40 Jahre nach dem »Radikalenerlass«

Du sollst die Verfassung lieben

40 Jahre nach dem »Radikalenerlass« fordern Betroffene Rehabilitation, Entschä­digung und die Herausgabe der über sie angelegten Akten. Sie werden seit kurzem auch von der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) unterstützt.

»Ulrike Meinhof als Lehrerin oder Andreas Baader als Polizist. Das geht nicht«, sagte 1972 der Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen, Heinz Kühn (SPD). Es war die Zeit der großen RAF-Hysterie. Die damalige sozialliberale Bundesregierung unter Willy Brandt nutzte diese Stimmung, um in einem gemeinsamen Beschluss mit den Ministerpräsidenten der Länder am 28. Januar 1972 bundesweit gültige Richtlinien durchzusetzen, die auf Länderebene bereits gebräuchlich waren. Sogenannten Extremisten sollte demnach die Aufnahme in den öffentlichen Dienst als Beamte, aber auch als Angestellte und Arbeiter verweigert werden.
Offiziell richteten sich die »Grundsätze zur Frage der verfassungsfeindlichen Kräfte im öffentlichen Dienst«, die im Amtsdeutsch auch als »Extremistenbeschluss« und in der Öffentlichkeit meist als »Radikalenerlass« bezeichnet wurden, gegen »Linksextremisten« und »Rechtsextremisten«, tatsächlich wurden sie fast ausschließlich gegen Linke angewandt. Fortan gab es bei Bewerbern um eine Aufnahme in den öffentlichen Dienst eine Regelanfrage bei den Verfassungsschutzämtern. Um abgelehnt zu werden, musste man keineswegs Mitglied einer verbotenen oder offen kommunistischen Organisation sein. Es reichte beispielsweise, sich in einem legalen Verein zu betätigen, in dem es auch Kommunisten gab. Zuweilen galt schon der Kontakt zu diesen als Beweis der Verfassungsfeindlichkeit. Auch Kriegsdienstverweigerern und Ostermarschierern drohte die Ablehnung oder die Entlassung.

In der Zeit vor der massenweisen Privatisierung öffentlicher Einrichtungen war beinahe jeder Briefträger, jede Lokführerin und jeder Bewerber um ein Lehramt auf eine Stelle im Staatsdienst angewiesen. In vielen Berufsgruppen kam der »Radikalenerlass« einem Berufsverbot gleich, auch wenn er juristisch betrachtet kein solches war. Vor allem in den siebziger und achtziger Jahren wurden insgesamt mehr als 3,5 Millionen Menschen überprüft, über 1 200 Bewerber abgelehnt, mehr als 250 Menschen aus dem Staatsdienst entlassen. Das ehemalige DKP-Mitglied Uwe Koopmann, als studierter Lehrer selbst Betroffener, konstatiert: »Es gibt Leute, die sind daran kaputtgegangen, im wahrsten Sinne des Wortes.«
Zwar stellte das Bundesverfassungsgericht 1975 fest, dass die bloße Mitgliedschaft in einer Organisation nicht ausreiche, um die Einstellung in den öffentlichen Dienst zu verweigern. Doch besonders die Bundesländer, und hier vor allem die von der Union geführten, ignorierten häufig diese Vorgabe. Viele Betroffene klagten, doch die Verfahren zogen sich mitunter über Jahre und Jahrzehnte hin, so dass die Kläger gezwungen waren, sich in der Zwischenzeit andere Erwerbsquellen zu suchen. Auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte stellte 1995 im Fall einer wegen ihrer DKP-Mitgliedschaft aus dem Staatsdienst entlassenen und später wieder eingestellten Lehrerin einen Verstoß gegen das in der Europäischen Menschenrechtskonvention verankerte Recht auf Meinungs- und Versammlungsfreiheit fest und verurteilte die Bundesrepublik zur Zahlung von Schadensersatz.
Noch 2004 verweigerte das Oberschulamt Karlsruhe dem Heidelberger Antifaschisten Michael Csaszkóczy die Anstellung als Lehrer im baden-württembergischen Staatsdienst wegen seiner Mitgliedschaft in der als »linksextremistisch« eingestuften Antifaschistischen Initiative Heidelberg. Erst 2007 hob das oberste Verwaltungsgericht in Baden-Württemberg diese Entscheidung auf, wenige Monate später erhielt Csaszkóczy eine Stelle als Lehrer. Zwei Jahre später sprach ein Gericht ihm 33 000 Euro Schadensersatz zu.

