Der Konflikt zwischen Islamisten und Säkularen in Libyen

Ohne Öl kein Staat

Der Konflikt zwischen islamistischen und säkularen Kräfte im libyschen Übergangsrat ist nicht nur ein politischer. Es geht auch um das Geld aus dem Erdölgeschäft, auf das sich die gesamte libysche Wirtschaft stützt.

Geldsorgen haben die Libyer nicht. Die westlichen Alliierten schicken Milliardenbeträge aus Muammar al-Gaddafis eingefrorenen Vermögen. Die Ölförderung kann zumindest im östlichen Teil des Landes bald wieder beginnen. Wer viel hat, kann auch viel verteilen. Das kann für eine junge Regierung jedoch zum Problem werden.
Vergangene Woche beschuldigte der islamische Geistliche Scheich Ali al-Salabi in einem Interview mit dem arabischen Sender al-Jazeera Mitglieder des Übergangsrats, das Geld der Libyer zu stehlen. Er nannte den Ratsvorsitzenden Mahmoud Jibril und den Finanzminister Ali Tarhouni. Al-Salabi bezeichnete sie als »radikale Säkulare«, die den Islamisten mit Arroganz begegneten.

Die Konflikte zwischen Islamisten und Säkularen spitzen sich seit der Eroberung von Tripolis zu. In der Stadt führt Abd al-Hakim Belhaj, ein ehemaliger Gotteskrieger, der in Afghanistan gekämpft hat, die Regierungsgeschäfte. Im konservativeren Bengasi, wo der Aufstand gegen Gaddafi begann, hatten die Rebellen zunächst ein Gleichgewicht zwischen Säkularen und moderaten Islamisten im Übergangsrat und den Lokalräten angestrebt.
Doch der Angriff von Salabi zeigt: Es geht auch um Geld. Dabei verlangen nicht nur die Regionen und Stämme ihren Anteil. Auch die Unterstützer der Rebellen wollen bedacht werden. Der Übergangsrat hat schon angekündigt, dass die Länder, die den Kampf gegen Gaddafi unterstützt haben, Vorzug bei der Vergabe von Ölförderrechten erhalten werden. Den Islamisten dürfte das nicht gefallen.
Private Finanziers haben ihre eigenen Vorstellungen von dem, was in Libyen passieren soll. Der in den USA reich gewordene libysche Milliardär Nasser Buisier hat Millionen in den Krieg gesteckt. In einem Gespräch mit Spiegel Online beschrieb er das Urlaubsparadies, das er in Libyen gern errichten möchte, Cocktailparties und tanzende Girls in Bikinis inklusive. Mit Islamisten in der Regierung ist das jedoch kaum zu erreichen. Vom Tourismusgeschäft träumen in Libyen viele. Das Land hat auch einiges anzubieten: Leptis Magna, die weltweit größte erhaltene antike Stadt, den längsten Mittelmeerstrand, eine bezaubernde Berglandschaft im Osten und Höhlenmalereien in der Wüste. Aber es gibt auch Hindernisse, wie zum Beispiel das Verbot von Alkohol und von Casinos.

