Eine Ausstellung der Fotografien von Jerry Berndt in Hamburg

Die Welt ist schön

Eine Hamburger Ausstellung präsentiert Fotografien von Jerry Berndt, die die Schattenseiten Amerikas zeigen.

Was auf einer Fotografie wie dargestellt werden kann, ihr ikonologischer wie ikonographischer Gehalt, war mit Beginn der siebziger Jahre weitestgehend definiert, unser Vorrat an Imaginationen und Illustrationen hat sich seither kaum wesentlich geändert. Zudem wurde die Fotografie durch optisch-mechanische Vereinfachungen und Verbesserungen der Apparatur zu einer Alltagstechnik, mit der die Menschen selbstverständlich und vertraut hantieren.
Das hat aber auch mit den sozialen Verhältnissen selbst zu tun und der Art und Weise, wie sie sich in spezifischen Konfigurationen des Alltagslebens dem Kameraobjektiv darbieten – sei es in der Dokumentaraufnahme des öffentlichen Bildes (mit der »Öffentlichkeit« selbst fotografisch neu definiert wird), sei es in der Amateuraufnahme des privaten Bildes (mit dem ebenso das »Private« fotografisch neu definiert wird).
Die Fotografie wird geradezu als Erkenntnistechnik des demokratischen Zeitalters verstanden, weil sie vorgeblich unmittelbar die Wahrheit abbildet; doch diese Unmittelbarkeit ist die Ideologie, die sich gleichzeitig mit ihr herausbildet. Diese trügerische Positivität ist allerdings zugleich ihrer schöpferischen Kraft geschuldet, die über die reine Abbildung von Wirklichkeit hinausweist. Schon die frühen Theorien zur Fotografie haben das registriert.
So bemerkte Siegfried Kracauer bereits Ende der Zwanziger lapidar: »Die Wirklichkeit ist eine Konstruktion.« Im Verlauf des letzten Jahrhunderts haben sich jedoch »Konstruktion« und das, was Brecht das »Gestellte« nennt, grundlegend verwandelt: Gerade durch die visuelle Ausrichtung dessen, was wir »Wirklichkeit« nennen, erscheint eben diese alles andere als konstruiert, alles andere als in die Funktionale gerutscht. Mit anderen Worten: Das fotografische Bild ist, gerade durch seinen inszenatorischen Spielraum, glaubwürdiger als Zeichnung oder Schrift. Und mehr noch: Das Foto setzt durch diesen techno-ideologischen Charakter in optischer Hinsicht die Glaubwürdigkeit höher als das Wissen. Man sagt etwa: »Ich glaube nur, was ich mit eigenen Augen gesehen habe.« Mit eigenen Augen sieht man aber konstruierte Bilder, gestellte Aufnahmen.
Überdies kann die Geschichte der Fotografie nicht auf die technische Apparatur der Kamera beschränkt werden. Auch Fotografieren ist ein soziales Verhältnis, und dazu gehört, was die Fotografie angeht, vor allem ihre Entwicklung innerhalb und mit der bürgerlichen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts. Mit der Etablierung der neuen industriellen Produktionsweise des Kapitalismus ist die Fotografie auf vielfältige Weise verzahnt, nicht nur in den standardisierten mechanischen Prozessen als Bildmaschine, sondern auch in der mit ihr einhergehenden Konfiguration einer zunehmend aufs Visuelle sich konzentrierenden Sinnlichkeit. So bekommt sie auch ihre politische Funktion, in der sie zugleich das Politische als solches prägt. Wesentlich ist hierbei ihre journalistische Aufgabe, die Modernität im Bild festzuhalten und damit überhaupt zu definieren, was modern, was schließlich Mode, was Zeitgeist als Zeitbild ist.
