Erwartung und Enttäuschung unter den jungen Leuten in Tunesien

Einmal glücklich sein

Viele junge Tunesierinnen und Tunesier engagierten sich im Wahlkampf gegen den identitären Diskurs der religiösen Parteien. Es waren vor allem die Kinder der Bourgeoisie, die für Meinungsfreiheit und soziale Gerechtigkeit auf die Straße gingen. In den ärmeren Schichten träumen viele junge Menschen weiterhin davon, in Europa zu leben.

Ein Traum in schwarzweiss. Ein Bett fliegt zwischen Wolken. Ein Gott als alter, bärtiger Mann, und ein wütendes Mädchen, das ihm zuruft: »Halt den Mund! Ich will nichts mehr von dir hören, geh weg!« Auf Nessma TV lief der Zeichentrickfilm »Persepolis« auf Arabisch zur besten Sendezeit. Niemand dachte, dass die Verfilmung des preisgekrönten Comics der in Frankreich lebenden iranischen Autorin Marjane Satrapi in Tunesien ein politisches Erdbeben auslösen würde. Und das kurz vor den ersten freien Wahlen nach dem Fall des Regimes von Zine al-Abidine Ben Ali im Januar.
Einen Tag nach der Ausstrahlung des Films wurde der Sitz des Fernsehsenders von rund 200 aufgebrachten Menschen angegriffen, angeführt wurde die Gruppe von Anhägern der politisch-religiösen Bewegung der Salafisten. Gleichzeitig protestierten an den Universitäten von Tunis und Sousse weitere islamistische Gruppen gegen das Niqab-Verbot für Studentinnen.
Die wirkliche Kraftprobe kam aber Mitte Oktober. Nach dem Mittagsgebet an der Fatih-Moschee in Tunis setzte sich eine Gruppe Salafisten mit dem Slogan »al-sha’ab yurid daula islamiya« (Das Volk will einen islamischen Staat) an die Spitze einer Demonstration, die den Sitz der Regierung an der Casbah zum Ziel hatte. Sie schwenkten die schwarzen Fahnen von Hizb at-Tahrir, der islamistischen »Partei der Befreiung«. Hunderte Angreifer setzten später auch das Haus des Generaldirektors von Nesma-TV, Nabil Karoui, in Brand, der sich in den Augen der Islamisten durch die Ausstrahlung von »Persepolis« der Blasphemie schuldig gemacht hat. An der Demonstration, die von der Polizei mit dem Einsatz von Knüppeln und Tränengas aufgelöst wurde, nahmen rund 4 000 Personen teil. Die Salafisten waren dabei nur eine kleine Minderheit. Der Rest der Demonstrierenden waren zumeist junge Männer aus den Armenvierteln von Tunis, wo die Lage so angespannt ist, dass jeder Funke einen Brand auslösen könnte.

