Politik ist, wenn unbeteiligte Bürger betroffen sind

Feuer und Flamme für alle!

Die Berliner Brandstifter treffen mit ihren Aktionen unbeteiligte Bürger. Das ist das politischste an ihren Aktionen.
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Es gibt, wie John Rambo festgestellt hat, »keine unschuldigen Zivilisten«. Es trifft immer den Richtigen. Gerade in Deutschland. Was bringt es, ein Holocaust-Mahnmal in die City zustellen, »zu dem man gerne hingeht« (Gerhard Schröder)? Es gab einen besseren Entwurf, den von Reinhard Matz und Rudolf Herz. Statt eines Denkmals wollten sie eine Störung des Alltags: Ein Kilometer der Autobahn A7 sollte mit Kopfsteinpflastern versehen und auf Tempo 30 reduziert werden, darüber sollte eine Schilderbrücke führen, die an die ermordeten Juden Europas erinnert. Gleichzeitig sollte das Grundstück am Brandenburger Tor verkauft werden und der Erlös verfolgten Minderheiten der Gegenwart zukommen. Man hätte sogar, besser noch, auf jeder Autobahn alle 100 Kilometer so eine Holperpiste bauen sollen! Gedenkpolitik mag eher ein nebensächlicher Bereich der Politik sein – obwohl man da auch anderer Meinung sein kann –, das Prinzip aber ist immer dasselbe: Politik muss nerven.

Und so kann und muss man den Berliner Brandstiftern, die Bahngleise sabotierten, vieles vorwerfen, aber eines nun wirklich nicht: dass sie Unbeteiligte in Mitleidenschaft ziehen (gefährdet haben sie wohl tatsächlich niemanden). Denn das ist nun mal das Wesen der Politik. Politik besteht darin, dass Leute belästigt werden, die eigentlich nichts damit zu tun haben wollen. Alle in Ruhe zu lassen, bedeutet, nicht einmal den Status quo zu wahren. Das ist das Gegenteil von Politik.
Wer wird schon gerne von diesen BUND-Helfern mit ihrem Schweizer Dialekt gefragt, ob man nicht fünf Euro für die Natur spenden möchte? Wer hat nicht schon einmal vegane Bolognese essen müssen, weil irgendwer am Tisch gerade die Welt retten wollte? Schon die Bilder hungernder Kinder in Somalia, die uns die Fernsehsender vorm »Tatort« in die Wohnzimmer beamen, sind eine Zumutung – und sollen es auch sein. Bei jeder Demonstration stehen Hunderte Autofahrer im Stau, bei jeder brennenden Barrikade muss ein vorbeiradelnder Nichtraucher böse husten. Wenn Müllmänner streiken, gammelt auf der Straße der Dreck, wenn Kindergärtnerinnen in den Ausstand treten, müssen die Eltern sich mit dem Balg herumschlagen. Weil ein Staatsgast durch Berlin fahren soll, werden parkende Autos abgeschleppt, Regierungen beschließen Gesetze, die alles nur noch komplizierter machen. Aufdringlich glotzen uns bei jedem Wahlkampf Politikervisagen von Plakaten an. Und Revolutionen erst! Wegen eines Gemetzels an der Barrikade am 24. Juni 1848 soll über der Rue Soufflot tagelang ein grauenhafter Geruch gelegen haben. Man kann es drehen und wenden, wie man will: Politik betrifft Leute, die das gar nicht wollen.
Aber wünschen wir uns nicht alle manchmal, gar nicht belästigt zu werden von der Politik? Weder von Nazis, die in der Nachbarschaft eine neue Kneipe aufgemacht haben, noch von den Antifa-Genossen, die einen am frühen Sonntagmorgen mit auf eine Demonstration schleppen möchten. Würde man nicht am liebsten einfach nur in Ruhe gelassen werden? Irgendwo auf einer einsamen Insel, Strand, Wellenplätschern, ein paar Äffchen auf der Palme, die sich spielerisch um eine Kokosnuss zanken, süß! Hier wäre der Mensch tatsächlich fern der Politik, hier in der Natur. Aber besänne man sich auf die Natur, sammelte man Beeren und jagte den Hirsch, so käme, darauf kann man wetten, stante pede ein Veganer aus dem Busch gehüpft und sägte unseren Hochsitz an.

Wir sind nun mal zur Zivilisation verdammt! Und das ist gut so. Wir wollen ja nicht wie Tiere leben! Denn selbst wo keine Gesellschaft ist, und damit auch keine Politik, da herrscht ja noch lange kein Frieden. Eben noch rauften die niedlichen Äffchen so drollig um die Kokosnuss, nun hat das eine das andere schon gebissen, oh es blutet arg, und ach, da kommt der Tiger und frisst das verletzte Äffchen auf, und ui, was grummelt da so laut? Flugs ist der Tiger von einem Lavastrom verschlungen worden. Es gibt keine Idylle. Nicht einmal ohne Politik.
Und dies ist auch ein Problem für die Aktionen der Berliner Saboteure. »Die Züge kommen nicht (…) Der Chef muss warten, ob er will oder nicht. Na und? Der Ministerialbeamte aus Bonn bleibt im ICE hängen. Gut so.« So beginnt ihr wortreiches Bekennerschreiben. Doch dass die Züge nicht kommen und der ICE hängenbleibt, dazu bedarf es keiner Brandsätze, dazu reicht bekanntlich ein milder Winter. Außerdem schreiben die Brandstifter: »Jeder Tag wäre der richtige Tag für eine Sabotage.« Genau. Und deshalb ist auch jeder Tag voller Sabotagen: Funkloch, Geldautomat kaputt, Stau auf der A1, drei Stunden Wartezeit beim Bürgeramt, Handwerker kommt nicht, App lädt nicht, Fahrradschloss klemmt, die Melonen sind aus, der Käse ist schimmlig. Wir kennen das. Und wir wären auch nicht verwundert, wenn die Bahn-Kabel-Anzünder eines Tages deshalb erwischt werden, weil um 15 Uhr überraschend ein ICE vorbeikommt, der um elf erwartet wurde. Oder aber auch deshalb, weil irgendjemand ihr Fluchtfahrzeug in Brand gesteckt hat.