50 Jahre deutsch-türkisches Anwerbeabkommen

»Arbeitet wie Bienen«

Vor 50 Jahren wurde das erste deutsch-türkische Anwerbeabkommen geschlossen. Dass die Türken als Gastarbeiter zweiter Klasse angeworben wurden, zeigt sich heute auch an ihren Renten.

Für die anatolische Provinz der frühen sechziger Jahre war Deutschland ein unbekanntes Land. Es gab kaum jemanden, der zu Besuch kommen und von dort erzählen konnte – nur gut 6 000 Türken lebten damals in der Bundesrepublik. Als die beiden Länder am 30. Oktober vor 50 Jahren ihr erstes Anwerbeabkommen schlossen, tat Aufklärung not. Und so produzierte die staatliche Türkische Anstalt für Arbeit und Arbeitsvermittlung eine kleine Fibel. Damit sie »dem glorreichen Namen des Türkentums« keine Schande bereiteten, gab sie sie den Hunderttausenden jungen Männern und Frauen, die in den Folgejahren nach Deutschland gingen, mit auf den Weg: »Die Bundesrepublik Deutschland ist ein nationalistischer Staat. Die Deutschen, die dort leben, sind, genau wie wir, Nationalisten und Feinde des Kommunismus«, beginnt das kleine Heft. »Da die deutschen Arbeitgeber gehört haben und wissen, dass auch die Türken fleißig und disziplinliebend sind, verlangen sie von uns Arbeiter. Ihr dürft nicht zulassen, dass dieses gute Bild des Türken befleckt wird. Arbeitet wie Bienen, seid wachsam und lernt schnell, was ihr noch nicht wisst.« Man möge sich »nicht krankschreiben lassen, wenn es nicht unbedingt notwendig ist«, und zu den Vorarbeitern »nicht grob und laut« werden.
Die türkischen Arbeitnehmer beherzigten die Ratschläge offenbar. Bereits am 12. Dezember 1962, gut ein Jahr nach Inkrafttreten des Anwerbeabkommens, schrieb die Geschäftsführung des Bundesverbandes der deutschen Arbeitgeberverbände an den damaligen Bundesarbeitsminister, den CDU-Politiker Theodor Blank: »Überraschend schnell« hätten sich die Türken in die deutschen Betriebe und Verhältnisse eingelebt. »Nennenswerte Klagen« seien nicht laut geworden. Und darum würde die deutsche Wirtschaft es »dankbar begrüßen«, wenn die Begrenzung des Aufenthalts der türkischen Gastarbeiter auf zwei Jahre aufgehoben würde. Dadurch könnte man sich nämlich das ständige, teure Anlernen neuer Arbeiter sparen. Die Regierung kam der Bitte nach.

Dabei waren die Türken als Gastarbeiter zweiter Klasse angeworben worden. Schon in den fünfziger Jahren waren Zehntausende Menschen aus Italien, Spanien und Griechenland in deutsche Fabriken und Bergwerke gekommen. Doch den ersten Arbeitern aus einem muslimischen Land begegnete man mit großen Vorbehalten. Während die Spanier und Griechen unbefristet bleiben durften, sollten die Türken Deutschland nach zwei Jahren wieder verlassen, sie mussten sich ärztlich untersuchen lassen, sollten aus den europäischen Gebieten der Türkei stammen und durften nicht verheiratet sein.
Lange hieß es, Deutschland habe von sich aus versucht, die Türken anzuwerben. Das Gegenteil ist der Fall, sagt die Karlsruher Wirtschaftshisto­rikerin Heike Knortz. »Die Initiative zur Anwerbung ausländischer Arbeitskräfte ging weder von der Bundesrepublik aus, noch folgte sie originär arbeitsmarktpolitischen Erwägungen«, schreibt sie in ihrem Buch »Diplomatische Tauschgeschäfte«. Die Türkei habe vielmehr um die Anwerbung gebeten – um die Landbevölkerung zu qualifizieren und das Außenhandelsdefizit zu drücken. Deutschland sei der Bitte nach einigem Zögern nur nachgekommen, um den Nato-Partner Türkei zu stärken – und die Industrie habe dies »dankbar genutzt.«

