Kriminalisierung von Obdachlosigkeit in Ungarn

Zu arm für Rechte

In Ungarn ist Obdachlosigkeit per Gesetz zur Ordnungswidrigkeit erklärt worden. Die Kriminalisierung von Armut ist eine der repressiven Maßnahmen der regierenden Rechtspopulisten, durch die sich nicht zuletzt Budapest stark verändert.

Wer auf der Straße schläft, wird verwarnt. Wird dieselbe Person innerhalb eines halben Jahres noch einmal aufgegriffen, droht eine Strafe von 490 Euro. Seit dem 1. Dezember gilt Obdachlosigkeit in Ungarn als Ordnungswidrigkeit. Ungarische Arbeiterinnen und Arbeiter verdienen nach Angaben des Zentralamts für Statistik im Monat etwa 320 Euro netto. Die Begleichung der Strafe ist somit für die Wohnungslosen unmöglich, was folgt ist die Ersatzhaft. Zudem verbietet das Gesetz das »Containern«, die Suche nach Verwertbarem in Mülleimern und Mülltonnen.
Diese neue Ordnungspolitik geht auf das christlich-konservative Wahlbündnis der Parteien Fidesz und KDNP zurück, das in Budapest nicht nur durch den der Fidesz nahestehenden Oberbürgermeister István Tarlós vertreten ist, sondern auch 19 von 23 Bezirksbürgermeistern stellt. Unter ihnen ist Máté Kocsis, der im achten Bezirk regiert und dort schon im März die Maßnahmen beschlossen hatte, die nun im gesamten Land gelten. Die Regierung hatte ihn ­beauftragt, das neue, landesweite ordnungspolitische Konzept zu erarbeiten. Seine rigide Stadtteilpolitik übertrug sie nun schlicht auf ganz Ungarn.

Eine spezielle Polizeieinheit setzt die Vorgaben durch. Liberale ungarische Medien veröffentlichen Fotos, auf denen zu sehen ist, wie alte Obdachlose samt klapprigem Rollator oder Krücke von der Polizei abgeführt werden. Sie kommen in Kurzzeitarrest. Aktivistinnen und Aktivisten der stadtpolitischen Gruppe »Die Stadt ist für alle« gehen allein für diesen Oktober von Hunderten solcher Vorfälle im achten Bezirk aus. Obdachlosigkeit und »Containern« gehören zum Alltag in Budapest. Durch die Sparmaßnahmen, die das hohe Staatsdefizit reduzieren sollen, haben sich die Lebensbedingungen rapide verschlechtert.
Die Gruppe schätzt die Zahl der Obdachlosen in Budapest auf mindestens 8 000 Personen, für höchstens 4 500 von ihnen gebe es derzeit Übernachtungsmöglichkeiten. Auch für die Unterkünfte gelten neue Maßgaben. In zwei von drei neu geschaffenen Einrichtungen sei rund um die Uhr die Polizei präsent, sagt Mariann Dosa von »Die Stadt ist für alle« der Jungle World. Die Zuständigkeit für die Wohnungslosen scheint sich zu verändern. Dem Innenministerium komme eine immer größere Bedeutung zu, so ist es nun für die Einrichtung der neuen Unterkünfte zuständig. Die Initiative »Neuer Ansatz«, in der sich kritische Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter organisieren, zitiert Bezirksbürgermeister Kocsis: »Es gibt keine Obdachlosenfrage. Es sind nur polizeiliche Fragen. Wenn wir die Obdachlosen nicht verdrängen, verdrängen sie die Bürger aus dem achten Bezirk.« Diese Politik löst Protest aus. Zu Demonstrationen und Aktionen gegen die Umstrukturierung kamen bis zu 1 000 Menschen, darunter Obdachlose und Mitglieder kri­tischer politischer Gruppen. Eine ihrer zentralen Forderungen lautet: »Die Regierung muss Armut bekämpfen, nicht die Armen.«

Nicht nur das Leben auf der Straße wird kriminalisiert, sondern auch der Protest, der sich gegen diese rechtspopulistische Ordnungspolitik richtet. Der Sozialarbeiter Norbert Ferencz von »Neuer Ansatz« wurde am 3. November zu drei Jahren Haft auf Bewährung verurteilt, weil er mit anderen zu einer Kundgebung aufgerufen hatte, bei der mehrere Teilnehmerinnen und Teilnehmer demonstrativ in der Öffentlichkeit »containert« haben. Das Pester Bezirksgericht stufte den Aufruf als Landfriedensbruch ein. Ferencz und seine Gruppe wollen auf die Situation von Ausgeschlossenen aufmerksam machen und Strategien entwickeln, um etwa mit dem Thema Wohnungslosigkeit umzugehen. Berufsverbände von Sozial­arbeiterinnen und Sozialarbeitern aus ganz Europa waren schockiert von der Repression gegen ihren ungarischen Kollegen. So fordert der Deutsche Berufsverband für Soziale Arbeit (DBSH) »die internationale Ächtung der ungarischen Verwaltungs- und Strafrechtsgesetzgebung«.

Die neue Verordnung sei der Gipfel der Repression gegen arme Menschen, so der DBSH. Schon im Winter des vergangenen Jahres vertrieb die Polizei Obdachlose aus Unterführungen und Metro-Eingängen. Es war eine der ersten Anordnungen des seit Herbst 2010 regierenden Oberbürgermeisters Tarlós. Begründet wurden die Maßnahmen mit dem Streben nach Ordnung und Sauberkeit. Zuvor konnten sich die Wohnungslosen etwa über den warmen Lüftungsschächten der Metro einrichten, dies genoss im europäischen Vergleich sogar große Akzeptanz.
Gerade der achte Bezirk, in dem Kocsis regiert, ist von starken Aufwertungstendenzen geprägt. Teile nicht sanierter Wohnviertel wurden vor Jahren abgerissen und wichen dem Komplex Corvin Sétány mit seinen Shoppingcentern und Bürogebäuden. Die dort ebenfalls neu geschaffenen Eigentumswohnungen überstiegen in ihrem Marktwert bei weitem die Entschädigungszahlungen, die die ehemaligen, langjährigen Anwohnerinnen und Anwohner, darunter vor allem Roma, für ihren Wegzug erhalten hatten.
Tarlós, der jüngst international Schlagzeilen machte, weil er den prominenten Antisemiten István Csurka zum Intendanten des »Neuen Theaters« ernannt hatte (Jungle World 49/11), verändert mit seiner Politik Budapest. Im siebten Bezirk musste das alternative Kultur- und Politikzentrum Tűzraktér mit rund 370 assoziierten Künstlerinnen und Künstlern dieses Jahr seine Arbeit einstellen, im 14. Bezirk sind alle Straßenschilder auch in altungarischen Székler-Runen ausgewiesen, die bei Nationalisten beliebt sind. Der Rechtspopulismus der Fidesz manifestiert sich im alltäglichen Leben, etwa in der Umbenennung von Straßen und Plätzen und der Umgestaltung von Denkmälern. Als Tarlós noch den Budapester Stadtteil Obuda regierte, wollte er das jährliche Musik- und Kulturfestival »Sziget«, das jährlich etwa 400 000 Besucherinnen und Besucher anzieht, wegen des LGBT-Programmteils verbieten. Die Wohnungslosen sind nicht die einzigen, die nicht geduldet werden sollen.