Muhamed ben Dala und Miftah Saeid im Gespräch über die aktuelle Lage in Libyen

»Wir verstehen den Westen«

Am Freitag, den 17. Februar, wird im Berliner Kino Babylon Mitte der Film »Win or Die – Voices from the Libyan Revolution« uraufgeführt. Im Rahmen dieser Premiere soll auch eine Diskussionsveranstaltung stattfinden, an der unter anderem der 29jährige Muhamed Ben Dala (links), der als Unfallchirurg in Berlin arbeitet, sowie Miftah Saeid (26), der in Bengasi Wirtschaftswissenschaften studiert, teilnehmen werden. Beide haben am Aufstand gegen Gaddafi teilgenommen. Die Jungle World sprach mit ihnen über ihre Einschätzung der aktuellen Lage.

Wie lebt es sich in einem Libyen ohne Muammar al-Gaddafi?
Ben Dala: Die Leute protestieren jetzt gegen alle möglichen Dinge. Sie demonstrieren gegen Korruption, für Frauenrechte, gegen die unkontrolliert im Umlauf befindlichen Waffen, gegen den Nationalen Libyschen Übergangsrat. Sie wollen, dass ihre Stimmen gehört werden. Das ist etwas völlig Neues.
Saeid: Früher war es eine Frage von Leben und Tod, Gaddafi zu gehorchen. Tatest du das nicht, konntest du für unbestimmte Zeit ins Gefängnis kommen, für Jahre kein Licht sehen oder gleich umgebracht werden. Dabei ist es normal, dass es Probleme mit der eigenen Regierung gibt, und dass die Leute jetzt protestieren können, das ist ein gutes Zeichen.
Welche Probleme gibt es konkret?
Saeid: Zum Teil sind Leute in staatlichen Positionen, die schon unter Gaddafi da waren. Das gilt beispielsweise für viele Botschafter, darunter die in Großbritannien, den USA und Italien. Und die Menschen hassen alles, was noch nach Gaddafi riecht.
Ben Dala: Oft gibt es auch Beschwerden, weil die Löhne nicht gezahlt werden. Die Leute fragen sich, warum es kein Geld gibt, obwohl ja weiter Öl exportiert wird. Es gab aber sogar schon Proteste, weil das Internet zu langsam war. Die Jungen wollten, dass Facebook wieder schneller läuft. Darüber haben sich andere lustig gemacht und dagegen protestiert, dass so viel protestiert wird.
Es entwickelt sich also so etwas wie eine Zivilgesellschaft?
Ben Dala: Ja, absolut. Es bilden sich überall neue Initiativen für alles Mögliche: für Arme, für Bäume oder für Tiere. Wir haben früher nie etwas für unser Land getan. Man hatte das Gefühl, dass es uns gestohlen worden war und man als eine Art Exilant im eigenen Land lebte. Dieses Gefühl ist weg. Die Leute engagieren sich und die Zivilgesellschaft wächst schnell ohne den Staat.
Saeid: Es gibt heute jede Menge Zeitungen und allein in Bengasi 150 NGO. Jeder hat etwas zu sagen. In ganz Libyen gibt es jetzt 14 TV-Stationen. Früher gab es zwei Sender und landesweit drei Zeitungen. Die eine hat berichtet, was Gadaffi morgens gemacht hat, die andere, was er abends gemacht hat und die dritte, wen er zwischendurch getroffen hat.
Was fordern Sie vom Nationalen Übergangsrat?
Saeid: Vor allem Transparenz. Wir wollen, dass seine Sitzungen im Fernsehen übertragen werden. Er hat das zugesagt, bis jetzt aber nicht umgesetzt.
Ben Dala: Das Wichtigste geschieht aber: Die Macht wird im nächsten Monat an die 200 gewählten Mitglieder der verfassungsgebenden Versammlung übergeben. Sie werden acht Monate über die neue Verfassung beraten und so lange auch das Land regieren. Ende 2012 soll es dann die ersten Wahlen geben.
