Wahlkampf nach dem Terroranschlag

Jihadist aus Frust

Der Attentäter von Toulouse bekannte sich zum Jihadismus, gehörte aber keiner Organisation an und galt auch in seinem Umfeld eher als gescheiterter Mensch. Die Gefahr, dass er für junge französische Muslime zur Identifikationsfigur wird, besteht kaum. Welche Rolle werden seine Morde bei der Präsidentschaftswahl spielen?

Eine ungesunde Tagesdosis Blei setzte am vergangenen Donnerstag dem Leben des 23jährigen Jihadisten Mohammed Merah in Toulouse ein Ende. Am Vortag hatte sich herausgestellt, dass die insgesamt sieben Morde in Südwestfrankreich – an drei Soldaten in Montauban und Toulouse sowie an drei Kindern und einem Religionslehrer einer jüdischen Schule in Toulouse – nicht auf das Konto eines Neonazis oder Neofaschisten gingen, wie in den Tagen zuvor angenommen worden war. Ab drei Uhr nachts belagerten an diesem Tag Elitepolizisten der Sondereinheit Raid das Wohnhaus des arbeitslosen Automechanikers Mohammed Merah.
Überführt worden war der Jihadist durch die Verbindung zweier Spuren. Die Ermittler hatten insgesamt 576 IP-Adressen ausgewertet, von denen aus eine vom ersten Mordopfer geschaltete Anzeige aufgerufen worden war. Der Soldat Imad Ibn Ziaten hatte eine Annonce aufgegeben, um sein Motorrad zu verkaufen. Jemand hatte sich daraufhin mit ihm getroffen und ihm einen Hinterhalt gestellt. Eine der IP-Adressen führte zu der Mutter Mohammeds und seines Bruders Abdelkader Merah. Die beiden Brüder waren bereits beim Inlandsgeheimdienst aktenkundig geworden: Mohammed wegen zweier Aufenthalte in Afghanistan und Pakistan 2010 und 2011, Abdelkader aufgrund seines offenen Engagements im Umfeld der Salafisten. Noch war dies aber keine eindeutige Spur. Der Inlandsgeheimdienst DCRI erarbeitete eine Liste mit einem Dutzend Namen von Tatverdächtigen. Genau die Hälfte waren bekannten Neofaschisten, zur anderen Hälfte gehörten bekannte Jihadisten.
Am vorigen Dienstag kam dann der zweite, entscheidende Tipp: Ein Auto- und Motorradhändler in Toulouse berichtete, er habe Verdacht geschöpft, weil ein Kunde sich bei einem seiner Angestellten für die Folgen des Umspritzens eines Motorrollers interessiert habe. Zuvor war in der Öffentlichkeit bekannt geworden, dass bei den Morden ein Anfang März ein gestohlener, schwarzer Motorroller als Tatfahrzeug benutzt worden war. Bei den darauffolgenden Taten war von einem weißen Fahrzeug die Rede. Ferner habe sich der Kunde dafür interessiert, wie man die GPS-Peilmarke entfernen könne, die es erlaubt, ein gestohlenes Fahrzeug zu identifizieren. Der junge Mann war dem Autohändler bekannt: Es handelte sich um Mohammed Merah. Daraufhin wurde dessen Wohnung belagert. Der 23jährige empfing die Polizeieinheiten mit Schüssen.
Während der Belagerung, die insgesamt rund 33 Stunden dauerte, unterhielt sich der junge Mann per Walkie-Talkie mit Angehörigen des Raid und des französischen Inlandsgeheimdiensts. Aus den Aufnahmen des drei bis vier Stunden dauernden Gesprächs geht hervor, dass sich Merah freimütig zu seinen Taten bekannt und bedauert habe, »nicht noch mehr Opfer« hinterlassen zu haben. Er habe auch weitere Morde an Soldaten geplant. In den Tagen nach Merahs Tod wurden immer mehr Details über seine jihadistischen Motive und seinen labilen psychischen Zustand öffentlich.
Erste vorliegende Berichte über die Kindheits- und Jugendjahre des in Toulouse geborenen und aufgewachsenen Mannes lassen auf eine gespaltene Persönlichkeit schließen. Merah wird einerseits von vielen, die ihn kannten, als höflich, zuvorkommend und humorvoll beschrieben. Andererseits liegen auch Berichte vor, die ihn als tyrannisch im Umgang mit anderen Menschen beschreiben. So soll er vor zwei Jahren eine Mutter bedroht und deren Tochter geschlagen haben, nachdem diese sich beschwert hatten, weil Merah ihren minderjährigen Sohn und Bruder dazu gezwungen habe, Terror-Videos anzusehen. Den Schilderungen zufolge sei Merah »angenehm« im Umgang mit staatlichen Autoritäten sowie mit den »Weißen«, aber brutal gegenüber Menschen mit Migrationshintergrund gewesen. Offenbar habe er vor allem Menschen, die in seinen Augen gefälligst Muslime zu sein hatten, bestimmte Verhaltensvorschriften aufzwingen wollen. Er selbst habe aber, im Gegensatz zu seinem Bruder Abdelkader – dessen Mitwisser- und eventuelle Komplizenschaft derzeit in Art und Umfang noch nicht genau feststeht –, nicht nach muslimischen Glaubensvorstellungen gelebt. Er habe nicht regelmäßig Moscheen besucht, habe selten gebetet und sei abends häufig ausgegangen.

