Der Konflikt zwischen Islamisten und Säkularen in Tunesien

Schleier und schwarze Listen

Der Konflikt zwischen Islamisten und Säkularen in Tunesien verschärft sich. Die regierenden Islamisten verlieren in der Bevölkerung an Zustimmung.

Auf der Prachtstraße Avenue Habib Bourguiba in Tunis steht eine Gruppe wütender Menschen und schwenkt grüne Fahnen. »Allahu Akbar!« rufen die etwa 200 Männer, von denen einige, aber bei weitem nicht alle, Bärte tragen. Sie veranstalten eine Gegendemonstration. Kurz zuvor sind ungefähr 50 000 Demonstrierende vorbeigezogen, die Meinungsfreiheit und Toleranz forderten. Organisiert wurde diese Demonstration von den linken Oppositionsparteien.
Etwas abseits der salafistischen Gruppe auf der Avenue Habib Bourguiba beobachtet Wissam Labidi mit zwei Freunden das Geschehen. »Das hat der Innenminister organisiert«, sagt Labidi. Der Jurist arbeitet für den Premierminister Hamadi Jebeli von der Partei al-Nahda. Für die Islamisten hat Labidi allerdings wenig übrig. Die Salafisten und al-Nahda sieht er als einen Block, wie fast alle hier es tun.
In Tunesien spitzt sich der Konflikt zwischen Islamisten und Säkularen zu. Die Islamisten sind in der Minderheit, aber sie stellen die Regierung, die sich immer noch Übergangsregierung nennt, nach den Wahlen zur verfassungsgebenden Versammlung im Oktober jedoch bereits entsprechend dem Wahlergebnis besetzt ist. Die islamistische al-Nahda wurde mit 37 Prozent der Stimmen stärkste Partei. Sie regiert mit zwei Mitte-Links-Parteien. In der Opposition finden sich sozialdemokratische Parteien, Sozialisten, Kommunisten und Anhänger des im vergangenen Jahr gestürzten Autokraten Zine al-Abidine Ben Ali – Liberale spielen fast keine Rolle in Tunesien.
Bei dem Konflikt zwischen Islamisten und Säkularen geht es nicht nur um die Sharia, den Gesichtsschleier Niqab oder die Vielehe. Auch die soziale Frage trägt zur Spaltung bei: Die islamistische al-Nahda konnte zwar die Stimmen der ärmeren Bevölkerung gewinnen, doch werfen ihr Linke und Sozialdemokraten vor, ein wirtschaftsliberales Programm zu verfolgen und nichts gegen Armut und Arbeitslosigkeit zu tun. Touristen würden durch die Aktionen der Salafisten abgeschreckt. Die Islamisten der al-Nahda entgegnen, die Linken verscheuchten durch Streiks und Sit-ins Investoren.
Anders als in Ägypten konnten die Salafisten in Tunesien keine eigene Partei zur Wahl aufstellen. Denn nur Parteien, die sich zur Verfassung und zu den bestehenden Gesetzen bekennen, wurden zugelassen. Der Vorsitzende von al-Nahda, Rachid al-Ghannouchi, hat sich mehrfach zu Tunesiens republikanischer Verfassung und zur Gleichstellung von Frauen und Männern bekannt. Sein Vorbild ist die AKP in der Türkei. Die Partei rühmt sich, 42 der 48 weiblichen Abgeordneten in der verfassungsgebenden Versammlung zu stellen. Die Salafisten wollen hingegen die Sharia einführen, ihr Vorbild ist das politische System Saudi-Arabiens.
Der ideologische Unterschied ist also groß. Trotzdem glauben viele Tunesierinnen und Tunesier, dass al-Nahda und Salafisten zusammenarbeiten. »Al-Nahda nutzt die Salafisten, um ihre Interessen durchzusetzen. Sie schicken junge Leute, um die Demonstrationen größer aussehen zu lassen«, sagt Achmad Bouazzi von der Partei für Progressive Demokratie (PDP). Dem schließt sich der Vorsitzende von Amnesty International Tunesien, Lofti Azzouz, an. »Al-Nahda hat Salafisten auf ihren Listen kandidieren lassen. Der Religionsminister ist ein Salafist. Wir haben hier Juden und Christen – für die ist jetzt ein Salafist zuständig«, empört er sich.

