Kandidaten bald im Knast? Kenia drohen Unruhen vor den Wahlen

Kandidaten unter Anklage

Vier Jahre nach den Massakern an politischen Gegnern nach den Wahlen in Kenia soll nun gegen vier Hauptverantwortliche Anklage vor dem Internationalen Strafgerichtshof erhoben werden. Die tiefe Spaltung des Landes lässt jedoch auch für die nächsten Wahlen Schlimmes befürchten.

Am 23. Januar fiel die Entscheidung. Nachdem gegen sechs mutmaßliche Hauptverantwortliche für die Massaker in Kenia im Jahr 2008 ermittelt worden ist, erhebt der Internationale Strafgerichtshof (IStGH) in Den Haag nun gegen vier von ihnen Anklage. Es handelt sich um ein heikles Verfahren, denn zwei Beschuldigte sind Präsidentschaftskandidaten für die nächsten, auf März 2013 verschobenen Wahlen. William Ruto, der derzeit aufgrund von Korruptionsvorwürfen suspendierte Bildungsminister, und Uhuru Kenyatta, Sohn des Staatsgründers Jomo Kenyatta und stellvertretender Premierminister, wollen gegen Raila Odinga, den amtierenden Premierminister, antreten. Ihr politisches Programm entbehrt jeglicher Inhalte, es geht lediglich um die Entscheidung, wer als Repräsentant welcher Bevölkerungsgruppe demnächst über die Verteilung der staatlichen Zuwendungen entscheiden darf. Sollten Kenyatta oder Ruto vor den Wahlen verurteilt werden, steht Odinga der Weg zum Präsidentenamt frei. Dann steht Kenia die nächste große Krise bevor. Kenyatta machte bereits erste Zugeständnisse und trat von seinem Amt als Finanzminister zurück. Obwohl die meisten Kenianerinnen und Kenianer die Entscheidung des IStGH begrüßen, da die Verantwortlichen für die Gewalt belangt werden sollen und der Straffreiheit mächtiger Persönlichkeiten und Politiker dadurch entgegengearbeitet werden könnte, haben viele Angst vor einer erneuten Eskalation.

Kenia war nach den allgemeinen Wahlen am 27. Dezember 2007 in die schlimmste nationale Krise seit der Unabhängigkeit 1963 gestürzt. Nach dem Verdacht des Wahlbetrugs durch den damals – und derzeit – amtierenden Präsidenten Mwai Kibaki kam es zunächst im Westen des Landes zu Angriffen von Anhängerinnen und Anhängern Raila Odingas, des chancenreichen Herausforderers Kibakis, auf das gegnerische Lager. Geschäfte wurden geplündert, Anhängerinnen und Anhänger Kibakis gewaltsam vertrieben. Dem Gewaltausbruch vorausgegangen waren Jahre des politischen und wirtschaftlichen Niedergangs. Die früheren Präsidenten Jomo Kenyatta und Daniel arap Moi hatten während ihrer Amtszeiten systematisch die Staatskassen geplündert und eine Politik des tribalistischen Nepotismus betrieben. Vermeintlich ethnische Kategorien aus der Kolonialzeit, die aus der britischen Strategie des divide et impera herrühren, wurden instrumentalisiert und verfestigt, um die eigene Machtbasis zu erhalten. In einem Land, in dem über die Hälfte der Bevölkerung von weniger als zwei Dollar am Tag lebt, hatte dies fatale Konsequenzen.
Als Kibaki im Jahr 2002 Moi nach 24 Jahren Alleinherrschaft ablöste, gab es große Hoffnungen auf eine demokratische Wende. Sie wurden jedoch schon kurz nach Kibakis Amtsantritt enttäuscht, als seine Verwicklungen in den Anglo-Leasing-Korruptionsskandal bekannt wurden. Kibaki begann bald, die Kikuyu, die größte Bevölkerungsgruppe Kenias, ebenso zu bevorzugen, wie es seinerzeit Jomo Kenyatta getan hatte. Die Jugend, die von Nike Airs und Smartphones geträumt hatte, war angesichts dieses Vertrauensbruchs ernüchtert. Die Luo aus dem Westen, zahlenmäßig die zweitgrößte Sprachgruppe Kenias, fühlten sich ausgeschlossen und betrogen. Ihre Hoffnung galt den Wahlen 2007, denn schließlich war Kenia nun ein demokratisches Land. Zahlreiche kleinere Bevölkerungsgruppen unterstützten damals Odinga, der den Luo zugerechnet wird, um Kibaki abzulösen.
Odinga lag bei den Auszählungen der Stimmen im Dezember 2007 lange vorne, bis ihn Kibaki aus unerklärlichen Gründen überholte. Vermeintlich unabhängige Wahlbeobachter hatten keine Unregelmäßigkeiten feststellen können, auch nicht, als Kibaki allzu hastig in seinem Amt bestätigt wurde. Die Demokratisierung scheiterte abermals an der Machtversessenheit eines Despoten.
Die gewalttätigen Übergriffe der Luo nach diesem Skandal verblassten angesichts der Gewalt, die darauf folgte. Die Kikuyu nahmen Rache, mit Macheten und Knüppeln wurden politische Gegnerinnen und Gegner verstümmelt und ermordet. Kenia versank im Chaos, über 1 000 Tote und eine halbe Million Vertriebene waren die Folge. Die Vertriebenen leben zum Teil bis heute in Flüchtlingscamps und können nicht an ihre Wohnorte zurückkehren, da sie dort immer noch zur »ethnischen Minderheit« gehören. Opfer leben Tür an Tür mit den Tätern, die nie belangt wurden. Nachbarschaftliche Bande, Freundschaften und selbst Liebesbeziehungen sind an dem Konflikt zerbrochen. Kenia ist seit 2008 noch stärker in einzelne Lager gespalten als zuvor.