Auch sein Weg nach Afghanistan führte nicht über die üblichen, ohnehin inzwischen gut überwachten, jihadistischen Netzwerke. Merah reiste offenbar mit eigenen Mitteln und auf ungewöhnlichen Wegen – sogar mit einem weitgehend unbehelligten Aufenthalt in Israel – über Ägypten, Jordanien und Tadschikistan in das mittelöstliche Land. Bei seiner ersten Reise wurde er nach nur vier Wochen von der örtlichen Polizei in Kandahar bei einer Verkehrskontrolle aufgegriffen, und von den US-amerikanischen Behörden in ein Flugzeug gesetzt. Beim zweiten Mal musste er seinen Aufenthalt im pakistanisch-afghanischen Grenzgebiet nach acht Wochen abbrechen, weil er an Hepatitis erkrankte.
Laut Auffassung der Geheimdienste scheiterte Merah also beim Versuch, von den Taliban oder anderen jihadistischen Gruppen aufgenommen und in einem Camp ausgebildet zu werden.
Auch in Frankreich war Merahs Leben nicht gerade erfolgreich. Vielmehr war es von weiteren Erfahrungen des Scheiterns gekennzeichnet. Dazu zählen zwei Gefängnisaufenthalte, die Einlieferung in eine psychiatrische Klinik und die Ausmusterung aus der französischen Armee. Allem Anschein radikalisierte sich Merah weitgehend allein, ohne einer Organisation anzugehören. Dennoch wird vermutet, dass kleinere informelle Netzwerke ihn bei der Vorbereitung seiner Taten unterstützten – obwohl er behauptete, seine Waffenkäufe durch Einbruchdiebstähle selbst finanziert zu haben.
Dass alle Morde kurz vor den Wahlen stattfanden, könnte von ihm geplant gewesen sein, auch die Nähe zum Jahrestag der Bombenattentate vom Madrid am 11. März 2004 könnte bewusst gewählt worden sein. Jihadisten versuchen häufig, Wahlen zu beeinflussen, und in der Regel haben sie eine Vorliebe für die Rechte oder extreme Rechte: Deren Erstarken soll muslimischen Einwanderern und Bewohnern der westlichen Länder demonstrieren, dass jede Hoffnung auf friedliches Zusammenleben hinfällig sei, dass es Solidarität nur »unter Muslimen« geben könne und eine gewalttätige Auseinandersetzung zwischen den Religionsgruppen unvermeidbar sei.