Die Dankbarkeit schlug sich allerdings nicht in den Lebensbedingungen für die werktätigen Gäste nieder. Die wurden meist in üblen Baracken­lagern untergebracht, teils in denselben, in die die Nazis ihre Zwangsarbeiter gesteckt hatten. Die »Baubudenverordnung« von 1959 sah je eine Schlafgelegenheit in Etagenbetten vor, einen abschließbaren Spind, einen Platz am Esstisch und einen Stuhl pro Person, heißt es in einer Dokumentation der Heinrich-Böll-Stiftung. Im »Gastarbeiter-Lager« der Firma Philipp Holzmann in Frankfurt-Rödelheim seien auf 800 Menschen nur acht Duschen und fünf Wasserhähne gekommen.
Arbeitskraft war damals tatsächlich ein rares Gut. Die wöchentliche Arbeitszeit war auf 45 Stunden verkürzt worden, der Mauerbau ließ den Übersiedlerstrom aus der DDR abreißen, die geburtenschwachen Kriegsjahrgänge traten ins Erwerbsleben ein. Die Ausbildungszeiten wurden länger, der Bildungsurlaub wurde eingeführt, das Renteneintrittsalter herabgesetzt. Über 570 000 offenen Stellen standen nur 94 000 registrierte deutsche Arbeitslose gegenüber. Die Gewerkschaften profitierten von dem Arbeitskräftemangel – er stärkte ihre Verhandlungsmacht, sie wollten die Wochenarbeitszeit weiter reduzieren. Die »Fremdarbeiter« lehnten sie strikt ab. Schon als die ersten Italiener angeworben werden sollten, bekundete etwa der IG-Bergbau-Vorsitzende Heinrich Imig an, sich »bis zum Äußersten« wehren zu wollen.
Tatsächlich ermöglichten es die Gastarbeiter der Industrie, Lohnerhöhungen hinauszuzögern. Gleichwohl verdreifachten sich die Bruttolöhne in Deutschland von 1961 bis zum Anwerbestopp 1973. In den 38 Jahren, die seither vergangen sind, stiegen sie hingegen insgesamt nur um knapp 150 Prozent.
Die Migranten übernahmen die gefährlichen, schlecht bezahlten und anstrengenden Arbeiten, für die sich keine Deutschen fanden. Hinlänglich dokumentiert ist, dass dabei von Anfang an darauf spekuliert wurde, dass sie kräftig in die Sozialkassen einzahlen würden, ohne wegen des »Rotationsprinzips« je nennenswerte Ansprüche daraus geltend machen zu können.
Bis zum Jahr des Anwerbestopps 1973 stieg die Zahl der in Deutschland lebenden Türken auf knapp 700 000. »Wir müssen sehr sorgsam überlegen, wo die Aufnahmefähigkeit unserer Gesellschaft erschöpft ist«, warnte Bundeskanzler Willy Brandt, und der damalige Arbeitsminister Walter Arendt (SPD) fürchtete, die Gastarbeiterbeschäftigung könne in ein »Minusgeschäft« umschlagen. Im Oktober 1973 erließ die Bundesregierung einen Anwerbestopp – sie befürchtete wegen der Ölkrise eine Rezession. Doch während in den sechziger Jahren Türken, die ihre Jobs verloren hatten, vorübergehend in die Türkei zurückgekehrt waren, blieben sie nun im Land. Sie fürchteten zu Recht, keine abermalige Rückkehrerlaubnis in die Bundesrepublik zu erhalten, und holten ihre Familien nach. Fast eine Million Angehörige kamen bis zum Ende der siebziger Jahre. Deutschland war zum Einwanderungsland geworden.
In dieser Zeit wurde der ehemalige nordrhein-westfälische Ministerpräsident Heinz Kühn (SPD) zum ersten »Ausländerbeauftragten« der Bundesregierung. Er schlug Alarm: »Es muss erkannt werden, dass hier eine nicht mehr umkehrbare Entwicklung eingetreten ist.« Den »vermutlich in großer Zahl bleibewilligen Zuwanderern« müsse ein »Angebot zur vorbehaltlosen und dauerhaften Integration« gemacht werden.