Diese jungen Menschen waren genau das Gegenteil der Kinder der Bourgeoisie, die zwei Tage später auf dem Mohamed-Khamis-Boulevard »Touche pas ma liberté!« (Hände weg von meiner Freiheit) skandierten. Es waren junge, gebildete, schick angezogene bis alternativ aussehende junge Leute, die via Facebook und Twitter zur Demonstration aufgerufen hatten, noch bevor die laizistischen Parteien auf die Ereignisse reagieren konnten. Einige hielten Che-Guevara-Plakate und hatten sich den Mund mit Klebeband zugeklebt, um damit auf die von den Islamisten geforderte Zensur der Medien hinzuweisen. Viele der Teilnehmenden waren Künstler, linke Studenten und Intellektuelle, die sich jeden Abend im »Underground« treffen, einem historischen Lokal im Zentrum von Tunis, und dort gemeinsam trinken, feiern und diskutieren. Es waren die jungen Frauen und Männer, die einige Tage zuvor im Institut für Sozialwissenschaften der Universität Tunis das »Peace and Love Festival« organisiert hatten, mit verschiedene Jazz-, HipHop- und Reggae-Bands und Hunderten von jungen Leuten, die zu den Liedern für die Freiheit und die Revolution tanzten.
In den zwei Wochen vor den Wahlen waren die Ausstrahlung von »Persepolis« und die Reaktionen der Islamisten das wichtigste Thema im Wahlkampf und in der öffentlichen Debatte. Und dies zeigte, wie gespalten die tunesische Gesellschaft fast ein Jahr nach dem Sturz des Diktators ist.
Bei den Wahlen am Sonntag stand viel mehr auf dem Spiel als der Entwurf einer neuen Verfassung, über den sich die großen Parteien ohnehin bereits geeinigt haben. Nicht nur Parteien, sondern auch mehr als 1 000 Bürgerlisten waren am Wahlkampf beteiligt. Viele der Kandidaten, die in den vergangenen Wochen an Debatten in den Stadtvierteln teilnahmen und Flugblätter verteilten, waren ehemalige Oppositionelle und Aktivisten, die bis vor fast einem Jahr wegen Meinungsdelikten im Gefängnis saßen oder im Untergrund lebten.
Wie die Kommunisten der Arbeiterpartei (Hizb al-Ummal), die in Mellassine, einem der größten Arbeiterviertel der tunesischen Hauptstadt, für ihre Partei warben. Miriam ist eine der insgesamt 20 jungen Frauen und Männer, die sich hier im Wahlkampf engagierten. Die 26jährige Doktorandin der Philosophie hat einen Vollzeitjob in einem Call-Center der französischen Telekommunikationsgesellschaft Orange, wo sie 450 Dinar im Monat verdient, umgerechnet rund 230 Euro. Auch ihr Kollege Ahmed, der eine Doktorarbeit über die Aufklärung und die zeitgenossische arabische Philosophie schreibt, war dabei. Ihr Freund Ouissam begleitete die beiden mit der Videokamera und dokumentierte ihre Arbeit. Er ist Fotograf bei Saut al-Sha’ab (Die Stimme des Volkes), der Zeitschrift der jungen tunesischen Kommunisten, die bis zum vergangenen Januar noch verboten war und im Untergrund produziert und verteilt werden musste.
Miriam und Ahmed sind im Arbeiterviertel Kabaria aufgewachsen, einem von vielen, die man als Bronx von Tunis bezeichnen könnte, wie sie sagen. Die beiden wissen, was die Leute, die in den Vororten der Hauptstadt leben, wirklich beschäftigt. Ahmed redete mit allen. Mit den jungen Leuten in dem Café, wo früher die Schergen Ben Alis häufig saßen, mit den Damen auf dem Markt und mit jungen Frauen und Männern. Die Arbeiterpartei müsse man wählen, »weil Arbeit die Basis jeder Freiheit ist«. Die beiden Aktivisten stießen auf die verschiedensten Reaktionen. Manche hörten aufmerksam zu, andere wiesen sie ab: »Kiffar, yuhudin« (Ungläubige, Juden), lauteten die meisten Kommentare.
Viele Tunesierinnen und Tunesier waren während des Wahlkampfs von der Anzahl der antretenden Bürgerlisten überfordert. Mehr als 1 000 davon gab es im ganzen Land, rund 100 allein in Tunis. Die Vorschläge der Parteien für eine Reform der Verfassung und die teilweise technischen Debatten zu diesem Thema waren für die weniger gebildeten Bürgerinnen und Bürger schwer zugänglich. Sich zwischen den unzähligen Slogans und Versprechungen der Newcomer der tunesischen Politik zu orientieren, war für viele eine Herausforderung.