Obwohl die Salafisten nur eine Splittergruppe sind – da sind sich Vertreter aller politischen Richtungen einig –, verbreiten sie Angst. Sie haben schwarze Listen von Personen erstellt, die sie als »Gegner der Religion« bezeichnen. Auf einer dieser Listen steht auch der Name der Bloggerin Lina Ben Mhenni. Für ihren mutigen Einsatz in der Revolution war sie für den Friedensnobelpreis vorgeschlagen worden. Die Salafisten haben auf Facebook eine Kampagne gegen sie initiiert. Dort zeigen sie Fotos von ihr, auf einem hält sie ein Weinglas, auf einem anderen liegt sie im Bikini am Strand. »Ich habe keine Angst«, sagt sie. »Ich habe im Kugelhagel von Ben Ali gestanden. Diese Leute waren nicht da. Jetzt wollen sie mir drohen?«
In den Universitäten in Sousse und Manouba haben Salafisten Studenten und Professoren verprügelt. Dabei ging es um den Niqab. Die Salafisten verlangen, dass Studentinnen ihn auch bei Prüfungen tragen dürfen. Es ist eines der Lieblingsthemen der Islamisten. Ursprünglich trugen nur Frauen in Saudi-Arabien und den Golfstaaten dieses schwarze Tuch mit Augenschlitz vor dem Gesicht. Doch vor etwa fünf Jahren tauchten die ersten Frauen mit Niqab an ägyptischen und syrischen Universitäten auf. Die Bildungsminister reagierten schnell mit einem Verbot, unterstützt von Fatwas der religiösen Institutionen. Der tunesische Bildungsminister steht diesem in Tunesien neuen Phänomen indes ambivalent gegenüber. Das Mitglied von al-Nahda will seine Klientel nicht verprellen und überließ daher den Fakultäten die Entscheidung. Die Salafisten campieren nun aus Protest vor den Universitäten, die den Niqab verbieten. Der Menschenrechtler Azzouz beobachtet eine schleichende Änderung von Gewohnheiten: »Junge Frauen fühlen sich unwohl dabei, Bier in der Öffentlichkeit zu trinken oder auf der Straße zu rauchen, weil die Salafisten sagen, eine Muslima tue das nicht.«
»Das sagt aber nicht al-Nahda«, insistiert deren Abgeordnete Suad Abd al-Rahim. Die Islamistin, die selbst kein Kopftuch trägt, sagt, die Entwicklung mache ihr auch etwas Angst. »Die Salafisten sind selbst für al-Nahda ein Problem. Wir sind gegen den Niqab. Das ist ein in Tunesien fremdes Kleidungsstück.« Al-Nahda stehe für kulturelle Traditionen, sagt sie.
Allerdings meint Abd al-Rahim, man müsse die Salafisten integrieren. »Sie müssen ihren Weg finden, innerhalb der Verfassung zu arbeiten. Das wird dauern, aber wir dürfen niemanden grundsätzlich ausschließen.« Eine Spaltung der Gesellschaft sieht sie nicht: »Wir reden mit allen. Wir beanspruchen den Islam nicht für uns. Die Kommunisten sind schließlich auch Muslime.«

Das sehen viele anders. Der Pressesprecher der sozialdemokratischen Partei al-Takatol, Mohammed Ben Nour, klagt: »Laizismus ist heute ein Synonym für Atheismus.« Al-Nahda habe geschickt die anderen Parteien als Ungläubige dargestellt.
Al-Takatol ist an der Regierung beteiligt. Die Opposition wirft der Partei vor, sich von al-Nahda einwickeln zu lassen. Ehemalige Wählerinnen und Wähler von al-Takatol haben eine Kampagne ins Leben gerufen: »Gebt uns unsere Stimmen zurück!« Ganze Ortsvereine haben sich von der Partei losgesagt. Vor den Wahlen gab es den Versuch, eine Mitte-Links-Plattform gegen al-Nahda aufzubauen. Der PDP und die ehemals kommunistische Partei al-Tajdid, beides wichtige Oppositionsparteien, die ebenfalls mehr oder weniger sozialdemokratische Programme haben, werfen al-Takatol Spaltung vor, weil die Partei sich nicht an dieser Plattform beteiligen wollte und stattdessen mit al-Nahda geredet hat.
»Wir sagen al-Nahda klar, wo Schluss ist«, verteidigt sich der Sozialdemokrat Ben Nour. »Tunesiens progressive Zivilgesetzgebung wurde 1956 von dem Gründer von al-Takatol geschrieben«, erzählt er stolz. »Selbstverständlich darf al-Nahda die nicht anfassen.« Derzeit arbeiten die säkularen Parteien wieder emsig an Bündnissen. Sie könnten zusammen 60 Prozent der Wählerstimmen vereinen, wenn die Stimmverhältnisse so bleiben wie bei der letzten Wahl. Allerdings haben weit über zehn säkulare Parteien Sitze geholt, zumindest die sechs größeren Parteien darunter müssten sich einigen.
Viele Tunesierinnen und Tunesier glauben sowieso nicht, dass die Islamisten bei der nächsten Wahl wieder so gut abschneiden werden. »Es war eine Wahl gegen das alte Regime«, sagt Ben Nour, »und eine Revanche an den Modernisten.« Seine Parteigenossin Laila Alphil ergänzt: »Jeder kennt jemanden von al-Nahda, der unter Ben Ali im Gefängnis war, einen Verwandten oder Nachbarn. So hat das alte Regime den Aufstieg der Islamisten vorbereitet. Außerdem hat al-Nahda die populistische Karte gezogen und behauptet: Wir vertreten die Armen. Die Leute haben nicht das Wirtschaftsprogramm von al-Nahda gelesen.«