In Ägypten und Tunesien haben die ersten Wahlen die Islamisten an die Macht gebracht. Könnte das auch in Libyen geschehen?
Saeid: Jetzt, nach der Revolution, wollen alle an die Macht. Auch die Islamisten. Sie wollen an den Wahlen teilnehmen und sich nicht verstecken. Die Muslimbruderschaft macht in den Straßen ihre Kampagnen.
Ben Dala: Ich mag sie nicht, sie benutzen die Religion, um politischen Einfluss zu erlangen. Aber es ist toll, dass es endlich einen politischen Wettbewerb gibt. In Tunesien und Ägypten wurden die Islamisten schließlich demokratisch gewählt. Das ist fair. Wenn es Wahlen gibt und die Leute sie wollen, dann soll es so sein. Aber ich bin ziemlich sicher, dass das nicht passieren wird. Wir haben keine Revolution gemacht, um die Muslimbruderschaft an die Macht zu bringen.
In Tunesien und Ägypten haben die revolutionären Bewegungen auch damit zu kämpfen, dass die Kader des alten Regimes den Sicherheitsapparat kontrollieren. Gibt es in Libyen ähnliche Probleme?
Ben Dala: In Ägypten und Tunesien hat das Militär die Revolution mitgetragen und sie beschützt. In Libyen war das Volk allein. Hier wurde alles entkernt.
Und die Vertreter des alten Apparats? Was ist mit denen geschehen?
Saeid: Die Ebene unterhalb des Gaddafi-Umfeldes ist vielfach nach Ägypten geflohen. Die Polizei ist schwach, weil die Leute alle selbst Waffen haben. Ein richtiges Militär gab es bei uns nicht, Gaddafi hat ihm misstraut und seine eigenen Garden aufgebaut. Die sind entweder tot, geflüchtet oder auf die Seite der Revolutionäre gewechselt.
Sie beide waren selbst an den Aufständen ­gegen Gaddafi beteiligt. Was genau haben Sie ­getan?
Saeid: Ich habe Waffen von Bengasi nach Misrata gebracht. Außerdem haben wir eine Internet-Verbindung per Satellit aufgebaut, als Gaddafi das Telekommunikationsnetz abgestellt hatte. Über diese Verbindung haben wir Videos aus dem belagerten Bengasi hochgeladen und Livestreams gezeigt. Ein berühmter Rebellenführer hat die Verbindung benutzt, um dem Sender CNN Interviews zu geben.
Ben Dala: Ich war Arzt in Göttingen und hätte nie gedacht, dass es soweit kommt. Als ich merkte, dass die Aufstände nicht nachlassen, habe ich mit anderen Libyern eine halbe Million Pfund gesammelt. Damit haben wir den Rebellen Medikamente geschickt und auch medizinisches Personal vermittelt. Dann bin ich selbst nach Libyen gereist und habe dort als Chirurg in einem Lazarett der Rebellen gearbeitet.
Es gab im Januar Berichte über eine neue Offensive von Gaddafi-Anhängern.
Ben Dala: Die Medien haben das aufgebauscht. Das war eine lokale Auseinandersetzung zwischen einer bewaffneten Gruppe und einem Clan. Es ist Nachkriegszeit, alle sind noch bewaffnet. Solche Kämpfe gibt es immer, aber früher haben die Clans sie unbewaffnet ausgetragen. Mit Unterstützung für Gaddafi hatte das nichts zu tun.
Der Westen hat Gaddafi bis zum letzten Moment gestützt, und nicht nur als Öllieferant, sondern auch als Türsteher gegen irreguläre Migranten bezahlt und aufgerüstet. Monate nach Beginn des Aufstands hat der Übergangsrat in Bengasi dieses Abkommen erneuert. Was halten sie davon?
Saeid: Ich war damit einverstanden. An diesem Punkt der Revolution brauchten wir den Schutz des Westens. Gaddafi hat versucht, den Westen mit den Flüchtlingen zu erpressen. Der Westen war schlau, hat sich eben jetzt die Sieger als Verbündete ausgesucht. Das können wir ihm nicht vorwerfen!
