Die Proteste in Griechenland gehen weiter

Bücher statt Böller

In Griechenland protestiert ein großer Teil der Bevölkerung gegen die beschlossenen Sparmaßnahmen. Vor allem junge Menschen sehen kaum Zukunftschancen. Die Umfragewerte der etablierten Parteien sinken.

»Wir möchten nicht wie Sklaven leben«, steht in schwarzer Schrift auf der Mauer einer Bankfiliale in der Nähe des griechischen Parlaments in Athen. Ein Obdachloser hat seine Pappkartons dort aufgestellt und verkriecht sich unter einer verdreckten, grauen Decke. Passantinnen und Passanten laufen hektisch vorbei. Ein internationales Fernsehteam steht auf dem Bürgersteig und macht Aufnahmen von einem ausgebrannten Gebäude. Der Brandgeruch schwebt noch in der Luft. In mehreren Straßen des Athener Zentrums sieht man noch die Spuren des Massenprotests vom 12. Februar, dem Tag, als das griechische Parlament das zweite, von der EU und dem Internationalen Währungsfonds diktierte »Sparpaket« verabschiedete. Fast eine halbe Million Menschen demonstrierten an diesem Tag in Athen gegen weitere Lohn- und Rentenkürzungen sowie gegen eine Einschränkung der Souveränität des Landes.

Schon zu Beginn der Demonstration setzte die Polizei große Mengen Tränengas gegen die Demonstrierenden ein. Unter ihnen befanden sich auch alte Menschen wie der 87jährige Komponist Mikis Theodorakis und der 89jährige bekannte Widerstandskämpfer Manolis Glezos. Augenzeugen berichten, dass die Polizei in vielen Fällen friedliche Demonstrierende angriff, aber Randalierende ungestört gewähren ließ. »Wir haben Orangen auf die Polizei geworfen, und sie antwortete mit Tränengas«, sagt Alexia, eine 20jährige Jurastudentin, voller Wut. Sie sitzt im Vorsaal der Juristischen Fakultät, ein paar Straßen vom griechischen Parlament entfernt, und wartet auf die Examens­prüfung. Am selben Ort hatten nach Aussagen der Polizei mehrere Anarchisten und Autonome ihren Stützpunkt, um mit Molotow-Cocktails und anderen Gegenständen gegen die Beamten zu kämpfen.
Drei Tage lang wurde ein Raum der Juristischen Fakultät besetzt. »Dort hinten war die Besetzung.« Alexia deutet vorsichtig mit dem Finger in die Richtung. Sie selbst nahm an der Demonstration am Sonntag teil, Gewalt befürchtete sie aber nicht. Ein bitteres Lächeln zeichnet sich in ihrem Gesicht ab. »In Griechenland ist es so, dass die Leute keine Stimme haben. Wir müssen kämpfen, damit wir sie zurückbekommen.« Matina sitzt bedrückt neben ihr. Sie hält ein paar Notizblätter in ihren Händen. In einigen Minuten beginnt ihre Examenprüfung. Doch die Gedanken der 19jährigen Studentin sind noch beim Massenprotest vom Sonntag, aber auch bei den Ausschreitungen und den darauffolgenden Krawallen. »Als ich es im Fernsehen sah, war mir zum Heulen. Solche Aktionen sind etwas sehr Schlechtes für unser Land und repräsentieren uns nicht«, sagt sie. Matina hat nicht an der Demonstration teilgenommen, nicht weil sie die von den internationalen Gläubigern diktierte Sparpolitik unterstützt, sondern weil ihre Eltern sehr besorgt waren und Angst hatten vor Polizeigewalt und Krawallen.
Ihre Freundin Alexia hat die Hoffnung aufgegeben, dass mit den derzeitigen Protesten etwas zu erreichen sei. »Nach den Protesten der Empörten im Sommer haben wir realisiert, dass sich nichts ändern wird. Wenn wir keine kreative Form des Protests finden, werden wir nie zu einer Lösung kommen. Wir müssen einsehen, dass wir nicht mehr mit der Korruption leben können. Wir Studenten kämpfen manchmal gegen ein System, dessen Teil wir bald selbst werden«, sagt Alexia. Einen Austritt Griechenlands aus der Euro-Zone, der vielleicht auch einen Austritt aus der EU zur Folge haben würde, kann sich die Jurastudentin nicht vorstellen. »Europa ohne Griechenland wäre ein Kind ohne Geburtsurkunde«, betont sie.
Auch Spiros, ein 19jähriger Anglistikstudent, ist sehr pessimistisch: »Ich glaube, dass die Proteste nichts ändern können, weil unsere Politiker so korrupt sind, dass es sie nicht einmal interessiert, was die Bürger denken oder fühlen. Sie ignorieren uns völlig.« Nach dem 12. Februar protestierten fast täglich Studierende, Schülerinnen und Schüler vor dem Parlament gegen die beschlossene Sparpolitik. Am Freitag beschossen Polizeieinheiten die Demonstrierenden mit Tränengas. »Bei so viel Tränengas und Chemikalien hat die Regierung kein Geld mehr für Bücher«, stand auf einem Transparent, das Schülerinnen und Schüler am Montag bei einer Demonstration trugen, um auf den Mangel an Lehrbüchern in manchen Schulen des Landes aufmerksam zu machen.

