Gérard Biard im Gespräch über die Zukunft von »Charlie Hebdo« 

»Wir sind keine Provokateure«

Die 1992 neugegründete französische Satirezeitschrift Charlie Hebdo ging ursprünglich aus dem Magazin Hara-Kiri hervor. Charlie Hebdo erscheint wöchentlich und hat eine Auflage von etwa 75 000 Exemplaren. Gérard Biard ist geschäftsführender Chefredakteur.

Wie beunruhigt sind Sie nach dem Angriff auf die Redaktion von Charlie Hebdo?
Wir sind keineswegs eingeschüchtert, sondern umso entschiedener weiterzumachen, und zwar in genau demselben Tonfall und mit denselben Inhalten. Das war eine Tat von Verrückten, wir wissen noch nicht, wer dahintersteckt, beziehungsweise, ob wirklich jemand dahintersteckt. Wir haben auf jeden Fall keine Angst. Das zeigt sich darin, dass die nächste Ausgabe der Zeitung am Mittwoch pünktlich erscheinen wird, dann wieder am Mittwoch darauf, und so weiter, jeden Mittwoch.
Sind Sie denn in Sorge um die Pressefreiheit, um die Meinungs- und Redefreiheit?
Nein, auch das nicht. Wir haben so viel Unterstützung erhalten, und zwar einstimmig, seitens der Presse, der Medien, der Politik. Hinzu kommt das Interesse der internationalen Medien an dieser Sache. Das ist alles recht beruhigend. Das bedeutet vor allem, dass die Pressefreiheit allgemein als unangreifbar angesehen wird. Wir werden derzeit sehr viel konsequenter unterstützt als während der Geschichte mit den Mohammed-Karikaturen 2005, als wir einige Zeichnungen der dänischen Zeitung Jyllands-Posten übernommen und der Thematik eine Sondernummer gewidmet haben. Wobei während des Karikaturenstreits alles innerhalb des gesetzlichen Rahmens verlaufen ist. Wir haben damals zwar auch Drohungen erhalten, wurden aber nicht physisch angegriffen. Dieses Mal fand ein Attentat statt, was die Sache natürlich völlig ändert.
Es ist nicht das erste Mal, dass gegen eine Zeitung ein Anschlag verübt worden ist. In vielen Ländern werden Journalisten tagtäglich verfolgt, Zeitungen angegriffen und Menschen verletzt. Weltweit versuchen derzeit die Religionen, sich ihren politischen Einfluss zurückzuerobern, den sie, zum Beispiel in Europa durch die Verbreitung demokratischer Systeme, nach und nach verloren haben. Unsere Aufgabe ist es, immer wieder klarzustellen, dass Religion in einer Demokratie nur Privatsache sein kann. Im öffentlichen Bereich darf es nur eine laizistische Gesetzgebung geben, die in keiner Weise irgendwelchen religiösen Verboten oder Geboten verpflichtet ist.
Wie sind Sie auf die Idee mit der Sharia-Ausgabe gekommen, die nun offenbar Anlass für den Brandanschlag war?
Die Ausgabe mit dem Titel »Charia Hebdo« war einfach eine Reaktion und keinesfalls eine Provokation. Wir sind keine Provokateure, sondern haben schlicht und einfach unsere Ansichten zur Tagespolitik veröffentlicht. Vor allem haben wir auf die Tatsache reagiert, dass die Führung des Nationalen Übergangsrates, kaum dass Gaddafis Leiche erstarrt war, eine neue, an der Sharia orientierte Verfassung für Libyen angekündigt hat. Und dass gleich darauf allerlei Kommentare zu hören waren, man solle nicht vorschnell Urteilen, Sharia bedeute nicht unbedingt, dass Hände abgehackt und Frauen gesteinigt würden. Daraufhin hatten wir die Idee, die ganze Ausgabe »Charia Hebdo« zu nennen und uns mal ein paar Beispiele für eine Sharia light auszumalen. Dem Propheten Mohammed den Titel des Chefredakteurs zu verleihen, haben wir uns bei Libération abgeguckt, wo recht oft Gastautoren zu Wort kommen und Persönlichkeiten aus den Bereichen Mode, Politik oder Philosophie als einmalige rédacteurs en chef fungieren.
