Der Prozess gegen Verena Becker

Täter, Opfer, BKA

Seit September 2010 steht Verena Becker wegen des Mordanschlags auf Generalbundesanwalt Siegfried Buback vor Gericht, die Schlussplädoyers sollen Ende April gehalten werden. Im Prozess geht es nicht nur um eine Individualisierung der Geschichte der Roten Armee Fraktion, sondern auch um deutsche Geschichtspolitik.

Während einer kurzen Prozesspause steht Michael Buback im ersten Stock des Stuttgarter Oberlandesgerichts auf dem Flur. Er versichert seinem Gesprächspartner mit lauter Stimme, es gehe ihm nicht um eine Verurteilung Verena Beckers, »weil sie ein paar Briefmarken abgeleckt haben könnte«. Die Frage einer Verurteilung sei letztlich ohne Bedeutung, für ihn sei nur wichtig, »zu wissen, wie es war«.
Der Sohn möchte die Wahrheit erfahren über den 7. April 1977, an dem sein Vater, der damalige Generalbundesanwalt Siegfried Buback, von einem Kommando der Roten Armee Fraktion (RAF) erschossen wurde. Nachdem in den achtziger Jahren Knut Folkerts, Christian Klar und Brigitte Mohnhaupt wegen des Attentats in Karlsruhe angeklagt und zu lebenslanger Haft verurteilt worden sind, muss sich seit September 2010 auch Verena Becker wegen des gemeinschaftlich begangenen Mordes an Buback und seinen zwei Begleitern vor Gericht verantworten. Ihr wird vor­geworfen, an der Planung und Organisation der Ermordung beteiligt gewesen zu sein und die Bekennerbriefe verschickt zu haben.
Bubacks Sohn, der als Nebenkläger auftritt, hat jahrelang selbst Ermittlungen angestellt. Er hält es für erwiesen, dass die drei verurteilten RAF-Mitglieder nicht an der Ausführung der Tat beteiligt waren. Die von ihm gesammelten und in einem Buch dokumentierten Indizien deuten auf Becker als mögliche Todesschützin. Da sie trotz verschiedener Verdachtsmomente nie wegen des Attentats angeklagt wurde, gebe es für seine Familie »keinen vernünftigen Zweifel« daran, dass Becker von »staatlichen Stellen« gedeckt worden sei.

Für diesen »zweiten Tod« seines Vaters macht Buback auch die Bundesanwaltschaft verantwortlich. Sein Verhältnis zu den Karlsruher Richtern, die sich nicht zuletzt aufgrund seiner Nachforschungen veranlasst sahen, ein neues Ermittlungsverfahren einzuleiten, ist deshalb zerrüttet. In Stuttgart führt nun ausgerechnet Bundesanwalt Walter Hemberger die Anklage, dem Buback in seinem Buch unterstellt, »dass er eine Front halten wollte, vielleicht halten musste«, die nach der Faktenlage nicht zu halten gewesen sei.
Im Verlauf der Verhandlung entluden sich die Spannungen zwischen Ankläger und Nebenkläger gelegentlich in offenem Streit. Gleichzeitig ließ die Gereiztheit zwischen Hemberger und Buback die seltsame Einigkeit zwischen Anklage und Verteidigung umso deutlicher hervortreten. Während Beckers Anwälte daran interessiert sind, die Aussagen der Zeugen des Nebenklägers zu widerlegen oder wenigstens ihre Glaubwürdigkeit zu erschüttern, will sich die Staatsanwaltschaft keine Versäumnisse oder Fehlurteile in den früheren Verfahren nachweisen lassen.
Nach über 80 Verhandlungstagen und mehr als 150 Zeugenvernehmungen sind für Ende April die Schlussplädoyers angekündigt. Schon jetzt deutet sich an, dass das Gericht Becker allenfalls wegen Beihilfe, nicht aber wegen Mittäterschaft zur Rechenschaft ziehen wird. Unabhängig vom Ausgang des Prozesses will Buback nicht in Berufung gehen. Obwohl er während der Sitzung immer noch gern forsch dazwischenfragt, scheint ihn der Prozess doch zermürbt zu haben. Dass die Mörder seines Vaters nie ermittelt wurden, ist für ihn unerträglich. Doch Buback ist nicht nur der »Geschädigte«, der seinen Schmerz über den Verlust des Vaters zeigt. Als »Angehöriger«, der gegenüber den Strafverfolgungsbehörden einen privilegierten Informationsaustausch beansprucht oder als »Terroropfer« vor Gericht eine besondere Rücksichtnahme einfordert, spielt Buback eine besondere Rolle in der deutschen Geschichtspolitik. Seine Frage nach der individuellen Schuldzuweisung verdrängt die Frage nach den gesellschaftlichen Bedingungen, die zur Entstehung des bewaffneten Kampfs geführt haben. Wenn die Täter als einfache Kriminelle und unmoralische Verbrecher dargestellt werden, kann über die politischen Motive der militanten Linken geschwiegen werden. Von »einigen, die zu unterschiedlichen Zeiten in der RAF waren«, gab es im Juni 2010 eine entsprechende Stellungnahme zum Stuttgarter Prozess: »Worum es hier wirklich geht, ist, die Auseinandersetzung mit der Geschichte bewaffneter Politik auf die Ebene von Mord und Gewalt runterzuziehen.«
Stefan Wisniewski trug bei seinem Zeugenauftritt im März 2011 Siegfried Bubacks NSDAP-Mitgliedsnummer auf dem Rücken seiner Jacke. Damit war das postnazistische Kontinuum in der bundesrepublikanischen Nachkriegsgesellschaft angedeutet. Doch die Provokation des ehemaligen RAF-Mitglieds blieb folgenlos. Die Funktion, die Siegfried Buback, der einstige Parteigänger der Nationalsozialisten, beim Aufbau des staatlichen Repressionsapparats in den siebziger Jahren innehatte, war im Prozess kein Thema.
Gegen die Individualisierung der RAF-Geschichte wehrten sich die Ehemaligen auch dadurch, dass sie sich geschlossen auf ihr umfassendes Aussageverweigerungsrecht nach Paragraph 55 der Strafprozessordnung beriefen. Diese Haltung provozierte insbesondere den Vorsitzenden Richter Hermann Wieland. Gegenüber der Zeugin Brigitte Mohnhaupt drohte er mit einer höheren Gerichtsbarkeit, vor der sie im »Übergang vom Leben zum Tod« stehen und sich für ihr Leben rechtfertigen müsse. Als seine Einschüchterungsversuche fehlschlugen, schimpfte er: »Also auch diese Chance haben Sie vergeben!« Wiederholt warf er den Zeugen »Gewissenlosigkeit« vor, und wo immer er das Zeugnisverweigerungsrecht in Frage gestellt sah, drohte Wieland mit Beugehaft. Obwohl der Bundesgerichtshof alle diesbezüglichen Anträge ablehnte, wurde im Dezember vorigen Jahres auch an das ehemalige RAF-Mitglied Christa Eckes eine Ladung zum Beugehaftantritt verschickt. Dem Gericht war bekannt, dass sie an Leukämie erkrankt und in stationärer Behandlung war, doch erst nachdem ein ärztliches Attest bescheinigt hatte, dass der Ausfall ihrer Therapie durch eine Verlegung in ein Gefängniskrankenhaus unmittelbar lebensbedrohlich sein würde, wurde die sofortige Vollstreckung der sechsmo­natigen Zwangsmaßnahme ausgesetzt.

