Die Euro-Krise in Osteuropa

Wer nicht sparen will, muss gehen

Die Euro-Krise trifft nicht nur Griechenland besonders hart. In vielen osteuropäischen Ländern wird gegen die rigiden Sparmaßnahmen der jeweiligen Regierung protestiert – oder die Menschen versuchen gleich auszuwandern.

Einmal in jeder Dekade beginnt in Rumänien das große Zählen. Vor zwei Wochen gab es die ersten Ergebnisse. Zur allgemeinen Überraschung stellte das Nationale Statistikamt in Bukarest fest, dass im Vergleich zum Zensus von 2002 etwa 2,6 Millionen Menschen weniger im Land leben. Wohin zwölf Prozent der Bevölkerung innerhalb weniger Jahre verschwunden sind, kann niemand genau erklären. Vermutlich sind viele nach Italien, Frankreich oder in die USA gezogen, um dort einen Job zu finden.

Eine ähnliche Entwicklung wie in Rumänien gibt es derzeit in zahlreichen osteuropäischen Ländern. In Estland wird das Ergebnis einer laufenden Volkszählung für Ende Mai erwartet, aber schon jetzt steht fest, dass es deutlich unter dem letzten liegen wird. Litauen verlor in den vergangenen zwei Jahrzehnten ungefähr eine halbe Million Einwohnerinnen und Einwohner bei einer Gesamtbevölkerung von gerade einmal 3,5 Millionen.
Seit Beginn der Wirtschaftskrise 2008 haben sich die Lebensverhältnisse in den östlichen EU-Staaten teilweise stark verschlechtert. So wurde in Rumänien die Mehrwertsteuer um fünf Prozent erhöht, die Beamtengehälter wurden um ein Viertel gekürzt und 200 000 Stellen im öffentlichen Dienst gestrichen. Für dieses Jahr ist der Abbau von weiteren 100 000 Jobs angekündigt. In den Zeitungen wird bereits über die Jobchancen der Entlassenen in Westeuropa spekuliert, während die Arbeitsämter erste Angebote veröffentlichten. Demnach werden in Spanien und Dänemark einige hundert Erntehelferinnen und -helfer gesucht, in Finnland Holzfäller und in Deutschland sowie Großbritannien fehlen vor allem Ärztinnen und Ärzte sowie Pflegepersonal.
Besonders hart treffen die Sparmaßnahmen die Rentnerinnen und Rentner. Etwa vier Millionen Rumäninnen und Rumänen empfangen eine monatliche Pensionszahlung von durchschnittlich 760 Lei (170 Euro). Das rumänische Pro-Kopf-Einkommen beträgt mittlerweile weniger als die Hälfte des EU-Durchschnitts.