Für Sie war der Anschlag also kein Zeichen dafür, dass es politisch oder gesellschaftlich eine neue Situation gibt?
Die Situation ändert sich wenig. Die Stimmung ist schon seit Jahren genau dieselbe, angefangen bei der Affäre um die »Satanischen Verse« von Salman Rushdie 1988, über die Geschichte mit den Mohammed-Karikaturen in Dänemark, bis zu der Sache jetzt, und ich fürchte, dass das nicht von heute auf morgen einfach aufhören wird. Es ist nicht so, dass die Welt sich plötzlich ändert, sondern sie rutscht, um es bildlich zu sagen, einfach langsam, aber beständig eine schiefe Ebene herunter. Uns geht es darum, sie nicht einfach rutschen zu lassen.
Gestern war in Libération eine Äußerung von Luz, einem Ihrer Zeichner, zu lesen, in der er sagt, dass der Angriff ein Hinweis darauf sei, dass Ihre Arbeit Wirkung zeigt. Wie einflussreich ist Charlie Hebdo?
Wir sind eine satirische Zeitschrift und in diesem Sinne bissig und angriffslustig. Wir definieren uns nicht nur als laizistisch, sondern atheistisch – und links natürlich. Es ist uns sozusagen in der DNA festgeschrieben, Religionen anzugreifen. Sämtliche Religionen natürlich. In der vorigen Ausgabe hatten wir auch einen Artikel über die katholischen Fundamentalisten. Wir haben schon so oft Karikaturen und Witze über katholische Fundamentalisten, Katholiken, den Papst veröffentlicht und keineswegs greifen wir den Islam in besonderer Weise an. Wir gehen jeder Religion ans Leder, sobald sie sich in die öffentlichen Lebensbereiche einzumischen gedenkt. Insofern haben wir sicher einen gewissen Einfluss. Wir werden zwar nicht von so vielen Menschen gelesen, wie wir es gerne hätten, aber wir gelten als fester Bestandteil der französischen Medienlandschaft sowie auch der intellektuellen und politischen Landschaft. Die Reaktionen auf das Attentat zeigen das in der Tat recht deutlich.
Im Hinblick auf diese Reaktionen schrieb Nicolas Demorand gestern in Libération aber auch von einer »widerlichen Funktionalisierung für eigene Zwecke« und meint damit, dass Rassisten den Brandanschlag für ihre Zwecke missbrauchen.
Natürlich. Zu unseren Unterstützern zählt der Front National. Ich kann nicht behaupten, dass uns das sonderlich erfreut. Andererseits ist das nicht überraschend, denn Marine Le Pen wird wohl schwerlich verlauten lassen können, wie sehr sie sich darüber freut, dass Charlie Hebdo endlich abgefackelt wurde. Sie tritt zur Wahl an und will auch am zweiten Wahlgang der Präsidentschaftswahlen teilnehmen, sie muss sagen, dass sie Charlie Hebdo unterstützt. Und sie muss sich als Laizistin darstellen. Aber als einige Tage zuvor katholische Fundamentalisten eine Aufführung eines Stückes über Jesus im Theater der Stadt Paris verhindert und Theatergäste tätlich angegriffen haben (siehe Dschungel-Seiten 6/7, Anm. d. Red.), hat man kein Sterbenswörtchen von Marine Le Pen zum Thema Laizismus vernommen. Marine Le Pen fängt an, von Laizismus zu reden, sobald es um Muslime geht. Das ist natürlich eine Funktionalisierung für eigene Zwecke.
