Ein Urteil in Argentinien erlaubt Abtreibungen nach Vergewaltigung

Zumindest der Bauch gehört ihnen

Der argentinische Oberste Gerichtshof hat einstimmig entschieden, dass Abtreibungen nach einer Vergewaltigung nicht strafbar sind. Bisher wurde eine hierfür geltende Indikation anders ausgelegt.

In Argentinien sind Schwangerschaftsabbrüche in Ausnahmefällen straffrei, »wenn die Abtreibung mit dem Ziel durchgeführt wird, ein Risiko für das Leben und die Gesundheit der Mutter zu vermeiden und dies nicht durch andere Mittel möglich ist« (therapeutische Abtreibung), oder »wenn die Schwangerschaft Resultat einer Vergewaltigung oder eines unzüchtigen Angriffs auf eine geistig eingeschränkte Frau ist«, wie es in Artikel 86, Absatz 2 der argentinischen Verfassung heißt. Die Interpretation dieser zweiten Indikation war Grund für einen Rechtsstreit, in dem der Oberste Gerichtshof am Dienstag vergangener Woche nun sein Urteil gefällt hat. Nach der bisher üblichen Lesart konnten nur Frauen mit geistiger Behinderung nach einer Vergewaltigung abtreiben. Dies musste zudem in jedem Einzelfall gerichtlich genehmigt werden.

Anlass der Klage war der Fall einer 15jährigen Argentinierin, die jahrelang von ihrem Stiefvater vergewaltigt und schließlich geschwängert worden war. Der Fall hatte landesweit für Aufsehen gesorgt. Nachdem die lokalen Familiengerichte dem Mädchen eine Abtreibung verweigert hatten, klagte ihre Mutter vor dem zuständigen Verfassungsgericht der Provinz Chubut. Dieses Gericht genehmigte schließlich den Eingriff, der dann in der 20. Schwangerschaftswoche durchgeführt werden konnte. Ungeachtet des schon erfolgten Eingriffs legte der Behinderten- und Minderjährigenbeauftragte der Provinz Chubut Widerspruch gegen dieses Urteil ein, als selbsternannter Vertreter des Ungeborenen.
In ihrem letztinstanzlichen Urteil vom 13. März wiesen die Richterinnen und Richter des Obersten Gerichtshof diesen Einspruch zurück und betonten, dass die bisherige Praxis und Gesetzesauslegung rechtswidrig sei, da sie sowohl gegen die Verfassung als auch gegen die Menschenrechte verstoße. Die Prinzipien der Gleichheit sowie die Rechte auf Würde und Gesundheit erforderten eine rechtliche Gleichstellung aller Vergewaltigungsopfer. Die Richterinnen und Richter begreifen ihr Urteil als abschließende Bewertung des Gesetzes, weshalb die bisher übliche Prüfung im Einzelfall unnötig sei und auch gegen die Rechte der Frau auf schnellstmögliche Hilfe nach einer Straftat verstoße. Ausdrücklich weisen sie darauf hin, dass eine Schwangere lediglich eine eidesstattliche Erklärung darüber abgeben müsse, vergewaltigt worden zu sein. Eine Anzeige der Vergewaltigung ist also zukünftig ebenso wenig nötig wie eine gerichtliche Genehmigung im Einzelfall.

Das Urteil schreibt auch fest, dass der ungehinderte Zugang zu Abtreibungen garantiert werden muss, und greift damit ein zwar nicht unbedingt rechtliches, aber in der Praxis immer wieder auftauchendes Problem auf. Die Zahl der illegalen Abtreibungen ist in Argentinien wegen der strengen Gesetze und ihrer oftmals noch strengeren Auslegung hoch, nach Schätzungen des Gesundheitsministeriums sind es etwa 500 000 pro Jahr. Jährlich komme es in mindestens 60 000 dieser Fälle zu so schwerwiegenden Folgeschäden, dass sich die Frauen nach einer illegalen Abtreibung ins Krankenhaus begeben müssen. Auch die Zahl der ungewollten Schwangerschaften ist hoch: Nur eine von zehn Frauen würde gewollt schwanger, so Mabel Bianco, Mitglied im nationalen Konsortium für sexuelle und reproduktive Rechte. Einer Studie von Unicef zufolge ist eine von zehn Frauen, die nach einer Abtreibung stirbt, jünger als 20 Jahre.

Seit 2003 gibt es in Argentinien eine landesweite Kampagne, die für das Recht auf eine legale, sichere und kostenfreie Abtreibung eintritt. Deren Initiatorinnen und Initiatoren feierten das Urteil des Verfassungsgerichts als »kollektiven Triumph« der Bewegung zur Legalisierung von Abtreibungen, da es auch eine Folge der unermüdlichen Bemühungen der argentinischen Frauenbewegung sei, die Rechte von Frauen zu stärken. Sie hoffen, dass diese Entscheidung auch Druck auf das Par­lament ausübt, ein seit 2007 vorliegendes Gesetz zur Fristenregelung endlich zu beraten und zu verabschieden.
Die katholische Kirche kritisierte hingegen das Urteil. Der Vorsitzende der argentinischen Bischofskonferenz, José María Arancedo, bezeichnete eine Abtreibung als »die Beseitigung von unschuldigem Leben«, für die es keinerlei Rechtfertigung gebe. Andere Organisationen von Abtreibungsgegnern gingen noch weiter. Die Jugendorganisation Frente Joven beispielsweise behaup­tete, dieses Urteil sei keine Hilfe für die Opfer von Vergewaltigungen, sondern würde sie einem »doppelten Trauma« aussetzten: dem der Vergewaltigung und dem des anschließenden Mordes. Die Entscheidung des Verfassungsgerichts zeigt jedoch, dass solche Meinungen in Argentinien nicht mehr mehrheitsfähig sind, und gibt Grund zu der Hoffnung, dass sich die medizinische Versorgung von ungewollt schwangeren Frauen bald verbessern wird.