Kürzen, sparen, Gürtel enger schnallen – seit Jahren hören die Rumäninnen und Rumänen immer wieder die gleichen Parolen, ohne dass sich die wirtschaftliche Lage nennenswert verbessert hätte. Die Regierung in Bukarest folgt dabei vor allem den Vorgaben der Europäischen Union und des Internationalen Währungsfonds (IWF), die das Land mit einem Kredit über 26 Milliarden Dollar knapp vor der Pleite bewahrt hatten. Voraussetzung dafür waren rigide Sparauflagen, wie sie derzeit Griechenland auferlegt werden. Diese Po­litik der inneren Abwertung sieht vor, staatliche Ausgaben ebenso wie Löhne und Gehälter dauerhaft zu senken, um die Kreditwürdigkeit des Landes sowie die Wettbewerbsfähigkeit der einheimischen Unternehmen zu verbessern.
Seitdem hält sich Rumänien zwar wieder pedantisch an die Tilgungsfristen der internationalen Geldgeber, von dem erhoffen Aufschwung ist allerdings nichts zu sehen. Die Kürzungen führten das Land vielmehr in eine tiefe Rezession, von der es sich nur schwer erholt. Bislang wurde gegen die desaströse wirtschaftliche Lage vor allem mit den Füßen protestiert. Wer konnte, verließ das Land. Doch viele Rumäninnen und Rumänen sind mittlerweile mit ihrer Geduld am Ende. Mitte Januar kam es zu den schwersten Unruhen seit 20 Jahren, in zahlreichen rumänischen Städten lieferte sich die Polizei heftige Straßenschlachten mit wütenden Demonstrierenden. Auslöser war die geplante Privatisierung der staatlichen Krankenkasse, eines der vielen staatlichen Reformvorhaben. Zusätzlich sorgte ein Fernsehbeitrag über ein vom Finanzministerium und der Notenbank bezahltes Mittagessen für den lokalen IWF-Vertreter für Entrüstung, wie die britische Zeitung The Economist berichtete.
Auch das Nachbarland Slowakei ist von der Rezession schwer getroffen und erlebte jüngst die größten Demonstrationen seit 1989. Die Menschen protestierten gegen die angebliche Korruption der Regierung. Diese kürzt die Ausgaben für die Gesundheitsversorgung, das Verkehrswesen und andere öffentliche Aufgaben.
Besorgniserregend ist jedoch nicht nur die wirtschaftliche Entwicklung, sondern auch die damit einhergehende politische Desintegration. In Rumänien reagierte Staatspräsident Traian Basescu auf die Unruhen und ernannte Anfang Februar seinen Geheimdienstchef Mihai Razvan Ungureanu zum neuen Ministerpräsidenten. »Wenn ein aktiver Spion es an die Spitze der Regierung schafft, verrät das vieles darüber, wie es um die Demokratie in Rumänien steht«, schreibt dazu der Politologe Cristian Parvulescu in der linksliberalen Tageszeitung Adevarul.
In Ungarn ist die Entwicklung hin zu einer autoritären Herrschaft schon weiter fortgeschritten, was bisweilen sogar in Westeuropa für Aufmerksamkeit sorgt (Jungle World 4/2012). Nur am Rande wird dabei allerdings bemerkt, dass die Regierung unter Viktor Orbán nicht nur ideologisch einen radikalen Kurs verfolgt, sondern auch in ihrer Steuerpolitik. Mit 27 Prozent hat das Land nicht nur die höchste Mehrwertsteuer in Europa. Hinzu kommen etliche weitere neue Steuern und indirekte Abgaben. Rechnet man alle Effekte zusammen, so »ergibt sich für die unteren Einkommensgruppen ein durchschnittlicher Verlust an real verfügbarem Einkommen von bis zu 30 Prozent binnen zwei Jahren«, wie die Budapester Zeitung Pester Lloyd vermerkte.
Angesichts der schweren Wirtschaftskrise verweisen die Expertinnen und Experten der EU und des IWF gerne auf Polen. Das Land beweise, dass eine erfolgreiche Entwicklung möglich sei. Tatsächlich ist die polnische Wirtschaft im vergangenen Jahr um 4,3 Prozent gewachsen, so viel wie in kaum einem anderen Land Europas. Als hilfreich erwiesen sich dabei der schwache Zloty, der einen kleinen Exportboom erlaubte, und die zahlreichen öffentlichen Infrastrukturprojekte, die wegen der Fußball-Europameisterschaft in Auftrag gegeben wurden. »Wir sind den stärksten Volkswirtschaften der Welt auf den Fersen«, jubelte der polnische Premierminister Donald Tusk kürzlich. »Die Frage ist deshalb nicht, ob, sondern wie wir zu einem zentralen Spieler auf der europäischen Bühne werden können.« Zugleich kündigte er an, die Kriterien für einen Beitritt zum Euro-Raum spätestens 2015 erfüllen zu wollen.
Seine Bürgerinnen und Bürger werden von diesen Plänen vermutlich nicht allzu begeistert sein. Denn um das ehrgeizige Vorhaben zu erfüllen, will die Regierung unter anderem den Renteneintritt um sieben Jahre nach hinten verschieben und das Gesundheitswesen reformieren. Maßnahmen wie eine weitgehende Deregulierung des Arbeitsmarktes hat das Land bereits hinter sich. Heute ist Polen europaweit führend bei befristeten Arbeitsverträgen und bei der Zeitarbeit. Rund zwei Drittel aller Beschäftigten unter 25 Jahren arbeiten bereits zu diesen Konditionen.
Wer dennoch keine Arbeit fand, konnte in Großbritannien oder Irland sein Glück versuchen. Über zwei Millionen Polen waren dort in den vergangen Jahren beschäftigt. Wegen der zunehmenden Arbeitslosigkeit in den meisten westeuropäischen Ländern dürfte dieser Weg aber wohl bald versperrt werden.
Für viele Menschen in Osteuropa bleibt dann nur noch die Migration im eigenen Land. Zu dieser überraschenden Erkenntnis führten jedenfalls Ergebnisse des jüngsten Zensus in Rumänien. Danach stieg der Anteil der Landbevölkerung, während die Einwohnerzahlen in den Städten schrumpften – ein in der jüngeren europäischen Geschichte wohl einmaliger Vorgang. Dass Subsistenzwirtschaft einen Ausweg aus der Krise bietet, darf allerdings bezweifelt werden.