Gespräch mit Christian Raimo über die Proteste der prekären Kulturschaffenden in Italien

»Genua hat diese Generation geprägt«

Ende September fand in Rom im besetzten Schauspielhaus Teatro Valle (Jungle World 39/11) die erste nationale Vollversammlung der prekären Kulturschaffenden statt. Zu den Mitveranstaltern gehörte auch die im Frühjahr gegründete Gruppe »Generazione TQ«, ein Zusammenschluss von Literaten, Verlagsmitarbeitern und Journalisten der Altersgruppen »Trenta« und »Quaranta« (30- bis 40jährige). Christian Raimo ist Gründungsmitglied dieser Gruppe und Mitarbeiter des unabhängigen Verlages Minimum Fax. Dort hat er zwei Bände mit Erzählungen veröffentlicht. Raimo schreibt regelmäßig für verschiedene Zeitungen, Zeitschriften und Blogs. Die Jungle World sprach mit ihm über den Niedergang der linksliberalen Nachkriegskultur in Ita­lien und das Verhältnis Kulturschaffender zur Politik.

Warum betont Ihre Gruppe die Generationenzugehörigkeit so stark?
Jede politische Bewegung hat eine generationenspezifische Prägung, wir haben sie einfach nur explizit gemacht. Der Protest von TQ hat seinen Ursprung nicht an den Universitäten, er geht nicht von 20jährigen Studenten aus, sondern von Kulturschaffenden, die inzwischen seit zehn Jahren im Arbeitsleben stehen – oder eben auch nicht.
Was charakterisiert die italienischen 30- bis 40jährigen?
Es gibt drei wichtige Faktoren. Da ist zum einen das politische Element: die Generation TQ steht den politischen Parteien der zweiten Republik ablehnend oder zumindest sehr kritisch gegenüber. Symbolisch für den Mangel einer politischen Repräsentation steht Genua 2001, die Erfahrung der Protestbewegung gegen den G8-Gipfel. Dass die Forderung nach Veränderung, nach Teilhabe so gewaltsam unterdrückt wurde, blieb für alle eine Art Wunde. Genua hat diese Generation politisch geprägt. Auch wenn die Leute in den nuller Jahren die unterschiedlichsten Sachen gemacht haben, alle erkennen sich in der Erfahrung von Genua wieder.
Dann gibt es das soziale Element: Diese Generation ist mit der Vorstellung einer starken Gesellschaft aufgewachsen, das heißt in den Familien und den staatlichen Bildungsinstitutionen wurden Werte wie Gleichheit und soziale Gerechtigkeit vertreten. Heute sieht die Realität anders aus. Wir möchten gegen den übertriebenen Individualismus des Neoliberalismus wieder bestimmte soziale Werte stark machen.
Das dritte verbindende Element sind die Arbeitsbedingungen: Wir sind die Generation, die den Einstieg in einen zunehmend deregulierten Arbeitsmarkt finden musste, wir haben schlechte oder gar keine Arbeitsverträge. Da wir den Moment der Zerschlagung der Arbeitsrechte noch erlebt haben, liegt es an uns, zu kämpfen.
Auch in Spanien gibt es Generationenproteste. TQ scheint sich jedoch von der Bewegung der jungen Indignados zu distanzieren.
Die Diskussionen in TQ sind von einem argumentativen Stil geprägt: Wir betreiben Analyse, um zu konkreten Aktionen zu kommen. Wehklagen bringen häufig nur Ressentiments zum Ausdruck, Empörung ersetzt Kritik. Für Kulturschaffende sind Aktionen in der Regel nicht mit Gewalt verbunden, aktiv werden heißt für uns, neue Ideen zu entwickeln. Andererseits ist auch der erzieherische Drang sehr stark, man kann kein Intellektueller sein, ohne gleichzeitig auch Erzieher zu sein. Für uns ist die Rolle der Schule und der Universität zentral, diese waren in den vergangenen Jahren nicht nur von Sparmaßnahmen betroffen, in Italien gab es jahrelang eine antiintellektuelle Propaganda, eine Kampagne zur Dele­gitimierung des gesamten Kulturbetriebs.
TQ beschwört einerseits den engagierten Intellektuellen des alten Jahrhunderts, wählt aber andererseits zur Selbstdarstellung den postmodernen Begriff des Wissensarbeiters. Wie sehen Sie das Verhältnis von TQ zur Tradition?
Ich persönlich bevorzuge die Bezeichnung Wissensarbeiter, anderseits stört mich die Betonung einer Kontinuität zum 20. Jahrhundert nicht. Auch ich halte an der Vorstellung vom Intellektuellen als gesellschaftliche Vermittlungsinstanz fest. Die Manifeste sind das Ergebnis einer kollektiven Auseinandersetzung, viele Formulierungen wurden per Abstimmung entschieden. In der Generation TQ treffen sich Leute, die aus unterschiedlichen ideologischen Richtungen kommen, deshalb ist die Terminologie sehr ambivalent. Einen Begriff wie »Kompetenz« hätte ich nicht gebraucht, aber er bringt ein Bedürfnis nach Professionalität zum Ausdruck, das auch mir wichtig ist.
Auffällig ist außerdem der durchgehend affirmative Bezug auf den Begriff der Kultur.
In der postideologischen Gesellschaft ist die Kultur häufig nur noch ein Synonym für Werbung. Uns geht es darum, die kulturelle Arbeit anders zu definieren, ihr eine kritische Rolle gegenüber der Kommunikation der Werbeindustrie zuzuschreiben. Wenn wir die Bedeutung einer »kulturellen Gemeinschaft« betonen, richten wir uns gleichzeitig gegen die Ideologie des Individualismus, gegen die Vorstellung vom einsamen Künstlergenie und gegen das Phänomen des zivilgesellschaftlich engagierten Autors. Das ist eine typische italienische Verirrung: linksliberale Politiker, die plötzlich anfangen, Romane zu schreiben.