Zwar hob die sozialliberale Bundesregierung bereits 1976 den »Extremistenbeschluss« wieder auf, doch die Landesregierungen blieben noch lange bei der Vorgehensweise. Erst 1991 schaffte Bayern als letztes Bundesland offiziell die Regelanfrage beim Verfassungsschutz ab. Ersatzweise wird aber bis heute in den meisten Ländern eine sogenannte Bedarfsanfrage beim Verfassungsschutz durchgeführt, wenn sich Zweifel an der »Verfassungstreue« eines Bewerbers ergeben. Formal gibt es seit Anfang dieses Jahres allerdings den »Extremistenbeschluss« auf Länderebene nicht mehr, nachdem der Stadtstaat Bremen als letztes Bundesland den »Radikalenerlass« abgeschafft hat.
Der 1972 amtierende Bundeskanzler Willy Brandt soll schon 1980 eingeräumt haben, der Beschluss sei ein Fehler gewesen. Sein Nachfolger Helmut Schmidt konstatierte, man habe »mit Kanonen auf Spatzen geschossen«. Doch das von der SPD verfolgte Ziel wurde durchaus erreicht: Eine Alternative links von der Sozialdemokratie gab es im etablierten Parteiensystem lange nicht. Erst mit der Entstehung der Grünen und nach dem Zusammenbruch des Realsozialismus änderte sich das.
Vielen Betroffenen nützt dies allerdings nichts. Sie haben deshalb Ende Januar zum 40. Jahrestag des Beschlusses eine Kampagne begonnen. In ihrem Aufruf auf der Website berufsverbote.de heißt es: »Wir als damalige Betroffene des ›Radikalenerlasses‹ fordern von den Verantwortlichen in Verwaltung und Justiz, in Bund und Ländern unsere vollständige Rehabilitierung.« Die Bespitzelung einer kritischen, politischen Opposition, so die Initiatoren, müsse ein Ende haben. »Wir fordern die Herausgabe und Vernichtung der ›Verfassungsschutz‹-Akten, wir verlangen die Aufhebung der diskriminierenden Urteile und eine materielle Entschädigung der Betroffenen.« Bislang haben 231 Unterstützer den Aufruf unterzeichnet.
Auch die Gewerkschaften beginnen langsam, die eigene Geschichte kritisch zu untersuchen. Viele vom »Radikalenerlass« betroffene DKP-Mitglieder fanden zwar auch Unterstützung und Rechtsbeistand. Andererseits erließen viele Gewerkschaften eigene Unvereinbarkeitsbeschlüsse, die sich vor allem gegen Mitglieder maoistischer K-Gruppen richteten. Der Hauptvorstand der Lehrergewerkschaft GEW verabschiedete kürzlich eine Resolution, in der der »Radikalenerlass« als »eine politisch und rechtsstaatlich falsche Entscheidung« bewertet wird, und fordert »von der Politik« für die Betroffenen »Rehabilitationsmaßnahmen und Entschädigungsleistungen«. Auch die eigenen Entscheidungen beurteilt die Gewerkschaft nachträglich als falsch: »Die GEW bedauert die sogenannten Unvereinbarkeitsbeschlüsse und bittet die davon Betroffenen um Entschuldigung.«

Doch die Gesinnungsprüfungen auf Grundlage einer totalitarismustheoretischen Extremismus­ideologie gehören keineswegs der Geschichte an. Seit Ende 2010 verlangt die Bundesfamilienministerin Kristina Schröder (CDU) von Empfängern der Fördergelder aus den Bundesprogrammen gegen Rechtsextremismus ein Bekenntnis zur »freiheitlich-demokratischen Grundordnung«. Die geförderten Einrichtungen müssen dabei sogar für die Verfassungstreue ihrer Kooperationspartner bürgen. Selbst einem Gutachten des Wissenschaftlichen Dienstes des Bundestages zufolge ist diese »Extremismusklausel« vermutlich verfassungswidrig. Doch in Bayern, dem Land, das sich schon immer als besonders eifrig bei der Bekämpfung von linken »Extremisten« im öffentlichen Dienst hervorgetan hat, verlangt die regierende Koalition aus CSU und FDP neuerdings von Bewerbern sogar den Nachweis, keine Verbindungen zur Linkspartei zu haben. Denn diese gilt dort als »linksextremistisch«.