In der Öffentlichkeit fanden die Schikanen des 6. Stuttgarter Strafsenats nur einen kurzen Widerhall. Die Berichterstattung über den Prozess folgte ansonsten dem popkulturellen Drehbuch. Die ehemaligen RAF-Mitglieder wurden anlässlich ihrer Auftritte vor Gericht so beschrieben, wie man sie aus den Kinofilmen der vergangenen Jahre kennt: Die Herren »lässig mit breitem Schritt«, in »Lederjacke« oder »Kapuzenpulli«, »die Stiefelletten auf Hochglanz gebürstet«. Mohnhaupt blieb die Rolle der »eisernen Lady der RAF«, der man heute wie damals eine »Führungsrolle« zuschrieb. Die »Sympathisantenszene« spielte in diesem Spektakel auch ihren Part: Sie demonstrierte zum Besuch der alten Helden »Solidarität mit den zehn ehemaligen Militanten aus der RAF«.
Meistens blieben die Stuhlreihen für Prozessbesucher jedoch ziemlich leer. Für weite Teile der radikalen Linken gehört die Geschichte des bewaffneten Kampfs zu einer Vergangenheit, die man aufgearbeitet hat. Der Antisemitismus in der antiimperialistischen Politik der RAF ist offengelegt, die Strategie der »Stadtguerilla« als »Rote Armee Fiktion« entlarvt. Es geht nicht mehr um »die revolutionäre Befreiung des Volkes«, dring­licher ist die Analyse und Kritik der klassenübergreifenden Vereinigung zum deutschen Mob und der erinnerungspolitischen Entsorgung der NS-Vergangenheit.
Doch zur Geschichtsschreibung der Berliner Republik gehören auch die Erzählungen der Angehörigen von RAF-Opfern. Buback deutet den Zusammenhang an, wenn er sein Buch der Mutter widmet, »die zwei für sie sehr wichtige Menschen durch Gewalt verloren hat: ihren Vater im Zweiten Weltkrieg und ihren Mann in scheinbarer Friedenszeit«. Auch Corinna Ponto beschreibt, wie sich nach dem Mord an ihrem Vater Jürgen Ponto, dem damaligen Vorstandsvorsitzenden der Dresdner Bank, für ihre Mutter »zwei deutsche Geschichtsachsen« verschränkten. Doch anders als das »kollektive Leid« durch »Bombenkrieg« und »Vertreibung« ist die RAF-Zeit noch nicht im kulturellen Gedächtnis der Deutschen verankert. »Die Bomben, die Russen, die Terroristen«, das bleibt vorerst noch ein von der Mutter skizzierter persönlicher Leidensweg. Andererseits greift die Tochter deren Erzählmuster später selbst auf. Die Vergangenheitskonstruktion im Familiengedächtnis kennt nur die »Opferschaft«, der Vorfahre bleibt stets »der verschmitzt lächelnde Großvater im Bilderrahmen«. Die Geschichte der Angehörigen trägt zur Emotionalisierung des Vergangenheitsdiskurses bei und verhindert jede Einsicht in die gesellschaftlichen Verhältnisse, aus denen der bewaffnete Kampf und überhaupt jede Kritik an der postnazistischen Nachkriegsgesellschaft hervorging. Der Prozess gegen Verena Becker ist deshalb nicht nur ein Epilog auf die »bleierne Zeit« der Bundesrepublik, sondern auch eine aktuelle Inszenierung der deutschen Ideologie.