Das ist kaum verwunderlich in einem Land, in dem der politische Diskurs 23 Jahre lang de facto verstorben war und keine Opposition existierte. Es wäre allerdings ein Fehler zu denken, dass die Anhänger der al-Nahda nur arm, ungebildet und männlich seien und dass sie sich vom identitären politischen Diskurs der Islamisten hätten instrumentalisiert lassen. Die al-Nahda wird von allen sozialen Schichten der tunesischen Gesellschaft unterstützt.
Das konnte man während des Wahlkampfs beispielsweise in Ettahrir beobachten, wo die Partei von Rachid al-Ghannouchi in den vergangenen Tagen mehrere öffentliche Debatten organisierte, die ganze Plätze und Stadien füllten. Unter den Besuchern waren Studentinnen, Fabrikarbeiterinnen, Gewerkschafter, Apotheker, Anwälte und viele Familien aus der Mittelschicht. Vor allem die Kandidatinnen der al-Nahda sprachen über die Lage der Frauen in Tunesien, über Ausbeutung auf dem Arbeitsplatz und in der Familie. Für tunesische Frauen sei die Zeit gekommen, ihre eigenen Rechte zu fordern und sich zu organisieren, um für diese Rechte zu kämpfen. Im Jahr 2011 sei es in Tunesien nicht hinnehmbar, dass ein Mann im Namen einer Frau spreche. Das neue Wahlgesetz hat für die Wahllisten eine Frauenquote von 50 Prozent festgelegt. Trotz dieser sehr fortschrittlichen Regelung wurden in vielen Listen kaum Frauen als Spitzenkandidatinnen aufgestellt. Die al-Nahda ist eine der Parteien, die mit Souad Abd al-Rahim eine Frau an die Spitze einer Liste stellte. Abd al-Rahim wurde nicht nur bekannt, weil sie die einzige Spitzenkandidatin der al-Nahda ist, sondern auch, weil sie kein Kopftuch trägt. Al-Nahda zwinge keine Frau dazu, sich zu verschleiern, wiederholt sie unermüdlich seit Wochen, und das werde sie auch nicht mit den tunesischen Bürgerinnen tun, falls sie die Wahl gewinne.
Bereits während ihres Studiums der Pharmazie war Abd al-Rahim in einer islamischen Studentengewerkschaft aktiv. Dann wurde sie aus politischen Gründen der Universität verwiesen und verhaftet, ihr Studium konnte sie erst später beenden. Ähnlich erging es vielen Funktionären von al-Nahda. Der Generalsekretär der Partei, Hamadi Jebali, saß 16 Jahre im Gefängnis, davon zehn in Einzelhaft. Der Spitzenkandidat im Wahlbezirk Tunis-2, Ziad Dulatli, saß 15 Jahre im Gefängnis, der Pressesprecher der Partei, Kamel Harbaoui, wurde 1994 verhaftet und saß bis 1997 in Haft, dann ging er ins Exil in die USA und kam erst im Januar zurück. Die Partei von al-Ghannouchi wurde von der Repression des Regimes besonders hart getroffen. Schätzungen gehen von rund 30 000 Anhängern von al-Nahda aus, die seit 1987, als Ben Ali an die Macht kam, verhaftet und gefoltert wurden. Heute stellen viele dieser Menschen eine treibende Kraft der Partei dar.

