Berichte aus Tunis und Paris über die Wahlen

Die Türkei als Vorbild

Die Islamisten von al-Nahda haben es geschafft, Angst vor den laizistischen Parteien zu verbreiten und sich als »Partei des Volkes« zu präsentieren. Auch die Repression gegen Anhänger von al-Nahda während der Diktatur lässt die islamistische Partei als glaubwürdige politische Kraft erscheinen.

In der kleinen, weiß getünchten Villa mit den braunen Fensterrahmen nahe der Place Pasteur in Tunis herrscht wildes Gedränge. Hier ist das Hauptquartier des »Pôle démocratique et moderniste«, eines Parteienbündnisses, das sich rund um die Bewegung Ettajdid, die frühere tunesische kommunistische Partei – die, wie viele vergleichbare Parteien in arabischen Ländern, nach 1989 vom Marxismus zum bürgerlichen Liberalismus konvertierte – gebildet hat. Im Eingangsbereich stapeln sich noch die Überreste des Wahlkampfs: Flyer, Plakate, Broschüren, Transparente, auch ein paar leere Pizzaschachteln. Aber die Stimmung könnte besser sein.
Plötzlich hört man einige Gesprächsfetzen, die in dem Lärm gerade noch verständlich sind: »al-Nahda (…) 40 Prozent.« Das ist der Schock des Tages: Eine Agenturmeldung, der zufolge die islamistische Partei al-Nahda davon ausgeht, mit 40 Prozent der Stimmen die Wahlen gewonnen zu haben. Nach Angaben der tunesischen Wahlkommission ISIE verliefen die ersten freien und wirklich pluralistischen Wahlen in Tunesien seit der Unabhängigkeit von Frankreich im Jahr 1956 ohne größere Zwischenfälle, obwohl es zuvor zahlreiche Gerüchte und Streitigkeiten um eventuelle Manipulationen gegeben hatte.
Die am Sonntag gewählte Nationalversammlung wird nicht nur als Parlament, sondern auch als Verfassunggebende Versammlung amtieren. Sie wird neue juristische Grundregeln für das zukünftige Tunesien aushandeln. Sieben Millionen erwachsene Tunesierinnen und Tunesier waren zur Wahl aufgerufen. 4,15 Millionen von ihnen hatten sich zuvor in die Wählerregister eingetragen, aber auch die verbleibenden drei Millionen durften wählen, wenn sie sich durch Ausweisdokumente identifizieren konnten. In der ersten Gruppe betrug die Wahlbeteiligung über 90 Prozent, in der zweiten Gruppe ein knappes Drittel. Von den 217 Sitzen wurden 199 im Land selbst vergeben, die restlichen unter den im Ausland lebenden Tunesierinnen und Tunesier.
In einem kleinen Raum im ersten Stock werden die neuesten vorläufigen Ergebnisse ausgewertet. Auf einem Zettel werden die Zahlen herumgereicht. Da sind es für al-Nahda noch 30 Prozent der Stimmen, aber im Laufe der Stunden werden es immer mehr.

