»Die Linke« hat ihr erstes Grundsatzprogramm

Lernen von den Nerds und Bebel

Auf dem Parteitag in Erfurt hat die Linkspartei ihr erstes Grundsatzprogramm ­beschlossen. Dabei hat sich der traditionslinke Flügel vorerst gegen die Reformer in der Partei durchgesetzt.

Der große Knall blieb aus. Zu einem Hauen und Stechen zwischen den verschiedenen Flügeln innerhalb der Linkspartei kam es in der Erfurter Messehalle nicht. Mit fast 97 Prozent Zustimmung für das vom Vorstand vorgeschlagene Grundsatzprogramm demonstrierte die 2007 aus PDS und WASG hervorgegangene Partei nach außen hin sogar erstaunliche Einigkeit. Bis Ende des Jahres muss das neue Programm noch in einer Urabstimmung von der Parteibasis bestätigt werden. Doch daran wird das, was der Parteivorsitzende Klaus Ernst pathetisch einen »Meilenstein in der Geschichte« nennt, wohl nicht mehr scheitern. Zu groß ist die Erleichterung in der gesamten Partei, den Parteitag ohne größere Konflikte über die Bühne gebracht zu haben. Damit dürften Ernst und die Co-Vorsitzende Gesine Lötzsch auch ihre Chancen erhöht haben, sich bis zum Ende ihres Mandats im Amt zu halten. Dann, im Sommer 2012, soll auf dem nächsten Parteitag ein neuer Bundesvorstand gewählt werden.

Der Kongress offenbarte einiges über die Machtverhältnisse in der Partei. Schon die Reihenfolge der Redner war sinnbildlich für die inoffizielle Hierarchie: Während Ernst und Lötzsch am Freitag zur Eröffnung sprachen, folgte am Sonnabend eine große Ansprache des Vorsitzenden der Bundestagsfraktion, Gregor Gysi. Die wichtigste Rede jedoch durfte am Sonntag Oskar Lafontaine halten, auch wenn der frühere Partei- und Fraktionsvorsitzende eigentlich nur noch als vorsitzender der Saarländischen Landtagsfraktion amtiert. Obwohl sich Lafontaine vor fast zwei Jahren wegen einer Krebserkrankung formell aus der Bundespolitik zurückgezogen hat, gilt er weiterhin als heimlicher Parteivorsitzender. Das jetzt in Erfurt verabschiedete Programm trägt deutlich die Handschrift des früheren SPD-Politikers. In seiner mit stehenden Ovationen bedachten Rede fasste der 68jährige prägnant die Inhalte des Dokuments zusammen. Als Hauptfeind machte Lafontaine die »Diktatur der Finanzmärkte« aus. Diese sei eine »Tyrannei«, die zur »Barbarei« führe. Dem wolle man eine »demokratische Erneuerung« entgegensetzen. Denn »Eigentum« entstehe »durch Arbeit«, nicht durch »Spekulation« oder »Zockerei«.
Nachdem die Bewegung gegen die Hartz-Gesetze, in deren Fahrwasser die Linkspartei bei der Bundestagswahl 2009 auf fast zwölf Prozent der Stimmen kommen konnte, abgeklungen war, suchte die Partei verzweifelt andere erfolgversprechende Themen. Mit der Banken- und Euro-Krise scheint sie nun fündig geworden zu sein. Damit das auch die Bankenkritiker und Besetzer öffentlichen Raums mitbekommen, hat die Linkspartei in Erfurt eine Resolution verabschiedet, in der sie sich ausdrücklich »mit den weltweiten Protesten der Occupy-Bewegung« solidarisiert. Ob das wirklich auf Gegenliebe bei Leuten stößt, die, zumindest der Rhetorik nach, auf ihre politische Unabhängigkeit Wert legen, bleibt abzuwarten.

