Belgien hat eine Regierung

Weißer Rauch in Brüssel

Nach anderthalb Jahren Dauerkrise bekommt Belgien eine Regierung.

Von geschichtsträchtigen Ereignissen ist derzeit viel die Rede in Belgien. Mitte September war es, die weltweit längsten Sondierungsgespräche über eine neue Regierung firmierten bereits als »Verhandlungen der letzten Chance«, als die Unterhändler einen kaum mehr für möglich gehaltenen Kompromiss erreichten. Im Streit um die Zukunft des bilingualen Wahlkreises Brüssel-Halle-Vilvoorde lösten sie den Konflikt, der sich mehr als vier Jahrzehnte lang in Symbolpolitik erschöpfte, in einer recht simpel erscheinenden Formel auf: Nur noch in Brüssel kann man künftig Politiker beider Sprachgruppen wählen, in den umliegenden Kommunen auf flämischem Grundgebiet nur Flamen. Die sechs »Fazilitäten-Gemeinden«, in denen französischsprachige Bewohner ohnehin Sonderrechte genießen, bilden eine Ausnahme.
Dieser Durchbruch hatte Signalwirkung. Eine Woche später präsentierten die Vorsitzenden der beteiligten Sozial- und Christdemokraten sowie der Liberalen und Grünen unter Leitung des Vermittlers Elio Di Rupo von der Parti Socialiste ein neues Abkommen über die Institutionen der bilingualen Hauptstadtregion. Brüssel ist neben Wallonien und Flandern die dritte Region der belgischen Föderation. Ein paar Tage darauf einigte man sich über die künftige Finanzierung der Regionen, die wegen des Wohlstandsgefälles zwischen Flandern und Wallonien umstritten war.

In der vergangenen Woche schließlich, 480 Tage nach den Wahlen vom Juni 2010, trat Di Rupo, aller Wahrscheinlichkeit nach der zukünftige Premierminister, mit den Details der anstehenden Staatsreform an die Öffentlichkeit. Die Reform soll die Regionen gegenüber der föderalen Regierung stärken. Die Arbeitsmarktpolitik und Teile der Gesundheits- und Verkehrspolitik sowie des Justizwesens werden autonome Angelegenheiten der Regionen.
Die Übertragung von Befugnissen ist seit Jahren ein Streitpunkt zwischen den Sprachgruppen. Ursprünglich forderten die flämischen Parteien eine Regionalisierung, während die frankophonen darin eine Entsolidarisierung sahen und eine schleichende Aushöhlung der Föderation befürchteten. Der Wahlerfolg der separatistischen Nieuw-Vlaamse Alliantie (N-VA) verdankt sich dieser Konstellation, die bereits seit den vorherigen Parlamentswahlen von 2007 die belgische Politik dominiert hat. Das Ausbleiben einer Lösung radikalisierte die politische Stimmung in Flandern und trieb einen beträchtlichen Teil der Wähler der N-VA in die Arme.
Deren Repräsentanten allerdings, im Süden des Landes als extremistes abgelehnt, saßen schon seit Monaten nicht mehr am Verhandlungstisch. Auf frankophoner Seite kündigte die identitäre Partei Fédéralistes Démocrates Francophones (FDF) im September ihr Bündnis mit den Liberalen auf und war seither nicht mehr bei den Gesprächen vertreten. Viele Beobachter glauben, dass die Abwesenheit extremer Kräfte die Verständigung erleichtern wird.

Die unerbittlichen Forderungen der N-VA dienten den anderen flämischen Parteien zwangsläufig als Orientierung. Wer zu weit hinter sie zurückfällt, dürfte bei den kommenden Wahlen dafür bestraft werden. Bereits in den ersten Umfragen nach dem erreichten Kompromiss kam die N-VA im nördlichen Landesteil auf 35 Prozent. Die Parlamentswahlen 2010 hatte sie mit knapp 28 Prozent gewonnen. Auch die beiden grünen Parteien Groen! und Ecolo, die bei den Verhandlungen noch vertreten waren, landeten in der Opposition, da die Liberalen mit ihnen keine Regierung bilden wollten.
Während N-VA und FDF den Kompromiss jeweils als Ausverkauf ablehnen, würdigen viele belgische Medien ihn als historisch. Die wirtschaftlichen Bedingungen dürften der neuen Harmonie allerdings zusetzen. Die beiden Rating-Agenturen Standard & Poor’s und Fitch Rating stellten dem hoch verschuldeten Belgien negative Bonitätsprognosen aus. Zwischenzeitlich galt das Land als heißer Kandidat für ein Übergreifen der Euro-Krise. Auf die neue Regierung jedenfalls kommt mit der anstehenden Verstaatlichung der Dexia Bank gleich sehr viel Arbeit zu.