Jounaidi Abdeljaoued, der Sprecher des Pôle démocratique et moderniste und einer der Sekretäre der Ettajdid, sieht wenig zufrieden aus. Das Bündnis beschreibt er als einen Zusammenschluss von eher staatszentrierten Linksparteien und Unabhängigen, die für Freiheits- und Bürgerrechte eintreten, um die Errungenschaften in Tunesien, insbesondere die weitgehende Gleichheit zwischen Männern und Frauen, zu bewahren. Es gehe um die Konkretisierung der Ziele der Revolution – die ihm zufolge Freiheit, Würde, soziale Gerechtigkeit und Bürgerrechte sind – und universelle Werte.
Den Erfolg der Partei al-Nahda erklärt er damit, dass sie es geschafft habe, Angst vor den laizistischen Kräften zu schüren, indem sie behauptete, diese wollten die Religion abschaffen oder seien für Drogen und Homosexualität. Zudem agiere al-Nahda doppelzüngig, die Partei präsentiere sich mal als gemäßigt, mal als fundamentalistisch.
Aber auch andere Faktoren können den Erfolg der Islamisten erklären: So war al-Nahda, wie viele islamistische Kräfte in den arabischen Ländern, sehr präsent in den armen Wohnbezirken, in denen der Staat wesentliche Versorgungsfunktionen aufgegeben hat. Zugute kam der Partei dabei, dass sie über erhebliche Mittel verfügte und mutmaßlich auch von den Golfstaaten finanziell unterstützt wird. Zudem genossen die Nahdisten einen erheblichen »Märtyrerbonus«. Viele politische Oppositionelle haben unter der Diktatur von Präsident Zine al-Abidine Ben Ali gelitten, der von 1987 bis zum Januar dieses Jahres an der Macht war. Aber niemand hat einen derart hohen Preis bezahlt wie die Anhänger der 1991 für illegal erklärten islamistische Partei: 30 000 politische Gefangene, unzählige Folteropfer, Tote bei Hungerstreiks und in den Haftanstalten. Perfiderweise hatte das Regime sich damals auf die »Errungenschaften Tunesiens« im Bereich der Frauenrechte berufen, um die Mittelschicht und die Intellektuellen dazu aufzufordern, über die willkürlichen Verhaftungen und Folterungen von Oppositionellen zu schweigen. Anfangs ging die Rechnung sogar auf, da viele Tunesier wegen des rapiden Aufstiegs des Islamismus im Nachbarland Algerien verängstigt waren. Im Laufe der Jahre wurde die Kritik immer lauter, und jene Werte, auf die das Regime Ben Alis sich verbal berief, wurden in Teilen der Gesellschaft diskreditiert. Dies hält ein bedeutender Teil der Bevölkerung al-Nahda heute zugute, während manche politische Kräfte dafür abgestraft wurden, dass sie während der Diktatur in einem vollständig abgekarteten politischen Spiel bereitwillig die Statisten abgegeben haben, während andere in den Folterkellern saßen.

Dies gilt etwa für die Progressive Demokratische Partei (PDP), die mit rund zehn Prozent der Stimmen eine schwere Niederlage erlitt. In gerin­gerem Maße gilt es aber auch für die unter der Dik­tatur zumindest tolerierte Ettajdid. In den vergangenen Monaten hatten Umfragen der PDP als eine der stärksten politischen Kräfte im Lande gehandelt und Parteichef Nadjib Chébi als aussichtsreichen Präsidentschaftskan­didaten genannt. Während der Diktatur hatte der PDP mehrfach an Wahlen teilgenommen, deren Ergebnisse bereits vor dem Wahltag längst feststanden, während Chébi bei Präsidentschaftswahlen den scheinbaren Gegenkandidaten für Ben Ali abgegeben hatte. Das rächte sich nun, da die Bevölkerung den Oppositionskräften der Ben-Ali-Ära den Vorzug gab. Hinzu kam das eher ambivalente Profil von Chébi, der in seiner poli­tischen Karriere unter anderem Maoist, arabischer Nationalist und Anhänger der Ba’ath-Partei, Liberaler mit Unterstützung aus den USA und schließlich prominenter »Demokrat« gewesen ist.
An die zweite und dritte Stelle rücken nun, ungefähr gleichauf, der linksbürgerliche und linksnationalistische »Kongress für die Republik« (CPR) von Moncef Marzouki mit rund 20 Prozent und die sozialdemokratische Partei Ettatakol – ehemals »Demokratisches Forum für Arbeit und Freiheit« – von Mustapha Ben Jaafar mit 15 bis 20 Prozent.