Unter Jugendlichen ist die Stimmung besonders düster. Viele wissen, dass sie bald in der Arbeitslosigkeit landen werden oder ins Ausland emigrieren müssen. »Die Jugendlichen sehen viel klarer, sie verstehen instinktiv, obwohl sie es nicht bewusst wahrnehmen, dass die Gefahr durch das Tränengas viel geringer ist als die sichere Katastrophe, mit der sie konfrontiert werden, wenn sie ihre Heimat verlieren«, schreibt der Kolumnist Dimitrios Konstantakopoulos in der Wochenzeitschrift Epikaira. Maria, eine junge Lehrerin, nimmt fast an jeder Demonstration in Athen teil. »Diese Regierung muss weg! Sie ist nicht vom Volk legitimiert, diese Entscheidungen über unser Leben zu treffen. Sie muss endlich auf uns hören«, sagt sie. Die Wut der Bevölkerung über die Forderungen der Gläubiger wird immer größer, insbesondere, weil viele Bürgerinnen und Bürger keine Erfolge nach den ersten harten Sparmaßnahmen sehen. Einer Umfrage des Instituts Public Issue zufolge sind 72 Prozent der Griechinnen und Griechen gegen das »Sparpaket«, 85 Prozent sind mit ihrem Lebensstandard unzufrieden.
Für Kostas, einen 45jährigen Beamten, bedeutet das neue Sparprogramm weitere Einschnitte: »Mein Lohn wurde bereits im vorigen Jahr um 35 Prozent gesenkt«, sagt er verzweifelt und fügt hinzu: »Das, was in Griechenland passiert, ist nur ein Vorzeichen für das, was bald auch auf die anderen verschuldeten Länder der Euro-Zone zukommt.« Am Samstag fanden weltweit Solidaritätsaktionen für Griechenland statt. Am Freitag vergangener Woche hatten Mitglieder des Hamburger Künstlerkollektivs »Schwabinggrad Ballett« vor der deutschen Botschaft in Athen protestiert. Einige der deutschen Aktivistinnen und Aktivisten waren von der griechischen Polizei festgenommen, aber später wieder freigelassen worden. Auch am Sonntag, als einige Hundert Menschen vor dem Parlament demonstrierten, kam es zu Polizeieinsätzen. Dass die Polizei immer härter gegen die Proteste vorgeht, empört viele. Immer häufiger sieht man Demonstrierende mit professionellen Gasmasken oder Rentnerinnen und Rentner mit einem selbstgebastelten Schutz gegen das Tränengas.
Während die Bevölkerung auf den Straßen Griechenlands weiterhin gegen die beschlossenen Sparmaßnahmen kämpft, ringen viele Abgeordnete, die ihnen zugestimmt haben, um ihre politische Existenz. Die ehemals mächtige sozialistische Partei Pasok, die bei der Wahl 2009 noch 44 Prozent der Stimmen erhalten hat, käme einer aktuellen Umfrage des Instituts Alco zufolge nur noch auf 11 Prozent – genauso viel wie die Kommunistische Partei Griechenlands (KKE). Die konservative Nea Dimokratia ist mit 24 Prozent der Stimmen stärkste Partei, hat jedoch nach der Abstimmung über die Sparmaßnahmen an Zustimmung eingebüßt. Vor der Abstimmung erreichte sie in den Umfragen noch über 30 Prozent der Stimmen, bei der Wahl 2009 hatte sie 34 Prozent erhalten. An zweiter Stelle befindet sich die Partei Demokratische Linke mit 11,5 Prozent, das linke Bündnis Syriza bekommt acht Prozent und die rechtsextreme Partei Laos fünf. Die nationalsozialistische und rassistische Partei Chrysi Avgi (»Goldene Morgendämmerung«) erreichte mehr als 3,5 Prozent und würde somit ins Parlament einziehen.

Geht man von den Ergebnissen der aktuellen Umfragen aus, wird keine der griechischen Parteien bei den nächsten Wahlen, die für April geplant sind, die Möglichkeit haben, eine Mehrheitsregierung zu stellen. Sogar die beiden ehemals mächtigsten Parteien Pasok und Nea Dimokratia, die die derzeitige Notregierung des parteilosen Ministerpräsidenten Lucas Papademos unterstützen, könnten nicht zusammen regieren, weil sie keine gemeinsame Mehrheit hätten. Beobachter gehen davon aus, dass innerhalb der nächsten Monate schwerwiegende politische Änderungen in Griechenland bevorstehen, insbesondere was die großen Parteien angeht wie zum Beispiel die zersplitterte Pasok. In manchen Umfragen bekommt sie sogar weniger als 10 Prozent der Stimmen. Einer Umfrage des Instituts Pulse RC zufolge haben 120 der 160 Abgeordneten der Pasok bei den nächsten Wahlen keine Chance auf eine Wiederwahl. »Die politische Situation befindet sich auch weiterhin im Fluss, vielleicht noch mehrere Jahre«, sagt der Politikprofessor Christoforos Vernardakis. »Wir stehen am Anfang einer neuen Politik mit veränderten politischen Formationen und veränderten Strukturen politischer Repräsentation.«
In den meisten Umfragen erreichen die linken Oppositionsparteien zwar eine gemeinsame Mehrheit. Doch die KKE weigert sich bislang, den Aufrufen von Syriza zu folgen, für die kommenden Wahlen ein gemeinsames Bündnis zu bilden. Die Linke in Griechenland habe es trotz wachsender Unfragewerte bisher nicht geschafft, die griechische Bevölkerung zu überzeugen, heißt es in der linken Wochenzeitung Dromos. Es wird auf die vielen Griechinnen und Griechen hingewiesen, die nicht nur eine politische Vertretung suchten, sondern viel eher als früher bereit seien, für ihre Rechte zu kämpfen: »Ein riesiger Teil der Bevölkerung, der nichts mit der Linken zu tun hat, verlangt eine Rolle in der Massenbewegung und ist in der Lage, Positionen, Ziele und Forderungen zu vertreten, die viele Führungskräfte der Linken verärgern oder ihnen Angst bereiten.«