Einer der politischen Berater von al-Nahda ist ein Italiener, Giacomo Fiaschi, der sich als Freelance-Journalist und »begeisterter Angler und Fotograf« vorstellt. Fiaschi, der seit 15 Jahren in Tunesien lebt, hat Theologie und Philosophie studiert und pflegt Kontakte mit dem Vatikan und mit Vertretern der wichtigsten italienischen politischen Parteien. Mit der Führung der al-Nahda habe ihn die Familie Bettino Craxis bekannt gemacht, des langjährigen Vorsitzenden der Sozialistischen Partei Italiens und früheren Regierungschefs. Craxi war in den neunziger Jahren im Rahmen der gigantischen Korruptionsaffäre »Mani Pulite« wegen illegaler Parteifinanzierung von einem Gericht in Mailand zu insgesamt mehr als 20 Jahren Haft verurteilt worden, floh aber vor der italienischen Justiz ins »tunesische Exil«, wie es hieß, und starb in der tunesischen Küstenstadt Hammamet im Jahr 2000.
»Meine erste Aufgabe war, den Sekretär von alNahda Ende August zu einem Meeting von Comunione e Liberazione in Rimini zu begleiten«, erzählt Fiaschi. Es handelt sich dabei um eine italienische katholische Lobbyorganisation, die in wirtschaftlichen und politischen Kreisen sehr einflussreich ist. Jebali habe sich dort mit wichtigen italienischen Politikern getroffen und sich als wahrscheinlicher künftiger Premierminister Tunesiens vorgestellt. »Als ich aus Rimini zurückkam, hatte ich den Eindruck, dass Jebali ein geschickter und pragmatischer Politiker ist«, sagt Fiaschi. Al-Nahda verfügt nicht nur über fähige politische Strategen, sonder offenbar auch über viel Geld. Der Hauptsitz der Partei in Tunis ist ein imposantes dreistöckiges Gebäude im Stadtteil Montplaisir, kleinere Büros befinden sich in anderen Stadtteilen und in ganz Tunesien. Auf die Frage, woher ihre finanziellen Mittel stammen, antwortet die Geschäftsführung der Partei, das Geld sei in den vergangenen 30 Jahren hauptsächlich durch Spenden zusammengekommen. Aber es gibt viele Gerüchte über ausländische Sponsoren und dubiose Parteispenden sowie über Stimmenkauf in den Armenvierteln.
Während des Wahlkampfs herrschte bei vielen Parteien offenbar die Befürchtung, dass die Bürgerinnen und Bürger sich nicht an der Wahl beteiligen werden. Diese Befürchtung hat sich am vergangenen Sonntag als falsch erwiesen, da die Wahlbeteiligung nach offiziellen Angaben bis Redaktionsschluss am Dienstag rund 90 Prozent betrug. Und das, obwohl eine Woche vor der Wahl nur 3,8 von 7,5 Million Wahlberechtigten registriert waren.
Trotzdem herrscht in einigen Teilen der Bevölkerung weiter Misstrauen gegenüber den neuen tunesischen Politikern. Mohammed und Ayman zum Beispiel interessieren sich nicht für diese Wahlen. Sie kommen aus einer armen Gegend von La Marsa, einem eigentlich wohlhabenden Vorort an der Küste nördlich von Tunis. Beide denken nur an das Eine: Sie wollen Tunesien verlassen, nach Italien gehen. Bereits einmal haben sie das Mittelmeer überquert und die italienische Küste erreicht. Aber das ging nicht gut. Gemeinsam mit weiteren 1 300 Tunesiern sind Mohammed und Ayman Ende September abgeschoben worden. Aber sie wollen es wieder versuchen. »In Tunesien reicht es nicht, einen Job zu haben. Du brauchst Beziehungen, wenn du etwas im Leben erreichen willst«, sagt Ayman. »Wir sind nicht bereit, 20 Jahre zu warten, bis wir die Früchte der Revolution sehen können«, fügt Mohammed hinzu. Sie sind beide 29 Jahre alt, haben die Schule mit 14 abgebrochen und hängen seitdem herum, wie sie sagen: »Wir sind Junggesellen mit leeren Taschen«, lachen sie.
Ayman ist Bäcker, seit 15 Jahren muss er Schichtarbeit und Überstunden machen, nur so kommt er über die Runden. Mohammed hat in den vergangenen Jahren in einer Pizzeria gearbeitet. »In diesem Land habe ich mich noch kein einziges Mal glücklich gefühlt«, sagt er.
Nach der Abschiebung aus Italien ist Mohammed arbeitslos geworden und wohnt derzeit in einer Zwei-Zimmer-Wohnung bei seiner Schwester und deren Ehemann in La Marsa. Er jobt gelegentlich im Café einer Tankstelle. »Für die Wohnung müssen wir jeden Monat 80 Euro zahlen« erzählt er, »ich verdiene 150 Euro im Monat. Mit dem wenigen Geld, das übrig bleibt, müssen wir das Essen kaufen und die Rechnungen bezahlen. Und manchmal bleibt etwas übrig für einen Busticket nach al-Kef.« Das ist eine Stadt an der Grenze zu Algerien, wo Mohammeds Mutter wohnt.

So leben mehr als die Hälfte der tunesischen Bürgerinnen und Bürger. Das Geld ist immer knapp, viele sind verschuldet. Vom neuen politischen System erwarten sie reale ökonomische Veränderungen und soziale Gerechtigkeit, während der identitäre Diskurs der religiösen Parteien ihnen suspekt ist. Das sind die jungen Frauen und Männer, die die Revolution gemacht haben und die davon träumen, ein freies, gerechtes und selbstbestimmtes Leben zu führen. Für diesen Traum starben während des Aufstands Anfang dieses Jahres 300 zumeist junge Menschen, die heute als »Märtyrer der Revolution« geehrt werden. Es gibt weiterhin viele, die bereit sind zu sterben und wie Mohammed und Ayman ohne Papiere ins erste Boot nach Europa steigen würden. Rund 30 000 haben das seit Anfang dieses Jahres versucht. Diejenigen, die hierbleiben, werden nach dem Wahlsieg von al-Nahda vermutlich bald wieder auf die Straßen gehen, denn, wie auf einem Schild bei der Demonstration Mitte Oktober zu lesen war: »Wenn du in der Revolution nachgibst, hast du alles verloren.«

Aus dem Italienischen von Federica Matteoni