Paradoxerweise wurden die Parteien mit den sozialeren Wirtschaftprogrammen und dem Bekenntnis zur Integration der armen Regionen im Hinterland vor allem in den wohlhabenden Städten an der Küste gewählt. Die Islamisten haben es geschafft, sich als Anwalt der kleinen Leute auszugeben, obwohl sie meinen, Almosen seien eine ausreichende Sozialpolitik.
Das könnte ihnen bald Probleme bereiten. Die Wirtschaft Tunesiens liegt am Boden, im vergangenen Jahr verzeichnete sie einen Rückgang von 1,8 Prozent. Die Touristen sind nicht zurückgekommen. Überall im Land veranstalten Arbeitslose und Arbeiter Sit-ins für Arbeit und mehr Lohn. Die Gewerkschaft CGT erwägt, zur nächsten Wahl eine eigene Liste aufzustellen – um al-Nahda die Stimmen der Arbeiterinnen und Arbeiter wegzunehmen. Al-Nahda versucht im Gegenzug, eigene Leute in die Gewerkschaftsbewegung einzuschleusen. So verschärfen sich die Konflikte zwischen Islamisten und Säkularen auch in den Betrieben.
Bei aller schlechten Stimmung hat al-Nahda jedoch von allen Parteien die besten Geldquellen. Ein fünfstöckiges Parteihaus nennt sie in Tunis ihr Eigen. Die Parteizentralen von al-Takatol und PDP nehmen sich deutlich unscheinbarer aus. Für die Bloggerin Ben Mhenni ist klar, woher das Geld kommt. »Danke Katar, danke USA«, schreibt sie unter einem wütenden Blogeintrag über die Islamisten. »Wir wissen alle, dass die USA die gemäßigten Islamisten unterstützen«, sagt sie der Jungle World. »Wir haben gesehen, was Katar in Libyen gemacht hat.«
Wie Katar in Tunesien gehandelt hat, erläutert ein unabhängiger Gewerkschafter mit Verweis auf den populärsten arabischen Fernsehsender, der vom Emir des Golfstaates gegründet wurde: »Al-Jazeera hat gemeldet, dass Ben Ali geflohen sei. Da sind die Leute auf die Straße gegangen und haben gejubelt. Ben Ali saß derweil in seinem Palast und hat ferngesehen. Als er die Massen auf der Straße gesehen hat, ist er natürlich geflohen, aber erst mehrere Stunden später.« Was daran schlecht sei, erklärt er so: »Mir wäre es lieber, Katar würde sich nicht in unsere Politik einmischen.«
Auf Live-Blogs des 14. Januar lässt sich diese Geschichte nicht verifizieren. Aber auch wenn sie erfunden sein sollte, spricht sie für eine neue Stimmung. In Tunesien wie auch in Libyen sind viele Revolutionäre schlecht auf Katar zu sprechen. Die USA bleiben daneben ein traditionelles Feindbild. Der Gewerkschafter betont: »Wir wissen, dass die Europäer die Islamisten nicht mögen. Aber die Amerikaner verstehen das nicht. Denen geht es nur um eine liberale Wirtschaft.«