Frankreichs Regierung versucht, sozial zu sparen

Ohne sozialen Mehrwert

Vor den Parlaments- und Präsidentschaftswahlen in Frankreich will sich die konservativ-wirtschaftsliberale Regierung durch die Einberufung eines »Sozialgipfels« pro­filieren. Die vorgestellten Maßnahmen beurteilen Kritiker allerdings als unsozial.

Nicolas Sarkozy ist ein Freund aufwendig inszenierter Gipfeltreffen und Veranstaltungen, deren Ausgang nicht immer dem entspricht, was vorher angekündigt wurde. Am Mittwoch vergangener Woche lud der französische Präsident Gewerkschaften, Unternehmervertreter und Repräsentanten der Regierung zum »Sozialgipfel« in den Elysée-Palast. Bis zum ersten Durchgang der nächsten Präsidentschaftswahl waren es nur noch knapp 100 Tage, für Sarkozy höchste Zeit, sich als sozialer Wohltäter zu profilieren, nachdem er bereits vier Jahre hatte verstreichen lassen. Er war einigermaßen nervös, denn vor dem Treffen zeichnete sich ab, dass keiner der größeren Gewerkschaftsdachverbände seine Wiederwahl wünscht. Vielmehr hoffen deren Spitzen mehrheitlich auf eine Amtsübernahme durch den rechten Sozialdemokraten François Hollande.
»Unpopuläre« Ankündigungen neuer Kürzungen im Sozialbereich oder Kontroversen konnte Sarkozy bei dem Gipfel daher nicht gebrauchen. So beschränkte er sich bei den Diskussionen auf das ›Konsensfähige‹. Rund 430 Millionen Euro sollen im Rahmen eines »Sofortprogramms« für soziale Belange ausgegeben werden, vor allem für Lohnabhängige, deren Arbeitsplätze ›bedroht‹ sind, und für Arbeitslose. Am Vortag hatten Arbeitslosenaktivisten einige Niederlassungen des Pôle emploi, der französischen Arbeitsagentur, besetzt. Allerdings kündigte Sarkozy gleichzeitig an, es dürfe sich »wegen der Haushaltslage« nicht um neue Ausgaben handeln, sondern nur um eine Umschichtung vorhandener Mittel. Wo diese gestrichen werden sollen, blieb bislang offen.

Etwa 140 dieser 430 Millionen Euro sind für die Finanzierung von Kurzarbeit vorgesehen. Eine vorübergehende drastische Reduktion der Arbeitszeit, bei Ersetzung eines Teils des Einkommens, soll Lohnabhängigen »ihren Arbeitsplatz erhalten«. Die dafür vorgesehene Summe ist verglichen mit den 600 Millionen Euro, die Frankreich im Krisenjahr 2009 für denselben Zweck ausgegeben hatte, eher kümmerlich – in Deutschland wurden hierfür sogar sechs Milliarden Euro zur Verfügung gestellt. Ferner sollen 150 Millionen Euro dazu dienen, dass alle seit über zwei Jahren arbeitslosen Menschen »entweder einen Arbeitsplatz oder eine Aus- oder Fortbildung angeboten bekommen«. Dasselbe Versprechen hatte Sarkozy bereits Anfang 2011 gegeben.
Laute Proteste der Gewerkschaftsführer am Ausgang des Elysée-Palasts fanden nicht statt, da die bekanntgegebenen Entscheidungen in ihren Augen keine besonderen Skandale darstellten. Befragt worden waren sie zu den Beschlüssen allerdings ebenso wenig. Die kontroversesten sozial- und wirtschaftspolitischen Entscheidungen stehen freilich noch aus. Sarkozy hatte solche Themen sorgsam bei den Diskussionen auf dem »Sozialgipfel« ausgespart, um einen Eklat zu vermeiden.
Bis Ende Februar, wenn die Legislaturperiode des amtierenden Parlaments endet, sollen jedoch zwei große Vorhaben noch im Schnellverfahren entschieden werden. In seiner diesjährigen Neujahrsansprache hatte Sarkozy die TVA sociale, die sogenannte soziale Mehrwertsteuer, wieder zum Thema gemacht. Schon einmal, bei der Parlamentswahl im Juni 2007, hatte die konservativ-wirtschaftsliberale Regierung eine solchen Vorstoß gewagt. Unpassenderweise hatte der damalige Wirtschaftsminister Jean-Louis Borloo  – statt bis nach den Wahlen zu warten – das Projekt zwischen beiden Wahlgängen angekündigt. Die Unpopularität der »sozialen Mehrwertsteuer« hat damals vermutlich rund 60 Kandidatinnen und Kandidaten der Regierungspartei UMP um ihr Mandat gebracht.