Kurz nach Bekanntwerden der Morde an der jüdischen Schule wurde der französische Wahlkampf offiziell unterbrochen, inoffiziell wurde er jedoch fortgesetzt. Die Konservativen profitierten davon, dass ihr Kandidat Nicolas Sarkozy als Amtsinhaber ohnehin auf allen Kanälen präsent war und seine präsidiale Funktion nutzen konnte, um sich als »Vater der Nation« in Zeiten der Not zu präsentieren.
Der Oppositionspolitiker François Bayrou, Kandidat der christdemokratisch-liberalen Partei Modem, hielt in Grenoble eine Rede, bei der er »Fragen, die die Republik sich stellen muss«, aufstellte – und konzipierte seine Ansprache eindeutig als »Gegenrede von Grenoble«. Dabei spielte er suggestiv auf die zum Skandal gewordene »Brandrede« an, die Sarkozy am 30. Juli 2010 in derselben Stadt gehalten hatte und in der es um »kriminelle Ausländer« sowie um den Entzug der Staatsangehörigkeit eingebürgerter, straffällig gewordener Franzosen ging.
Sarkozy kritisierte Bayrous Worte scharf, hielt sich mit offener Hetze gegen Einwanderer oder religiöse Minderheiten jedoch weitgehend zurück. Stattdessen setzte der Präsident auf sicherheitspolitische Ankündigungen, die jedoch von vielen Beobachtern als populistisch eingestuft wurden. So kündigte er eine strengere Überwachung des Internet an. Der Besuch von Websites, die den Terror verherrlichen, solle zukünftig bestraft werden. Sarkozys Berater rechnen damit, das von »Sicherheitsbedürfnis« geprägte Klima und die Aura des Präsidenten als »Beschützer der Nation« werde ihn in den Umfragen schnell aufsteigen lassen.
Jüdische und muslimische Religionsverbände reagierten zunächst gemeinsam auf die Attentate. Bei diesem gemeinsamen Auftreten blieb es dann auch, nachdem die wahre Identität und die ideologischen Hintergründe des Täters bekannt geworden waren. Jüdische und muslimische Religionsvertreter wurden etwa gemeinsam im Elysée-Palast empfangen, und beide verwahrten sich gegen »Verallgemeinerungen« und dagegen, dass die Morde von Toulouse etwa zur Hetze gegen die muslimische Minderheit Anlass bieten könnten.

Dies trug sicherlich zum Klima der »überkonfessionellen nationalen Einheit« bei, welches auch die Demonstrationen vom vergangenen Wochenende kennzeichnete. In Toulouse nahmen etwa 6 000 Menschen an einem Schweigemarsch teil, in Paris folgten rund 4 000 Personen dem Aufruf jüdischer und antirassistischer Verbände.
Die rechtsextreme Kandidatin Marine Le Pen stand kurz vor den Morden in den Umfragen ziemlich schelcht da. Dazu trug unter anderem bei, dass ihr Bemühen um eine »seriöse« wirtschafts- und sozialpolitische Programmatik als nicht besonders glaubwürdig ankam. Sie versucht nun, die Morde von Toulouse politisch für sich zu nutzen, bleibt aber vorsichtig. Denn angesichts des Klimas, das eher von Trauer und dem Wunsch nach »nationaler Einheit gegen die Extremisten« geprägt ist, könnte sich eine Verschärfung der rechtsnationalistischen, ausländerfeindlichen Rhetorik im Wahlkampf als kontraproduktiv erweisen.
So legte Le Pen in ersten Stellungnahmen immer auch Wert darauf, dass sie keineswegs alle in Frankreich lebenden Muslime angreife – es gebe auch »die Guten«, die Assimilierten, so der Tenor. Übel seien jene Strömungen, die die Identität als Muslime über die Identität als Franzosen stellten. Denn das Problem am Salafismus – welcher tatsächlich den Nationalstaat als »unislamisch« verwirft – sei dessen »anationaler Charakter«, so Le Pen. Auch Mohammed Merah sei ein »vaterlandsloser Geselle« gewesen, da er sich »zuerst als Muslim und nicht als Franzose« gefühlt habe. Die Nation sei dagegen eine Schicksalsgemeinschaft, die auch jene anständigen Muslime einbeziehe, die dies wünschten. Am Sonntag verschärfte Marine Le Pen allerdings ihre Rhetorik und agitierte auf einer Veranstaltung vor 1 500 Menschen: »Wie viele Mohammed Merahs befinden sich in den Booten, in den Zügen, in den Flugzeugen, die jeden Tag in Frankreich ankommen?«