Das Buch »Debt. The First 5 000 Years« von David Graeber

Am Anfang war die Moral

Die Schuldenökonomie stürzt immer mehr Menschen in die Armut. Jede Theorie der Befreiung müsse von der moralischen Natur von Schulden ausgehen, sagt der Anthropologe David Graeber.

»Löscht alle Schulden, und verteilt das Land neu!« Wer in den achtziger und neunziger Jahren Geschichte studiert hat, dem mag dieses Zitat noch in Erinnerung sein. Es stammt aus einem längst vergriffenen und nicht wieder aufgelegten schmalen Buch des marxistischen Historikers Moses Finley. In seiner Skizze über »Die antike Wirtschaft« umreißt Finley das immer wiederkehrende Programm aller antiken Revolten und Revolutionen.

Von einem ähnlichen Konzept geht auch David Graeber aus. Der Anthropologe an der Londoner Goldsmiths University ist der Autor von »Debt. The First 5 000 Years«, einer breit rezipierten Studie über die Geschichte der Verschuldung. Graeber vertritt darin folgende These: Was vor zwei- bis dreitausend Jahren in Mesopotamien oder Ägypten, in der griechischen Polis oder im römischen Imperium galt, könne sich heute als überraschend aktuell erweisen. »Wie bei den meisten Aufständen, Revolten, politischen Massenmobilisierungen in der Geschichte der Menschheit geht es heute auch um Schulden«, schreibt Graeber. Im Zuge der Schuldenkrise sei es für alle sichtbar geworden, wie Banken und Staaten ihre Schulden nicht zurückzahlen müssten, während das Begleichen von privaten Schulden als Selbstverständlichkeit gelte. Doch damit nicht genug. Die Rückzahlung von Schulden dürfe mit aller zur Verfügung stehenden privaten und öffentlichen Gewalt gefordert werden. Aus diesem Grund, schreibt Graeber, könne der Ausgangspunkt sozialer Veränderung eigentlich nur mit der Einsicht beginnen, dass Verschuldung nichts anderes als die »Perversion eines Versprechens« sei: »Man muss sich verschulden, um ein Leben zu leben, das mehr als bloßes Überleben ist«, so Graeber, und am Ende werde dieses »mehr« doch fast allen verwehrt.
Ein Beispiel für dieses nicht einlösbare Glücksversprechen seien die Hunderttausenden leerstehenden Häuser in den USA, die von Sicherheitsdiensten und der Polizei bewacht werden, um die ehemaligen Bewohnerinnen und Bewohner, die die Hypotheken nicht bezahlen konnten und teilweise obdachlos geworden sind, daran zu hindern, wieder einzuziehen.
Graebers Werk kann als radikaler Abgesang auf die Ära nach dem Ende des Bretton-Woods-Systems betrachtet werden. Diese begann mit der Aufhebung der Goldpreisbindung, die nicht nur die massenhafte Schaffung neuer Schuldtitel zur Folge hatte, sondern auch den Umstand, dass der Lebensstandard der Mittelklassen in den alten Metropolen der Weltwirtschaft immer mehr über Schulden aufrechterhalten wurde, während die Reallöhne oder die staatlichen Transferleistungen kontinuierlich sanken.
Für den selbsternannten Anarchisten Graeber steht die Verschuldung nicht am Ende der Klassengesellschaft und der monetären Wertausdrücke. In expliziter Absetzung von den Theorien der klassischen politischen Ökonomie, vor allem aber von Adam Smiths Annahme, dass sich der Geldverkehr aus dem Tauschhandel entwickelt habe, stellt Graeber die Schulden an den Anfang »menschlicher Ökonomien«, aus denen sich sukzessive »kommerzielle Ökonomien« entwickelt hätten. Nicht mehr der Austausch dringend benötigter Gebrauchswerte habe den Austausch zwischen Mitgliedern einer Gesellschaft bestimmt, sondern der in Geld berechenbare Kredit. Mit den Abgabenordnungen in Mesopotamien und den Steuereintreibungen im alten Ägypten seien Mechanismen erfunden worden, die eine Epochenwenden darstellten, schreibt Graeber. Die staatliche Gewalt habe nämlich die Gesellschaft in zwei Urklassen geteilt, Schuldner und Gläubiger: »Die Ursprünge des Geldes liegen in Verbrechen und Entrechtung.«