Plausibel ist das an der These nachzuzeichnen, dass mit der Entwicklung des Nachrichten- und Zeitungswesens im 19. Jahrhundert die Textproduktion eben durch die Nachrichten der – seinerzeit ja zum Teil vier-, fünfmal täglich erscheinenden – Zeitungen sich ungemein beschleunigte, und damit auch das bürgerliche Denken einer Geschwindigkeit unterworfen wurde, der allein durch die Sprache kaum zu folgen war. Dem steuerte alsbald die Fotografie entgegen, die mit ihren Bildern, den Momentaufnahmen und Inszenierungen stillgestellter Zeit, zwar gemeinhin als Beschleunigungsfaktor gedeutet wird, tatsächlich aber die Moderne entschleunigte. Bild und Schrift kommen so durch die dokumentarisch-journalistische Funktion der Fotografie zusammen, und so formiert sich mit der Fotografie die spezifische Ikonographie des Zeitalters. Gleichzeitig gewinnt die Fotografie auch an Bedeutung durch eine Überaffirmation des Inszenierens von Wirklichkeit in der Werbung. In den Nachrichtenmagazinen und Illustrierten erscheinen die Reklamebilder gleichsam als Kommentare zu den Berichten.
Solche Bildkonstellationen prägen die allgemeinen Vorstellungen von den gesellschaftlichen Zusammenhängen ebenso wie die Gesellschaft selbst. Die Kunstfotografie entwickelte sich dazu als ästhetischer Kontrast, nicht ohne immer wieder auch sowohl in die Bereiche des Journalismus als auch der Reklame hineinzuragen. Hier setzen die Fotografien von Jerry Berndt an, die in der Ausstellung »Protest, Politik und Alltagskultur in den USA zwischen 1967–1977« im Hamburger Amerikazentrum zu sehen sind.
Ihr Kurator Maik Schlüter verweist auf »deutliche Bezüge zu Fotografien von Lee Friedländer, Stephen Shore, Ed Ruscha oder, in einem weiteren historischen Bogen, zu Walker Evans bis hin zu Eugène Atget«, betont aber gleichwohl, dass »für Jerry Berndt hier weniger das konzeptuelle oder typologisierende Moment im Vordergrund steht als vielmehr ein psychologischer Ausnahmezustand und eine spezifische, symbolische Stimmung der Nacht«. Das korrespondiert mit den sozialen Verhältnissen, die Berndts Bilder einfangen, also mit dem politischen Ausnahmezustand und seinem unheilvollen gesellschaftlichen Ausdruck. Wenn Gisèle Freund Anfang der Siebziger schreibt, dass die Fotografie »weit mehr als jedes andere Reproduktionsmittel … dazu geeignet (ist), die Wünsche und Bedürfnisse der herrschenden Klassen zum Ausdruck zu bringen und das soziale Geschehen aus ihrer Sicht zu interpretieren«, dann gehört Berndt zu jenen Fotografen, die dieses Geschehen in eine andere Perspektive rücken, nämlich in eine, die den Wünschen und Bedürfnissen der Beherrschten entspricht.
Der 1943 geborene Berndt gehört zu einer Generation von Künstlern, die ihr Handwerk noch nicht unbedingt in einer akademischen Ausbildung gelernt haben. Bei ihm ist es vor allem auch der Familienhintergrund – Berndt kommt aus proletarischen Verhältnissen –, der einen interessanten Berufsumweg mitbedingte: Berndt ließ sich in Boston an der Universität einschreiben, arbeitete auch als Fotograf und kam so zum Fotografieren. Er war radikaler Pazifist, hatte freundschaftlichen Kontakt zu Paul Goodman, dessen Buch »Growing up absurd« (1956) in den sechziger Jahren zur linksstudentischen Pflichtlektüre wurde. Berndt war in der antimilitaristischen Bewegung aktiv, half Kriegsdienstverweigerern und Deserteuren. Im Schatten des Krieges, den die USA in Vietnam führten, formierte sich der Protest, der sich zur grundsätzlichen Kritik an der kapitalistischen Gesellschaft ausweitete.
Rassismus, Sexismus und Autoritarismus sind die Themen von Berndts Fotografien, wobei seine Bilder jede Unmittelbarkeit als Schein entlarven – ihm geht es um die Beiläufigkeit, mit der sich allgemeine gesellschaftliche Gewaltverhältnisse als Normalität des individuellen Alltagslebens verdinglichen. Unvermittelt erscheint in den Bildern die Gesellschaft; die Subjekte fängt Berndt als atomisierte ein, als isolierte Individuen, deren Antlitz letztendlich verrät, dass der Begriff von Gesellschaft, auf den der Kapitalismus vertrauen zu können vorgibt, nicht mehr zu halten ist.
