Asylbewerber in Brandenburg boykottieren das Gutscheinsystem

Brandenburgische Zettelwirtschaft

Seit fünf Monaten verweigern Bewohnerinnen und Bewohner eines Asylbewerberheims in Brandenburg die Annahme von Gutscheinen für Grundleistungen. Der Boykott zeigt Wirkung in anderen Landkreisen, wo die Behörden auf Bargeld­auszahlungen umstellen.

Der Boykott begann Anfang Juni mit einer Kundgebung vor dem Flüchtlingslager. Ab etwa neun Uhr hätten an diesem Tag in Stolpe-Süd – so der Name des Lagers in der Stadt Hennigsdorf – die Gutscheine entgegengenommen werden sollen, die einmal monatlich ausgegeben werden. Diese werden an Flüchtlinge zur Sicherung des Lebensunterhalts verteilt. So sieht es das Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG) von 1993 vor. Zu Beginn beteiligten sich rund 80 Personen aus dem Flüchtlingslager am Boykott. Das anfängliche Ziel, einen Kreistagsbeschluss zur Abschaffung des Gutscheinsystems durchzusetzen, hat die Initiative »United against Racism and Isolation« (Uri), die sich aus Bewohnerinnen und Bewohnernn des Heims, verschiedenen linken Gruppen und Einzelpersonen zusammensetzt, bereits erreicht. Ende Juni wurde der gemeinsame Antrag von Grünen und Linkspartei, die Leistungen auf Bargeld umzustellen, mit einer Stimme Mehrheit angenommen. Seitdem ist jedoch wenig passiert. Denn die Kreisverwaltung weigert sich, den nicht bindenden Beschluss umzusetzen. Und das obwohl selbst die Landesregierung den Kreisen eine Umstellung auf Bargeld empfohlen hat.

Einer Evaluation des Sachleistungsprinzips nach dem AsylbLG zufolge, die der Flüchtlingsrat Berlin 2010 veröffentlicht hat, kann das Grundrecht auf ein menschenwürdiges Existenzminimum mit dem bisherigen Prinzip nicht garantiert werden. Vor allem der Barbetrag für den persönlichen Bedarf sei zu niedrig. Die den Personen zustehenden Grundleistungen lägen bis zu 38 Prozent unter dem ALG-II-Satz. Wenn diese Grundleistungen in Wertgutscheinen ausgezahlt werden, ergäben sich zusätzliche Wertminderungen, etwa durch eine zu große Stückelung der Gutscheinbeträge, fehlende Restgeldrückgabe und dadurch, dass die Gutscheine nur in bestimmten Geschäften eingelöst werden können. Zudem werden die Gutscheine nach einigen Wochen ungültig. Oftmals werden sie deshalb an Privatpersonen günstiger weiterverkauft.
Bei der Auslegung des Gesetzes sind die Behörden in Oberhavel besonders restriktiv. In keinem anderen Landkreis werden Gutscheine an Flüchtlinge vergeben, die bereits länger als vier Jahre in Deutschland leben. In einem offenen Brief von Verdi an Landrat Karl-Heinz Schröter (SPD) heißt es: »Spätestens mit der Novellierung des Asylbewerberleistungsgesetzes ist es möglich, die Versorgung mit Geldleistungen zu gewährleisten und von dem sogenannten Sachleistungsprinzip abzusehen.« Aber wie die Märkische Allgemeine berichtet, konnte selbst Schröters Parteivorsitzender Sigmar Gabriel ihn in einem persönlichen Telefongespräch nicht von der Überzeugung abbringen, dass die Umstellung auf Bargeldzahlungen rechts­widrig sei.
Seit dem Beginn der Proteste in Oberhavel haben drei weitere Landkreise in Brandenburg das Gutscheinsystem zugunsten der Auszahlung von Bargeld abgeschafft. So entschied etwa Ende Oktober die Stadtversammlung in Cottbus, dass ab dem Januar 2012 nur noch Bargeld ausgezahlt werde. Damit verbleiben nur noch drei von 18 Kreisen in Brandenburg, die am Gutscheinsystem festhalten. Zu dem Umdenken in den betreffenden Kreisverwaltungen dürften die Proteste in Oberhavel beigetragen haben, so die Einschätzung des Aktivisten Tobias Becker von Uri. Er verweist darauf, dass fast alle Kirchen und die Gewerkschaften – neben den zahlreichen zivilgesellschaftlichen Initiativen – in den vergangenen Wochen für die protestierenden Flüchtlinge Partei ergriffen haben.

Während das französische Unternehmen »Sodexo Group«, das mit dem bundesweiten Vertrieb der Gutscheine beauftragt ist, an dem Gutscheinsystem verdient, bedeutet dieses für das zuständige Sozialamt in Oranienburg einen Verwaltungsmehraufwand und zusätzliche Kosten. Dennoch habe das Sozialamt einen gewissen Handlungsspielraum, versichert Nora B., eine Unterstützerin des Protests, das beweise die kürzliche Erhöhung des Bargeldanteils von 40,90 Euro auf 70 Euro. Die Weigerung der Kreisverwaltung, auf die Forderungen der Flüchtlinge einzugehen, dürfte somit vielmehr an einer rassistischen Grundhaltung liegen. Das legt zumindest die von ihr praktizierte Abschiebepolitik nahe, die in den vergangenen Wochen zu gleich zwei Selbstmordversuche führte.
So musste Hailong C., der vor zwölf Jahren nach Deutschland kam und seitdem im Lager Stolpe-Süd untergebracht ist, nach einem Suizidversuch in ein Krankenhaus eingeliefert werden. Ihm wurde vorgeworfen, er habe die ganze Zeit unter Angabe eines falschen Namens in Deutschland gelebt. Nach dem Willen der Behörden sollte er nach China abgeschoben werden. Ein anderer Mann, der nach Zypern abgeschoben werden sollte, befindet sich derzeit in psychiatrischer Behandlung. Diese Vorfälle beschäftigen die Heimbewohnerinnen und Bewohner und die sie unterstützenden Personen sehr, die betonen, dass die Gutscheine nur ein Problem unter vielen seien. Zur politisch gewollten Armut hinzu kommen die Angst vor Abschiebung, die Ungewissheit über die Duldungsdauer, eine eingeschränkte Bewegungsfreiheit und die Unterbringung in einer alten NVA-Kaserne.
Bereits Ende September hatte Uri bekannt gegeben, dass der Boykott unbefristet fortgesetzt werde, bis die Forderungen erfüllt seien. Derzeit verweigern noch vier Personen die Annahme der Gutscheine. Zu Beginn sei die Unterstützung für die Flüchtlinge noch relativ groß gewesen, erklärt Nora B. So gab es etwa größere Spendenaktionen von Cafés, doch mittlerweile verlaufe der Protest zäh und nervenaufreibend. Dennoch soll er im Dezember wieder ausgeweitet werden. In der Zwischenzeit erwartet man den für Mitte November angekündigten Erlass einer Verwaltungsvorschrift durch das brandenburgische Sozialministerium, die die Umsetzung des AsylbLG in den Kreisen regeln soll. Schröter hatte dies zur Bedingung dafür erklärt, von seiner bisherigen Auslegung des Gesetzes abzurücken.