Sechs Männer, denen die Hauptverantwortung für die Gewalt angelastet wird, mussten sich im Sommer 2011 vor dem IStGH verantworten. Sie sollen die Banden koordiniert und mit Waffen ausgerüstet haben. Joshua arap Sang, ein Sprecher des Radiosenders Kass FM, habe seine Anhänger von der Gruppe der Kalenjin in ihrer Sprache dazu aufgefordert, die Kikuyu von ihrem Land zu vertreiben. William Ruto habe jugendliche Kalenjin bewaffnet und bezahlt. Diese zündeten später in Eldoret eine Kirche an, in die sich alte Menschen, Frauen und Kinder vor dem Mob geflüchtet hatten. Generalmajor Mohamed Hussein Ali, damals Polizeipräsident, habe nicht dazu beigetragen, die Unruhen zu beenden, sondern der Polizei einen Schießbefehl erteilt. Gegen ihn und Henry Kosgey, damals ein Unterstützer Odingas und derzeit suspendierter Industrieminister, wird aus Mangel an Beweisen keine Anklage erhoben. Francis Muthaura, ehemals Leiter des Öffentlichen Dienstes und ein enger Vertrauter Kibakis, wird wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit angeklagt. Der vierte Angeklagte ist Uhuru Kenyatta, der schließlich die Mungiki ins Spiel gebracht habe.
Die Mungiki sind eine sagenumwobene politisch-religiöse Gruppierung aus den Reihen der Kikuyu, die ihren konservativen Traditionalismus unter anderem mit Ritualmorden durchzusetzen sucht. Schon lange treiben sie in Kenia ihr Unwesen. 2008 hackten sie Angehörigen der Luo öffentlich Genitalien und Köpfe ab und leckten anschließend das Blut von den Klingen. Der arbeitslose James*, der in einer Arbeitersiedlung bei Naivasha lebt, war dabei. Er kennt viele Mungiki und kann genau sagen, an welchen Stellen die Leichen lagen, wo sich nachts die Männer aufreihen mussten, um dann nacheinander enthauptet zu werden. Er war dabei, als Luo-Männern tagsüber die Vorhaut mit Superkleber verklebt wurde. »Um ihnen eine Lektion zu erteilen. Kein Unbeschnittener kann jemals einen Kikuyu regieren. Sie sind wie Tiere, so abartig. Wir haben ihnen ihr Teil entweder ganz abgehackt und sie dann laufen lassen, oder wir haben es zugeklebt. Das ist ganz schön schmerzhaft. Zum Krankenhaus hat es fast keiner mehr geschafft«, gibt er im Gespräch mit der Jungle World offen zu. »Die öffentlichen Zahlen sind lächerlich – allein in Naivasha sind sicher 1 000 Leute gestorben. Ich war dabei, aber habe nie einen getötet. Ich schwör’s.«
Keiner will dabei gewesen sein, und doch haben viele es gesehen. Michael*, ein Menschenrechtler, der selbst Opfer von Vertreibungen war, betreibt einen Kopierladen in einer Gegend von Naivasha, die 2008 besonders von Gewalt erschüttert wurde. Er ist kein Kikuyu, aber die Mungiki zerrten ihn aus seinem Haus, um ihn als menschlichen Schutzschild vorne laufen zu lassen, da die Polizei gegen den Mob eingesetzt wurde und scharf schoss. Er musste mitkommen, oder sie hätten ihn auf der Stelle getötet. Michael weiß noch genau, wo der Junge lag, dem Mungiki die Beine abgehackt hatten und der am nächsten Morgen von Hunden zerfressen war. »Nie wieder darf so etwas vorkommen«, meint er. »Wir dürfen den Gewalttätern keinen Raum lassen.«