Was hingegen die Unterstützung durch Persönlichkeiten wie zum Beispiel Claude Guéant angeht, ist das eine andere Sache. Guéant ist Innen- und Kultusminister und hat ganz einfach seine Aufgabe wahrgenommen, indem er Charlie Hebdo seine Unterstützung zugesichert hat. Da kann man nichts sagen. Wenn er einmal überraschenderweise korrekt seinen Job macht, werden wir ihm nicht dafür an den Karren fahren. Was nicht bedeutet, dass wir ihm nicht eine Minute später wieder auf die Mütze geben. Dass wir von seiner Politik nicht gerade überzeugt sind, das weiß er sehr gut.
Und gab es Reaktionen seitens des »Conseil Français du Culte Musulman« und der Pariser Moschee?
Uns wurde von Dalil Boubakeur, dem Direktor der Pariser Moschee, bedingungslose Unterstützung versichert. Vielleicht will er ja einfach nicht schon wieder einen Prozess gegen uns verlieren, jedenfalls hat er uns seine volle Unterstützung zugesichert und uns allen Ernstes angeboten, falls wir keine Räumlichkeiten finden, vorübergehend in der Pariser Moschee zu arbeiten. Das ist beruhigend. Und bedeutet, dass die islamische Religion natürlich, genauso wie die katholische oder die jüdische, absolut fähig ist, sich zu säkularisieren und in ein demokratisches System zu fügen. Aber das ist ja eigentlich allen klar.
Halten Sie es denn für möglich, dass sich herausstellen könnte, dass das doch ein katholischer Molotow-Cocktail war?
Auszuschließen ist das nicht. Es ist ja schon einmal vorgekommen, als im Oktober 1988 katholische Faschos in Paris ein Kino in Brand gesetzt haben, wo Martin Scorseses Film »Die letzte Versuchung Christi« gezeigt wurde.
Wie geht es jetzt weiter mit Ihrer Redaktion?
Erstmal müssen die Versicherungen und die Polizei ihren jeweiligen Aufgaben nachgehen. Für den Übergang suchen wir dringend nach Räumlichkeiten. Momentan arbeiten wir im Hauptsitz von Libération, was natürlich großartig ist und wofür wir wirklich dankbar sind. Aber dort können wir nicht lange bleiben. Ab nächster Woche brauchen wir neue Büroräume, um die Arbeit unter normalen Bedingungen aufnehmen zu können.
Gab und gibt es denn irgendwelche konkreten Solidaritätsaktionen außer dem schon erwähnten Zuspruch von allen Seiten?
Derzeit bekommen wir haufenweise Schecks, können diese aber leider nicht einlösen, weil wir als Presse-GmbH nicht befugt sind, Spenden anzunehmen. Dazu müssten wir einen Verein gründen, haben aber momentan anderes zu tun. Also sagen wir den Leuten, dass die einzige Möglichkeit, uns zu unterstützen, darin besteht, die Zeitschrift zu abonnieren.
Derzeit sind Sie ja in den Medien sehr präsent, möglicherweise stärker denn je. Stört es Sie, dort hauptsächlich als Provokateur bezeichnet zu werden? Im deutschen Spiegel nennt man Sie und Ihre Kollegen »Berufsprovokateure«.
Es wird viel geredet, das stimmt. Und was wir unter anderem zu hören bekommen, ist: »Ihr habt das aber auch ein bisschen provoziert.« Aber: Nein! Wir haben nichts provoziert. Wir tun einfach unseren Job. Warum werden immer dieselben Leute als Provokateure bezeichnet? Warum nicht zum Beispiel der libysche Übergangsrat? Provoziert der etwa nicht, wenn er direkt im Anschluss an eine Revolution eine an der Sharia orientierte Verfassung ankündigt? Warum spricht niemand von Provokation, wenn im Namen einer Religion Zeitungen verboten, Menschen getötet, Frauen gesteinigt werden? Provokation wird immer nur auf Seiten der Demokratie angesiedelt, auf Seiten der Demokraten, auf Seiten der Verfechter der Pressefreiheit, der Freidenker, und nie auf Seiten der Dreckskerle und Diktatoren.
Wird das ein Thema sein für Charlie Hebdo in nächster Zeit?
Ich denke, ja. Ich habe jedenfalls große Lust dazu.