Bei der TVA sociale geht es um den Transfer von sogenannten Lohnnebenkosten. Die Finanzierung der Sozialversicherungssysteme soll auf die Mehrwertsteuer umgewälzt werden. Ein Traum für jeden Kapitaleigentümer: Die Kosten werden vergesellschaftet, während die Gewinne privat bleiben. Da die Mehrwertsteuer – anders als Sozialabgaben von Unternehmen und abhängig Beschäftigten oder die Einkommenssteuer – in keinerlei proportionalem Verhältnis zu den Einkünften steht, ist diese Art der Umverteilung höchst unsozial. Alle Konsumentinnen und Konsumenten zahlen für dasselbe Produkt dieselbe Verbrauchssteuer. Am Einkommen gemessen geben Geringverdienende, die nur eine sehr geringe Sparquote aufweisen, dabei viel mehr von ihrem Monatslohn für die Mehrwertsteuer aus als Bezieherinnen und Bezieher hoher Einkünfte. Schon jetzt ist die französische Mehrwertsteuer mit 19,6 Prozent im EU-Vergleich relativ hoch.
Um die Maßnahme dennoch als »sozial« darzustellen, wird protektionistisch argumentiert: Die französischen Unternehmen würden von der Senkung ihrer Sozialabgaben profitieren und in der Folge ihre Verbraucherpreise senken. Dadurch könnten sie wiederum Marktanteile gegenüber Importprodukten zurückgewinnen. Dass dies, abgesehen von einzelnen Waren, so niemals funk­tionieren wird, liegt auf der Hand. Selbst bei einer Erhöhung der Mehrwertsteuer um zwei oder auch vier Prozentpunkte wären etwa bestimmte aus China importierte Produkte noch immer erheblich billiger als in Frankreich produzierte. Umgekehrt wird sich bei den ›französischen‹ Produkten keineswegs automatisch eine Preissenkung einstellen, denn die ›Lohnnebenkosten‹ stellen nur eine von mehreren Variablen der Preiskalkulation dar. Ferner könnte eine Erhöhung der Verbrauchssteuern den Konsum in Krisenzeiten weiter drosseln.

Die Details der geplanten Maßnahme wird Sarkozy voraussichtlich Ende Januar verkünden. Nachdem Sarkozy in vielen Umfragen vor der Präsidentschaftswahl nur noch anderthalb Prozentpunkte vor der rechtsextremen Konkurrentin Marine Le Pen liegt, muss er auch in letzter Minute noch »Handlungswillen« beweisen. Strittig innerhalb der Regierung ist derzeit, ob nur der Arbeitgeberanteil der Sozialabgaben oder auch derjenige der Lohnabhängigen auf die Mehrwertsteuer umgelegt werden soll. Im ersten Falle läge die Erhöhung der Verbrauchssteuer bei etwa zwei, im zweiten bei vier oder fünf Prozent.
Derzeit scheint die »kleinere« Lösung bevorzugt zu werden. Die Gewerkschaften, die sozialdemokratische und die linke Opposition protestieren bereits gegen dieses Vorhaben. Doch auch Le Pen opponiert und bezeichnete die geplante Mehrwertsteuererhöhung bereits als »Steuer für das Kapital«. Dabei vergaß sie, dass ihre eigene Partei in den achtziger Jahren eine geplante Umwälzung der »Nebenkosten« des Arbeitgeberanteils auf die Mehrwertsteuer und dadurch deren Verdoppelung in ihr Programm aufgenommen hatte.
Die Stichwahl für das Präsidentenamt findet am 6. Mai statt, die Nationalversammlung wird Mitte Juni neu gewählt. Bis dahin nicht durchkommen wird die Regierung wohl mit ihrem zweiten großen Vorhaben, das Sarkozy derzeit in den Mittelpunkt rückt. Den Unternehmen soll mehr »Flexibilität« gewährt werden. »Flexible« Tarif­abkommen oder Betriebsvereinbarungen sollen in Zeiten schlechter Auftragslage eine Erhöhung der wöchentlichen Regelarbeitszeit, aber auch eine Senkung des vereinbarten Lohns erlauben. Der Unternehmerverband MEDEF ist begeistert. Eine solche »Reform« dürfte jedoch auf noch beträchtlich stärkeren Widerstand stoßen als andere Pläne. Sollte die derzeitige Regierung jedoch die Wahl erneut gewinnen, wird sie an ihren Plänen sicher festhalten.