Auch Nordafrikaner dürfen nicht nach Europa reisen, viele Transitmigranten aus den ärmsten Regionen der Welt sterben durch das europäische Grenzregime. Akzeptieren Sie das?
Ben Dala: Der Westen muss eben seine Interessen schützen. Wir verstehen das.
Sie machen einem Mann wie Silvio Berlusconi, der Gaddafi Milliarden hinterher geworfen und ihn politisch rehabilitiert hat, keinen Vorwurf?
Ben Dala: Wir müssen realistisch sein. Die Interessenlagen sind eben so. Regierungen kümmern sich um wirtschaftliche Interessen.
Der Westen hat Gaddafi bis zuletzt gestützt, dann aber, als ein Sieg der Rebellen möglich schien, großflächig bombardiert. Viele Menschen sind dabei gestorben. Was denken Sie im Nachhinein über diese Intervention?
Saeid: Die Nato hat den Kämpfern die Möglichkeit gegeben, in Deckung zu gehen, ihre Angriffe waren präzise. Dass diese Intervention stattgefunden hat, war das Wundervollste, das ich jemals gesehen habe.
Ben Dala: Ich hätte es besser gefunden, wenn wir ohne die Nato-Bomben ausgekommen wären. Aber so war es besser, als wenn nur eines oder sehr wenige Länder interveniert hätten.
Die Nato-Staaten werden für ihre Unterstützung politische Gegenleistungen erwarten. Der Nationale Übergangsrat ist mit einer schweren politischen Hypothek belastet.
Saeid: Es war keine humanitäre Intervention. Natürlich haben die Nato-Staaten das nicht umsonst gemacht und wollen jetzt etwas zurück. Sie hatten eben Interessen. Was wir jetzt wollen, das ist eine Win-Win-Situation – für ganz Libyen und den Westen. Vorher hat nur Gaddafi gewonnen, wenn es Abkommen mit dem Westen gab.
Gaddafi hat sich als Führer der »Arabischen Nation« und als Führer eines panafrikanischen Konstrukts inszeniert. Wie verorten sich die ­Libyer jetzt?
Ben Dala: Es stimmt, er hat sich für den Führer Afrikas gehalten, allen Geld und Waffen gegeben und Revolutionen unterstützt – im Tschad, im Südsudan und anderswo. Gleichzeitig war er auch immer der Freund der Gegenseite. Alle Präsidenten kamen zu ihm, er dachte, er sei Gott, ein »König der Könige«. So etwas sagt kein vernünftiger Mensch. Er krönte sich und er bezahlte dafür – ein Wahnsinniger eben.
Aber wo wird Libyen im Spannungsfeld zwischen dem afrikanischen und dem arabischen Raum in Zukunft stehen?
Said: Wir Libyer sind sehr nationalistisch. Wir sehen uns weder als Panarabisten noch als Afrikaner, sondern als Libyer. Libyer denken, sie seien besonders und wollen sich erstmal um ihr eigenes Land kümmern.
Das klingt ausgesprochen isolationistisch. Halten Sie das wirklich für klug?
Said: Jetzt ja. Wenn man ein Land von null aufbauen muss, muss man sich erstmal nur um das eigene Land kümmern.
Von null? Libyen war eines der Länder mit dem höchsten Lebensstandard in Afrika.
Ben Dala: Das können Sie nur sagen, wenn sie das Bruttosozialprodukt insgesamt betrachten. Aber Gaddafi hat alles gestohlen. Bei uns war nicht der Wohlstand, sondern die Wohlstandsschere groß. Nur 17 Prozent der Haushalte in Tripolis sind an die Wasserversorgung angeschlossen. Und das ist die Hauptstadt. Es gibt keinen öffentlichen Personennahverkehr, die Schulen sind schlecht, es gibt kein Gesundheitssystem, die Straßen sind kaputt. Libyen hat Milliarden im Ausland, das Regime war reich, aber das Volk hatte nichts davon.