Die Manifeste von TQ sind jedoch auch moralisch aufgeladen. Was muss man sich unter der Forderung nach einem »Observatorium für gute und schlechte Praktiken« vorstellen?
Wir würden beispielsweise gerne eine Bestandsaufnahme unabhängiger Buchhandlungen erstellen oder eine Liste kritischer Buchhändler. Wir möchten die Arbeit des Lektorats aufwerten gegen die Praxis des self-publishing, mit der inzwischen auch namhafte Verlage Werbung und Profit machen.
Gehört zu den guten Praktiken auch die geforderte Selbstkritik der Kulturschaffenden?
Die populistische Empörung, die den Gegner moralisch abwertet und sich selbst zu den Guten zählt, ist auch in Italien weit verbreitet. Das ergibt keinen Sinn. Deshalb gehen wir von einem selbstkritischen Ansatz aus: Wie sehr sind wir selbst in das Machtsystem von Silvio Berlusconi involviert, wo verhalten wir uns komplizenhaft?
Viele der Autoren der Generation TQ publizieren ihre Bücher in Verlagen, die zum Medienimperium von Berlusconis Familie gehören.
Mein nächstes Buch wird bei Einaudi erscheinen, einem Verlag, der mittlerweile Berlusconi gehört. Für junge Autoren gibt es gute Gründe, bei Einaudi zu publizieren. Es kann für uns innerhalb dieser Gesellschaft nicht darum gehen, eine weiße Weste zu verteidigen. Aber wir können die Waffen des kritischen Gedankens anwenden, wir haben die Möglichkeit, in den Teller zu spucken, aus dem wir essen. Ich kritisiere Berlusconi, obwohl meine Bücher von Einaudi publiziert werden. Ich verbinde Einaudi nicht mit Berlusconi, sondern mit Fenoglio und Pavese. Einaudi ist der Verlag der italienischen Nachkriegskultur …
… deren Niedergang mit dem Aufstieg Berlusconis vom Medienunternehmer zum Ministerpräsidenten besiegelt wurde.
Aber man kann eine Neugründung versuchen. Es gab in Italien keine politische Aufarbeitung des Faschismus, das fand damals auch im Kulturbetrieb statt, im Kino und in den Verlagen.
Wollen Sie damit andeuten, dass die Aufar­beitung der jüngeren politischen Vergangenheit Italiens wieder vorwiegend in der Literatur stattfindet?
Der italienische Terrorismus, die staatliche Repression der sozialen Bewegungen, der Anstieg des Drogenkonsums usw., also die zweite Hälfte der siebziger Jahre, wurden nie kollektiv aufgearbeitet. Die politische und soziale Aufarbeitung beginnen nun diejenigen, die nicht zu den Protagonisten jener Jahre gehörten, sondern bereits in einem historischen Verhältnis zu dieser Zeit stehen.
Können Sie diese Nachwirkungen der späten siebziger Jahre auf die heutige Generation der 30- bis 40jährigen genauer beschreiben?
Die progressive Gesellschaft Italiens erlebte in den achtziger Jahren eine furchtbare Krise, die wir als Kinder und Jugendliche nicht begriffen haben, die aber doch gewaltig war. Ökonomisch gesehen begann damals der Abbau des Sozialstaats, mit der wachsenden Bedeutung des kommer­ziellen Fernsehens änderte sich das gesamte gesellschaftliche Leben, die Leute zogen sich in ihre Wohnzimmer zurück. Die Atmosphäre war von einer schweren Melancholie geprägt, denn die vermeintliche Euphorie der Achtziger war eine vorgetäuschte. Ich verbrachte sechs bis acht Stunden täglich vor dem Fernseher. Wir alle schauten jeden Sonntag die Unterhaltungssendung Drive In, es war die erste TV-Show mit eingespielten Lachern in Italien. Wir lachten damals alle auf Kommando.
Das heißt, die linksliberale Nachkriegskultur erlebte ihren Niedergang nicht erst nach dem Fall der Berliner Mauer und der Auflösung der Kommunistischen Partei?
Die Ereignisse 1989 besiegelten nur noch etwas, das längst passiert war. Als sich die KPI auflöste, redete in Italien schon seit zehn Jahren niemand mehr vom Kommunismus. Der eigentliche politische Umbruch fand dann Anfang der neunziger Jahre mit dem politischen Aufstieg Berlusconis statt.
Und weil die politische Opposition in den vergangenen Jahren immer wieder gescheitert ist, formiert sich der Widerstand nun im Kulturbetrieb?
Die großen Frauendemonstrationen im Frühjahr, der enorme Publikumserfolg bestimmter Fernsehsendungen, die Besetzung des Teatro Valle, die Gründung von TQ: Das sind alles sehr unterschiedliche Bewegungen, aber sie stehen doch alle für die Forderung nach einer neuen Politik. Für viele der Generation TQ ist die Literatur der Ort für politische Bildung gewesen. Sie identifizieren sich nicht mit irgendwelchen politischen Werten irgendeiner Splittergruppe der Linken, sondern mit einer literarischen Richtung. Wenn ich mit Gleichaltrigen zusammentreffe, fragen sie mich nicht, wo ich politisch stehe, sondern wie mir der Roman von Richard Yates gefallen hat oder ob ich Raymond Carver gelesen habe. Die Literatur ist für uns ein verbindendes Element. Mit der Generation TQ wollen wir die Bedeutung der Kulturpolitik betonen und insgesamt zu einem veränderten Verständnis von Politik beitragen.