Aus dieser These entwickelt Graeber seinen zentralen Gedanken: »Schulden sind im Kern ein moralisches Prinzip und eine moralische Waffe.« Denn mit dem Prozess der Enteignung ging die Vorstellung einher, Menschen müssten eine Schuld abarbeiten, für die ihr Leben gar nicht ausreiche. Erst unter dieser Voraussetzung hätten sich die ökonomischen und vor allem fiskalischen und juristischen Kategorien des quantifizierbaren Äquivalententausches langfristig etablieren können. Dass antike Sprachen wie Hebräisch oder Aramäisch keinen sprachlichen Unterschied zwischen den Begriffen »Schuld«, »Schulden« und »Sünde« kannten, verdeutliche diese Verschränkung genauso wie ihr etymologischer Konterpart: Das erste Wort für »Freiheit«, das überhaupt in einer menschlichen Sprache auftauchte, schreibt Graeber, sei das sumerische amargi gewesen, ein Wort, das sich aus dem Begriff der Schuldenfreiheit ableiten lasse.
Brüche in dieser moralisch abgesicherten gesellschaftlichen Stabilität seien in der Geschichte immer dann aufgetreten, wenn der Staat als Garant der Schuldtitel selbst nicht mehr in der Lage war, seine Schulden zu bezahlen. Graeber findet Dutzende von Beispielen dafür, die vom Zusammenbruch der Han-Dynastie in China bis hin zur Vorgeschichte der Französischen Revolution reichen. Manche Gesellschaften hätten allerdings auch Lösungen für das Schuldenproblem gefunden. Während auf Kreditgeld basierende Gemeinwesen, wie etwa die Königreiche Mesopotamiens, ihre Gesellschaften vor allem durch die Entwertung und einen Neuanfang stabilisiert hätten – nach dem Prinzip »Schwamm drüber über alle Schulden« –, habe sich in den vergangenen Jahrhunderten der Weg der Edelmetallbindung und des physischen Geldwerts durchgesetzt. Die Markenzeichen dieser »imperialen« Methode, wie Graeber sie nennt, seien in der Außenpolitik der Raubkrieg sowie die völlige Entrechtung und in der Innenpolitik Sozialprogramme gewesen.
Diese Perspektive gebe es nun nicht mehr, schreibt Graeber: »Wir können sehen, dass diese Lösung nun fehlzuschlagen beginnt, da wir uns zurück zu einem System des virtuellen Kreditgeldes bewegen.« Dies habe zur Folge, dass alle Menschen, auch in den reichen, westlichen Ländern, de facto zu Schuldensklaven degradiert würden.

Auf diesen Aspekt hat auch der amerikanische Ökonom Michael Hudson, auf dessen Studien sich Graeber immer wieder bezieht, bereits im Mai 2006 in seinem Buch »Der neue Weg in die Leibeigenschaft« hingewiesen. »Nichts sei unter diesen Bedingungen wichtiger«, so Graeber, »als den Tisch aufzuräumen, unsere eingeübte Moralität in Frage zu stellen und neu anzufangen.« Nachdem sich auch der marxistische Mythos des »doppelt freien Lohnarbeiters« im Kapitalismus erledigt habe – ein Status, der im modernen Kapitalismus nie der Normalfall gewesen sei –, sei es an der Zeit, die gegenwärtige Gesellschaftsordnung in der Phase ihrer »Apokalypse« endgültig hinter sich zu lassen.
Dass Graeber dabei nicht nur an die »Occupy«-Bewegungen, sondern auch die arabischen Revolten denkt, ist kein Geheimnis. Die Wirtschaftszeitung Business Week wollte in ihm sogar den Kopf der »Occupy«-Bewegung erkannt haben. Graeber wirbt offensiv für den allgemeinen Schuldenschnitt und die Umverteilung im antiken Sinne. Das dürfte auch den alten Marxisten Finley erfreut haben: »Der erste Schritt ist anzuerkennen, dass niemand das Recht hat, unsere (monetären) Schulden einzuschätzen, so wie auch niemand das Recht hat, uns zu sagen, was wir schuldig sind.«

David Graeber: Debt. The first 5 000 Years. Melville House, New York 2011, 534 Seiten, 17,95 Euro. Eine deutsche Übersetzung erscheint im Mai bei Klett Cotta.