Insofern erweitert Berndt die Kriegsfotografie um Bilder eines Friedens, der eben keiner ist. Wenn man so will, zeigt Berndt Momentaufnahmen einer Zivilgesellschaft, deren Frieden Zigtausende von an diesem Frieden unbeteiligten Soldaten das Leben kostet.
Nichtsdestoweniger präsentieren Berndts Fotos keine Geheimnisse, keine Wahrheiten, die etwa offiziell verheimlicht würden. Seine Bilder sind nicht mit den grausamen Bildern zu verwechseln, die gerade wegen ihrer bis in die Bildform eingedrungenen Grausamkeiten die jüngere Weltgeschichte illustrieren (Huynh Cong Úts Foto des mit Napalmverbrennungen nackt fliehenden Mädchens Phan Thi Kim Phúc von 1972 oder Eddie Adams’ Aufnahme, die einen verzweifelt flehenden Vietcong zeigt, den ein G.I. mit auf die Schläfe gesetzter Pistole auf offener Straße exekutiert, sind wohl die brutal-berühmtesten); gleichwohl sind Berndts Fotos aber nur im Kontext solcher Fotografien zu verstehen.
29 Bilder sind in der Ausstellung zu sehen. Am Anfang hängt etwa das Foto einer Frau, die über einen Parkplatz geht. Ein Auto, ein grauer Himmel, ein teurer Mantel, Boston 1975. Die Banalität des Banalen, der Reichtum einer prosperierenden Konsumgesellschaft, die plötzlich Zerfallserscheinungen zeigt. Es sind trostlose Bilder, auf denen allenthalben die Erinnerung an eine gute alte Zeit eingefangen scheint, samt der Gewissheit, dass es diese Zeit niemals gegeben hat. Eine proletarische Kleinfamilie, gruppiert am Gartenhaus vor einem Einfamilienhaus, daneben ein Schild: »Henry Ford – Birthplace – Greenfield Village.«
Die Proteste, die Berndt fotografiert hat, haben – wie die Zustände, gegen die sie sich wenden – viele Facetten, gehen in viele Richtungen und keineswegs nur nach vorn. Die Fotografien verraten einiges von der Spannung zwischen Konterrevolution und Revolte, in der die wirkliche Bewegung der Revolution nur der Momentaufnahme des vorbeihuschenden Augenblicks vorbehalten bleibt. Detroit 1971, eine Szene eines Straßenumzugs; ein riesiger Pappadler, »America’s Symbol of Freedom«. Detroit 1972, eine Demonstration strammstehender Christen: »Victory over Communism«; ein Bild weiter eine andere Demonstrationsszene, Boston 1973: »U.S. out of North-America«. Die eine Fotografie verwandelt die andere in eine Groteske, fügt die Wirklichkeit zu einem Mosaik zusammen, zu einer ironischen Montage, die schlussendlich aber alles andere als ironisch ist.
Auf der letzten der 29 ausgestellten Fotografien dominieren dunkle Graustufen; auf einer beinahe schwarzen Hauswand ist ein Spruch gesprüht: »The war is over«. Im Schutz einer kleinen Einbuchtung sitzt ein Obdachloser, der ein wenig ängstlich in das Objektiv der Kamera blickt. In der Fotografie wird er, der wie ein Schattengespenst aus der trostlosen Mauer hervorkommt, zum lebenden Beweis der Lüge, die das Bild als Wahrheit einfängt: Der Krieg ist eben nicht vorbei, er hat vielmehr seine Schlachtfelder erweitert und längst den trügerischen Frieden das Alltags erreicht.
Berndts Fotografien illustrieren nicht einfach die siebziger Jahre, sondern sind Ausdruck dieser Zeit, Zeitbilder im Sinne von Zeitgeist, Momentaufnahmen einer geschichtlichen Epoche, die gerade durch solche Fotografien ins kollektive Gedächtnis eingegangen ist. Mithin sind Berndts Bilder Erinnerungen, und zwar Erinnerungen an eine Vergangenheit, bei der von Foto zu Foto deutlicher wird, dass diese Vergangenheit noch gar nicht vergangen ist. Sie behalten ihre Aktualität in der fotografisch konstruierten Realität, deren ideologischen Schleier sie zugleich zerreißen.

Jerry Berndt: Old Mole – Protest, Politik und Alltagskultur in den USA zwischen 1967–1977. Bis 17. Februar im Amerikazentrum Hamburg