Wie die Parteien sich zur Zeiten der Diktatur zueinander und zum Regime verhalten haben, könnte auch die künftige Zusammenarbeit in der Verfassungsgebenden Versammlung beeinflussen. So schließt der CPR derzeit eine Zusammenarbeit dort mit al-Nadha nicht aus. Umgekehrt bot die Wahlsiegerin sowohl Ettatakol als auch dem CPR eine Zusammenarbeit an.
Solche Kooperationsangebote versteht man nur, wenn man die politische Landschaft in der Endphase der Diktatur Ben Alis berücksichtigt. Im Oktober 2005 hatte ein aufsehenerregender Hungerstreik stattgefunden, mit dem Oppositionelle gegen den Weltinformationsgipfel in Tunis protestierten – ein Skandal in einem Land, in dem das Internet so stark wie in wenigen anderen kontrolliert wurde. Damals hatten linke Aktivisten erstmals mit Leuten von al-Nahda zusammengearbeitet, da beide Seiten gegen Repression und die Zensur protestierten.
Auch die Kommunistische Partei der Arbeiter Tunesiens (PCOT), eine früher maoistische und pro-albanische, heute vage linke Partei, arbeitete damals mit. Daraus erklärt sich, dass auch die PCOT bislang eine Zusammenarbeit mit al-Nahda in der Verfassunggebenden Versammlung nicht ausschließt.
Diese Parteien könnten jedenfalls kooperieren, wenn es um die Entschädigung von Repressionsopfern, um die Bestrafung der Verantwortlichen für Repression und Misshandlungen oder um die eventuelle Enteignung von Mafiosi aus dem Umfeld Ben Alis gehen wird. Ihnen könnten jene Parteien gegenüberstehen, die während der Diktatur eine »legalistische« Strategie verfolgten. Der PDP sind zudem in den vergangenen Monaten viele frühere Mitglieder der im März 2011 gerichtlich verbotenen ehemaligen Staatspartei RCD beigetreten, nach offiziellen Angaben vorwiegend die »nicht Diskreditierten«. Aber auch drei Listen, die von früheren Ministern der RCD geführt wurden, erhielten zusammen über 15 Prozent. Das ist nur auf den ersten Blick verwunderlich. Denn eine Staatspartei, die ein bis zwei Millionen Mitglieder hatte, verschwindet nicht innerhalb einiger Monate spurlos.
Quer zu dieser Achse steht im politischen Koordinationssystem Tunesiens eine andere, die in der Endphase des Wahlkampfs an Bedeutung gewann. Es ist jene zwischen den Laizisten und den Islamisten sowie anderen Verfechtern einer Art Staatsreligion. Al-Nahda verfolgt eine moderate Strategie, die sich eher an die türkischen Regierungspartei AKP orientiert. Dass sie sich in ein bürgerlich-liberales System einfügen und grundlegende Freiheiten garantieren möchte, kann man ihr insofern glauben.
Dennoch gibt es auch bei al-Nahda unterschiedliche Strömungen, einige davon sind erkennbar autoritär. Einen Vor- und Nachteil zugleich ist dabei für al-Nahda die Konkurrenz mit den Salafisten, die sich in den vergangenen Monaten immer wieder bemerkbar machten (s. Seiten 4/5). Gegenüber der breiten Öffentlichkeit versucht al-Nahda, moderat zu wirken, was ihr durch den Vergleich mit den Salafisten erleichtert wird. Aber gleichzeitig muss sie auch ihr Terrain gegenüber dem Konkurrenten auf ihrer Rechten behaupten.
Am Montagabend und Dienstagmorgen versicherte al-Nahda, die Partei werde »die Rechte von Frauen und Minderheiten« respektieren. Aber nicht alle Tunesierinnen und Tunesier vertrauen darauf. An symbolischen Maßnahmen ist vor allem zu erwarten, dass al-Nahda ein Alkoholverbot in manchen Touristenzonen durchsetzten könnte.

Nordine, Zeitungshändler in Paris, der die Hälfte des Jahres in Paris lebt und für den CPR stimmte, sieht allerdings keinen Anlass zur Beunruhigung: »Tunesien wird niemals wie der Iran werden. Das ist unmöglich. Bei uns hatten die Frauen das Recht auf Abtreibung vor den Französinnen und das Wahlrecht vor den Schweizerinnen. Niemals wird die Gesellschaft zulassen, dass diese Rechte angetastet werden.«
Eine dritte Konfliktlinie betrifft die soziale Frage und die extrem ungleiche Verteilung des Reichtums. Dies spielte während der Unruhen im vergangenen Winter ebenso eine wichtige Rolle wie bei den Streiks der vergangenen Monate. Allerdings wurde der Konflikt zwischen Kapital und Arbeit dabei weitgehend durch »demokratische Aspekte« überlagert. So wurde bei Streiks die Absetzung von korrupten Direktoren gefordert, die dem Regime nahegestanden hatten, und nicht etwa die Selbstverwaltung durch die Lohnabhängigen. Im Wahlkampf spielte die so­zialen Frage jedoch eher eine untergeordnete Rolle. Das neue Establishment kann sich allerdings nicht darauf verlassen, dass es in dieser Hinsicht künftig ruhig bleibt. Denn zumindest eines hat sich seit dem Sturz Ben Alis geändert: Die Angst der Bevölkerung vor dem Staat ist nicht mehr so groß wie früher. Auch wenn eine neue Restauration anstehen sollte, so werden die Etablierten doch erstmals mit dem Druck der Straße zu rechnen haben.

Bernd Beier trug aus Tunis zu dem Text bei.