Die Erinnerungen an die Gewalt sind noch sehr präsent, vor allem, weil die nächsten Wahlen anstehen. Die jungen Männer, die 2008 ihre Macht erfahren konnten, sind weiterhin bereit zur Gewalt. »Meine Familie, die Kikuyu, sind mir wichtiger als mein eigenes Leben. Ich würde für die Gruppe sterben. Aber vorher mache ich die Luo fertig«, sagt Daniel*, ein Mitglied der Mungiki, der als Fahrer arbeitet, der Jungle World. Die Erinnerung an die Ereignisse lässt ihn zittern. Er sah, wie schwer verletzte Frauen und Kinder auf Lastwagen ins Gebiet der Kikuyu transportiert wurden. Sie waren vor den Kalenjin geflohen.
Michael weiß Bescheid: »Die Kikuyu formieren sich schon jetzt. Ständig legen sie mir Formulare zum Kopieren vor, in denen sie irgendwelche Satzungen formulieren. Wenn ich sie dann frage, wofür das ist, dann sagen sie nur, es sei für die Wahlen. Die jungen Leute bereiten sich vor, und die Alten unterstützen sie mit Geld und gutem Rat.« Peter*, ein Luo, der 2008 knapp entkommen konnte und es trotzdem gewagt hatte, danach nach Naivasha zurückzukehren, um auf einer Blumenfarm zu arbeiten, hat sich entschieden: »Ich mache das nicht noch einmal mit. Meine Wohnzimmermöbel habe ich schon an meinen Heimatort verfrachtet. Andere Leute melden ihre Kinder von der Schule ab oder schmeißen ihren Job. Keiner geht das Risiko noch einmal ein.«
Die »internationale Gemeinschaft« sieht Kenia als Friedensgaranten in der Region. Mit dem Einmarsch in Somalia und dem Krieg gegen die islamistische Miliz al-Shabab verschafft sich die kenianische Regierung unter Kibaki Anerkennung bei westlichen Unterstützern als verlässlicher Partner im »Antiterrorkampf«. Aber vor Ort sieht es anders aus. In den dicht besiedelten Arbeitersiedlungen im Land, in denen Tausende Binnenmigrantinnen und -migranten aus allen Landesteilen leben, ist die Stimmung angespannt. Die Erinnerung an die Ereignisse vor vier Jahren ist lebendig. Entschädigungen für die Opfer der Gewalt oder eine strafrechtliche Verfolgung der Täter hat es bisher nicht gegeben.
Der IStGH befasst sich nun mit den Anführern. Der Think Tank International Crisis Group warnt jedoch davor, die Entscheidung des Gerichts einer Bevölkerung vorzulegen, die nicht ausreichend über die Konsequenzen informiert wurde. Die perspektivlosen Jugendlichen, die für ein Tagesgehalt morden, sind immer noch da. Sie sind bereit, sich für ihre Anführer zu opfern, weil sie sonst nichts haben. Sie klammern sich an ihren Kandidaten, weil sie sich davon eine Besserung ihrer sozialen Lage erhoffen. Sollte Kenyatta verurteilt werden, »dann wird Odinga der nächste Präsident. Dann übernehmen die Luo den Laden. Das nehmen wir nicht in Kauf«, sagt Daniel. »Der IStGH hätte Uhuru laufen lassen sollen. Wir hoffen das Beste, aber wenn Uhuru ins Gefängnis muss, sieht es schlecht aus. Die Leute schwören, dass sie für ihn kämpfen«, bestätigt Michael.

* Die Namen der Interviewpartner wurden geändert.