So viel Fortschrittlichkeit blieb nicht lange unwidersprochen. 1981 initiierten 15 Heidelberger Professoren einen »Schutzbund für das deutsche Volk« und unterzeichneten das sogenannte Heidelberger Manifest. Darin prangerten sie die »Unterwanderung des deutschen Volkes« und die »Überfremdung unserer Sprache, unserer Kultur und unseres Volkstums« durch »Ausländer« an. Während die Politik Kühns Anregung bis heute nicht folgen mag, ging man auf die rechtskonservativen Heidelberger Professoren schnell ein. Das Gesetz zur Förderung der Rückkehrbereitschaft von Ausländern bot Gastarbeitern »Rückkehrhilfen« in Höhe von 10 500 DM zuzüglich 1 500 DM je Kind an, wenn diese Deutschland verließen, sich verpflichteten, nicht wiederzukommen, und auf alle Ansprüche verzichteten. Rund die Hälfte der in Deutschland lebenden Türken nahm den »Goldenen Handschlag« an.
Doch von denen, die blieben, bekamen viele Kinder oder holten weitere Verwandte nach. Heute leben rund drei Millionen türkischstämmige Menschen in Deutschland, rund die Hälfte hat einen deutschen Pass. Da die Industrie nicht mehr so viele Arbeitsplätze bietet wie einst, haben viele eigene Unternehmen gegründet. Als Thilo Sarrazins Buch »Deutschland schafft sich ab« herauskam, verwies der türkische Unternehmerverband ATIAD darauf, dass es in Deutschland 80 000 selbständige türkischstämmige Unternehmer mit 380 000 Beschäftigten gebe, die zusammen rund 40 Milliarden Euro jährlich umsetzten. 2020, so glaubt ATIAD, werden 130 000 türkischstäm­mige Unternehmer rund 750 000 Menschen in Deutschland beschäftigen. Yunus Ulusoy vom Zentrum für Türkeistudien der Universität Duisburg-Essen forscht zu Migrantenökonomien und sieht gar »einen neuen, deutschtürkischen Unternehmertyp«, der die Talente beider Kulturen verbinde. Das geschieht nicht immer zum Vorteil der Beschäftigten: »Die prekären, kleinbetrieblichen und oftmals familiären Bedingungen in der türkischen Ökonomie führen zu einer Kaschierung der Konfliktlinie zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern sowie zu einer größeren gegenseitigen Abhängigkeit der Beteiligten«, schreibt der Kulturwissenschaftler Holger Marcks. Die »kollektive Identität« erschwere die Fähigkeit zur »Organisierung mit anderen sozial Benachteiligten«. So könne die Expansion der »türkischen Ökonomie« in Deutschland zwar als Folge von Prekarität verstanden werden, »jedoch behebt sie deren Probleme in keinerlei Weise«.
Tatsächlich kam das Berliner Institut für Bevölkerung und Entwicklung (BBE) 2011 zu dem Ergebnis, dass türkischstämmige Migranten auch materiell zu den am schlechtesten integrierten Zuwanderern gehören. »Sie sind nach fast allen Kriterien weit entfernt von einer gleichberechtigten Teilhabe am gesellschaftlichen Leben«, stellen die BBE-Forscher fest. Weil türkische Arbeiter oft nicht ihr gesamtes Erwerbsleben in die Rentenkassen eingezahlt haben oder wegen der körper­lichen Belastung durch ihre Tätigkeit früher aufhören mussten zu arbeiten, bekommen sie durchschnittlich 300 Euro weniger Rente als deutsche Ruheständler, hat das Zentrum für Türkeistudien und Integrationsforschung (ZfTI) in Essen herausgefunden. Zum Leben reicht das oft nicht. Viele verlassen deshalb im Alter Deutschland: Fast 40 Prozent der türkischen Migranten wollen in ihre Heimat zurückkehren, sagt das ZfTI.