarien sowieso schon extrem unpopulär. Und wenn es Krawall gibt, dann macht es das nicht besser.« Ohnehin, die Polizisten: »Die sind so große Proteste nicht gewohnt, sie rufen uns die ganze Zeit an und wollen wissen, was wir vorhaben«, sagt er. »Die sind ziemlich nervös.« Sie empfehlen den Aktivisten, nicht renitent zu werden, wenn Polizisten auf dem Campgelände Patrouille laufen oder bei den Aktionen die Ausweise kontrollieren.
Das gefällt nicht allen. »Was ist mit denen, die keine Ausweise haben?« fragt einer, viele Hände drehen sich, ein Zeichen der Zustimmung. Die Bulgaren wenden ein: »Wenn wir uns ihren Anweisungen widersetzen, können sie uns zu einer ›kollektiven Gefahr der öffentlichen Sicherheit‹ erklären und das Camp zumachen. Und es gibt in diesem Land keine NGO, die sie daran hindern könnten.« Die Diskussion zieht sich. An der Bar gibt es Unmut: Die Thekenmannschaft weigert sich, Bier zu verkaufen, solange das Plenum läuft, einige Campteilnehmer versuchen, sich selbst am Kühlschrank zu bedienen, und werden zurechtgewiesen. Nach weit über einer Stunde wird die Polizeidiskussion schließlich beendet. »Wir werden uns da ohnehin nicht einig«, sagt der Moderator.

Am Morgen darauf holen Busse die Camper ab, sie kreuzen den Evros, der ruhig in Richtung Mittelmeer fließt. Einige Kühe haben ihn zur Hälfte durchquert, um auf einer Insel in der Mitte zu grasen. Nichts deutet darauf hin, dass nur 50 Kilometer weiter südlich Hunderte Flüchtlinge bei ihrem Versuch ertrunken sind, über den Evros nach Griechenland zu gelangen.
Die Camper demonstrieren in der Kreisstadt Swilengrad, dem Sitz des Grenzpolizeikommandos. In der Fußgängerzone hängen sie Transparente auf, auf denen »Kein Mensch ist illegal« steht, eine Samba-Gruppe spielt und skandiert antirassistische Slogans, die auf Bulgarisch übersetzt werden. Eine Frau in einem kurzen gelben Kleid und mit einer großen Sonnenbrille steht am Rand und redet auf die Demonstranten ein: »Es gibt hier vielleicht Jobs für fünf Ausländer und es kommen 5 000. Wie soll das gehen? Wie stellt ihr euch das vor?« Ein junges Mädchen, ganz in Schwarz gekleidet und mit einem Nasenpiercing, bemüht sich redlich um die Diskussion. »Sie sollten das auch mal aus einer anderen Perspektive sehen«, sagt sie. »Diese Leute kommen ja nicht zum Spaß her.« Sie überzeugt die Bulgarin nicht. »Hier ist nicht Schweden, wo der Staat den Leuten einfach jeden Monat Geld gibt.« Sie habe die »Ausländer aus Schweden« am Roten Meer gesehen: »Die machen mit ihrer Sozialhilfe dort Urlaub, die Afrikaner liegen auf der faulen Haut und kaufen sich Drogen. Das geht hier nicht, wir sind zu arm für sowas.« Den Einwand, dass Asylbewerber in Bulgarien, wenn überhaupt, gerade mal 65 Leva im Monat bekommen, umgerechnet 32 Euro, wischt sie weg: »Wisst ihr, was ein bulgarisches Kind im Monat vom Staat kriegt? 35 Leva!«
Nach einer Stunde erreicht die Demonstration die Grenzpolizeidirektion in einem Wohngebiet von Swilengrad. Ernsthafte Angst vor Krawallen hat die Einsatzleitung offenbar nicht. Kaum ein Dutzend Polizisten bewachen das lediglich mit Flatterband abgezirkelte Gebäude. Dass die Demonstranten mit Kreide »Frontex mordet« auf die Straße schreiben, wird toleriert. Die Grenzpolizisten beobachten, wie die Demonstranten alte Schuhe und Teelichter auf der Straße ausbreiten, als Symbol für die Menschen, die auf dem Weg nach Europa gestorben sind. Ein junger Mann regt sich fürchterlich auf. »Was soll der Scheiß denn?« fragt er. »Die Schuhe waren doch noch gut, die hätte man besser im Flüchtlingslager abgeben können. Wollt ihr hier die Bullen verändern mit Kerzen und alten Schuhen, oder was?«
Nach der Demonstration steht Ivo Stefanov auf einem Parkplatz und wartet auf die Busse, die zurück ins Camp fahren. Für ihn ist klar, welche Folgen die EU-Politik in der Region haben wird. »Wir sollen für Europa die Tür dicht halten. Und deswegen wird es hier immer mehr Gefängnisse geben«, sagt er. »Schengen wird gut für die Bulgaren, aber es wird schlecht für die Leute ohne Papiere.«