Gaddafi, der häufig fälschlicherweise als »säkularer Herrscher« bezeichnet wurde, führte schon in den siebziger Jahren die Sharia ein. Versuche, die Gesetze zu liberalisieren, stießen immer auf Widerstand. Gaddafis Sohn, Saif al-Islam, soll etwa versucht haben, das Alkoholverbot in Touristenhotels aufzuheben, scheiterte aber am Widerstand konservativer Stammesführer.
Derzeit ist Libyen so reich an Erdöl, dass der Staatshaushalt auch ohne weitere Einnahmen gesichert sein dürfte. Mit 47 Milliarden Barrel Rohöl hat Libyen pro Kopf fast so viel Öl wie Saudi-Arabien. Unter dem Sand und vor der Mittelmeerküste dürfte noch mehr Erdöl verborgen liegen.
Viele Anlagen sind zwar zerstört oder von Gaddafis Anhängern vermint worden. Der Übergangsrat ist trotzdem zuversichtlich, dass in kürzester Zeit im Osten des Landes wieder Öl gefördert werden kann. Bis Ende 2012 sollen wieder 1,6 Millionen Barrel pro Tag erreicht werden, so viel wie vor dem Beginn des Krieges.
Einen Staatshaushalt auf dem Erdölgeschäft aufzubauen, birgt jedoch Gefahren für eine junge Demokratie. Unter den Ländern mit großen Erdöl- oder Erdgasvorkommen ist allein Norwegen eine stabile Demokratie. Das ist kein Zufall.
»Verteilende Staaten« nennt der Libyen-Experte Dirk Vanderwalle Staaten, die auch als »Rentiersstaaten« bezeichnet werden. Der Rentiersstaat ist nicht auf Steuereinnahmen angewiesen und kann deshalb weitgehend auf die Mitwirkung seiner Bevölkerung bei den Staatsgeschäften verzichten.
Entscheidend ist dabei die Verteilungsfunktion des Staates. Tatsächlich erhebt der libysche Staat Steuern – 15 Prozent auf Einkommen und bis zu 90 Prozent auf die Gewinne von Unternehmen. Die meisten Libyer arbeiten im Staatsdienst. Dazu zählt zwar auch der Ölsektor, aber dort arbeiten wiederum vor allem Ausländer, also westliche und chinesische Fachkräfte sowie afrikanische Arbeiter. 1978 schaffte Gaddafi das Privateigentum ab. Häuser sollten denen gehören, die darin wohnten, Land und Unternehmen denen, die dort arbeiteten.
Die schöne Idee führte jedoch nur zur totalen Abhängigkeit von der Willkür der Revolutions­komitees, das über Produktion und Verteilung wachte. Als die internationalen Sanktionen die ­libysche Wirtschaft soweit schwächten, dass soziale Unruhen ausbrachen, erlaubte Gaddafi zwar wieder das Privateigentum, setzte aber zugleich die Stammesführer als verteilende Instanzen ein und stärkte damit die Stammeskultur.

Libyen hat zwar das höchste Pro-Kopf-Einkommen Afrikas, doch 30 Prozent der Bevölkerung sind arbeitslos und leben unter der Armutsgrenze. Die Gehälter sind mit denen Ägyptens vergleichbar: 300 bis 400 Dinar (umgerechnet zwischen 170 und 230 Euro) verdient man im Staatsdienst, etwa als Lehrer, Professor oder Arzt. Trotzdem wohnen viele Staatsbedienstete in großen Wohnungen, haben Autos und Smartphones. Warum das so ist, will niemand recht beantworten. Es liegt nahe, dass man sich Wohlstand durch Loyalität zum System wie auch zum eigenen Stamm erkaufen muss. Stützt sich der libysche Staat weiter zu 80 Prozent auf Einnahmen aus dem Erdölgeschäft, wird es schwierig sein, das herrschende Klientelsystem zu überwinden.
Politisch zeichnet sich derzeit eine Konfron­tation zwischen Islamisten und Säkularisten ab. ­Islamisten haben die Klientelwirtschaft stets gepflegt. Gewinnen die Wirtschaftliberalen die Oberhand, könnte es hingegen schnell zu einem Ausverkauf der Schätze des Landes kommen. So soll etwa Frankreich bereits Zugang zu einem Drittel des libyschen Öls zugesichert worden sein.
Die Mehrheit der Bevölkerung ist aber weder islamistisch noch wirtschaftsliberal eingestellt. Noman Benotman, ein Analyst der britischen Quilliam Foundation, schätzt die Anhängerschaft der Islamisten auf 20 Prozent der Einwohner. Er sollte die Szene kennen: Er kämpfte für die Libyan Islamic Fighting Group in Afghanistan auf Seiten von al-Qaida, bevor er sich vom Islamismus lossagte.
Weitere 20 bis 25 Prozent der libyschen Aktivisten sind laut Benotman Liberale, die eine säkulare Demokratie und eine freie Marktwirtschaft wollen. 40 bis 50 Prozent seien dem nationalistischen Lager zuzuordnen. Sie wollen einen zivilen Staat auf der Basis von Demokratie und »libyscher Kultur«. Zur libyschen Kultur gehört für sie freilich der Islam. Wohl aber auch ein Wohlfahrtsstaat, der mit einer kompletten Liberalisierung der Wirtschaft kaum zu vereinbaren ist.
Trotz des Reichtums des Landes muss die neue Regierung also ein wirtschaftliches Kunststück vollbringen. Sie muss die Klientelwirtschaft einschränken, sofern sie wirklich Demokratie anstrebt, und darf zugleich die Stämme, die Islamisten und die Bevölkerung nicht verprellen.