Lafontaine führte zudem aus, die heutige SPD sei »geschichtsvergessen«, die Linkspartei dagegen stehe in der »Tradition der Arbeiterbewegung Europas«. Dass er diesen Punkt gerade in Erfurt ansprach, kam nicht von ungefähr. Denn tatsächlich hatte dort die Sozialdemokratie fast auf den Tag genau vor 120 Jahren unter der Leitung August Bebels ein Programm beschlossen, in dem sie etwa »die Verwandlung des kapitalistischen Privateigentums an Produktionsmitteln in gesellschaftliches Eigentum« forderte. Auch Lafontaine lobte nun das »Gemeinschaftseigentum«, das die »Antwort auf viele Fragen unserer Zeit« sei. Allerdings stellt die Linkspartei diese Fragen meist nur im Bezug auf die Banken und Börsen und bedient damit häufig ein dichotomes Denkschema, in dem der »gute Produktionssektor« dem »bösen Finanzkapital« gegenübersteht.
Da überrascht es denn auch kaum, dass Lafontaine offenbar immer noch nicht begriffen hat, was seiner Partei in der Antisemitismusdebatte des vergangenen Sommers eigentlich vorgeworfen wurde. Über die habe er sich »maßlos geärgert«, denn die Linkspartei habe bei dem Thema »keine Belehrung« nötig. Sollte ein »neuer Faschismus« heraufziehen, wäre es doch gerade die »Linke«, die dagegen »auf die Barrikaden« ginge, meinte er. Dass es Antisemitismus auch außerhalb faschistischer Strömungen geben kann, kommt Lafontaine anscheinend nicht in den Sinn. Zwar ist mit dem Programm auch eine Kompromissformel in Sachen Antisemitismus und Israel beschlossen worden – sie beinhaltet die Anerkennung des Existenzrechts Israels –, doch schon jetzt ist der nächste Skandal vorprogrammiert: Ausgerechnet am 9. November, dem Jahrestag der Reichspogromnacht, wollen antizionis­tische Hardliner, die dem sogenannten Fundi-Flügel der Partei nahestehen, in Hamburg über eine vermeintlich »Antisemitismus-Falle« diskutieren.
Bewegungsnah versucht sich die Partei auch beim Thema Netzpolitik zu geben. Im Erfurter Programm bekennt sie sich zu einer gesetzlichen Festschreibung der Netzneutralität, spricht sich gegen Netzsperren, für mehr Datenschutz, Open-Government und E-Demokratie aus. Anscheinend sieht sich die alternde Partei auf diesem Themenfeld besonders durch die Erfolge der jungen Piratenpartei unter Druck gesetzt. Trotz eines deut­lichen Gender-Problems kann diese immerhin mit einer gewissen »Nerd-Sexyness« punkten.

Dass die Linkspartei derzeit wenig »sexy« ist, zeigte sich auch an der skurrilsten Episode des Parteitags. Gegen den Willen der Parteiführung stimmte der Kongress einem Antrag zu, wonach man »langfristig eine Legalisierung aller Drogen« fordere. Kaum berichteten bürgerliche Medien darüber – Focus etwa titelte »Koks ja – Banken nein«  –, wurde nur wenige Stunden später auf Initiative von Gregor Gysi ein Zusatz verabschiedet. Demnach fordere man lediglich »die Entkrimina­lisierung der Abhängigen und die Organisierung von Hilfe und einer legalen und kontrollierten Abgabe an diese«. Damit jedoch reproduziert die Partei einen gängigen Fehlschluss in der Drogenpolitik, wie selbst der drogenpolitische Sprecher der Bundestagsfraktion, Frank Tempel, kritisierte: »Wer Drogen nimmt, ist abhängig. Das ist natürlich falsch.« Eine ironische Pointe dieser Geschichte mag sein, dass sonst immer der traditionslinke Flügel den Reformern vorhält, über jedes Stöckchen zu springen, das ihm der politische Gegner hinhalte. Diesmal war es umgekehrt. Vor allem die westdeutschen Gewerkschafter fürch­teten sich vor den besorgten Fragen der Mitglieder, ob ihre Kinder sich demnächst Heroin im nächsten Supermarkt kaufen könnten.
Zweifellos aber sind der Parteitag und das von ihm beschlossene Grundsatzprogramm Ausdruck eines faktischen Sieges des Flügels um Lafontaine über die in den letzten Landtagswahlen gescheiterten Reformer. Schon mehren sich die Stimmen, die sich Lafontaine als Parteivorsitzenden und Spitzenkandidaten zurückwünschen und Sahra Wagenknecht als Fraktionsvorsitzende im Bundestag wollen. Doch mit ihrer Romantisierung des klassischen Industrieproletariats werden die Traditionalisten, die in Erfurt den Eindruck erweckten, als sei die umfassende Prekarisierung gerade der jungen Lohnarbeiterschaft an ihnen vorbeigegangen, die etwa zur Piratenpartei abgewanderten Wähler kaum zurückgewinnen können. So könnte sich ihr Erfolg in Erfurt schon bald als Pyrrhussieg erweisen.