Die EU will an Land gegen somalische Piraten vorgehen

Krieg hinter dem Strand

Die EU hat die Operation »Atlanta« ausgeweitet. Künftig werden Piraten nicht nur vor der Küste Somalias, sondern auch an Land verfolgt. Dazu muss die Bundesregierung noch ein neues Mandat für die Bundeswehr verabschieden.

Als Verteidigungsminister Thomas de Maizière (CDU) im vorigen Jahr über die Bundeswehrreform abstimmen ließ, bemühte er sich um Konsens. »In Deutschland ist es gute Tradition, dass über die Bundeswehr Einvernehmen zwischen Regierung und Opposition herrscht«, sagte de Maizière im Bundestag. Insgesamt weniger Truppen, aber fast 50 Prozent mehr Soldaten, die tatsächlich für Kampfeinsätze bereitstehen – so wollte de Maizière die militärische Schlagkraft Deutschlands stärken. Grüne und SPD enttäuschten ihn nicht. Eine »verschlankte Bundeswehr« könne der »internationalen Verantwortung Deutschlands besser gerecht werden«, sagte etwa Jürgen Trittin (Grüne).
Ein Jahr später ist die Reform umgesetzt, auf den Konsens kann die Bundesregierung nun verzichten: Erstmals will sie auch ohne breite Zustimmung des Bundestags ein Mandat für einen größeren Auslandseinsatz. Ende März hatten die EU-Außenminister die dem Kampf gegen Piraterie gewidmete Mission »Atalanta« ausgeweitet. Künftig sollen Seeräuber nicht mehr nur vor der Küste Somalias, sondern auch am Strand sowie auf Binnengewässern verfolgt werden. Ihre Boote, Treibstofftanks und Waffenlager sollen in diesen Gebieten auch aus der Luft beschossen werden dürfen. Bodentruppen will die EU allerdings nicht einsetzen. Wie genau die Grenzen zwischen Uferbereich und Hinterland abgesteckt werden sollen, ist noch unklar. Die Rede ist von einem Streifen von etwa zwei Kilometern. Die EU erklärte, die somalische Übergangsregierung habe »nichts dagegen«.

»Die Gefährdung durch Piraten, von Leib und Leben deutscher Seeleute, sie kann nicht hingenommen werden«, sagte Bundesaußenminister Guido Westerwelle (FDP). Er sei überzeugt, dass es »unsere nationale Verpflichtung« sei, »dass unsere Staatsbürger, die in der Seefahrt auch für den Handel in der Welt sorgen, geschützt werden«. Und deshalb sei es auch »nationale Pflicht, gegen Piraterie robust vorzugehen«. Diesmal allerdings macht die Opposition nicht mit. »Die EU-Außenminister ignorieren, dass Piraten Kriminelle und keine feindlichen Kämpfer sind«, sagte der stellvertretende Fraktionsvorsitzende der Grünen im Europa-Parlament, Reinhard Bütikofer. »Sie an Land zu beschießen, ohne dass von ihnen direkte Gefahr ausgeht, ist schlicht völkerrechtswidrig.« Der SPD-Verteidigungspolitiker Rainer Arnold hatte eher strategische Einwände: Die lernfähigen Piraten würden ihre Stellungen einfach ins Hinterland verlegen, fürchtet er.
Doch die Außenpolitiker der schwarz-gelben Bundesregierung nehmen den Einsatz gegen die Piraten offenbar zum Anlass, Zweifel an ihrer Bereitschaft zu militärischen Einsätzen zu zerstreuen, die bei den Nato-Staaten nach der deutschen Ablehnung einer Beteiligung am Libyen-Einsatz aufgekommen waren. »Ich glaube, dass die Koa­lition dieses Mandat notfalls auch allein verabschieden wird«, sagte Rainer Stinner, der außenpolitische Sprecher der FDP-Bundestagsfraktion, der Financial Times Deutschland. Ohne größeres Aufsehen hatte zuvor schon die Nato ihre Mission »Operation Ocean Shield« um zwei Jahre bis 2014 verlängert. Im Rahmen des unter türkischer Führung stehenden »Ocean Shield« hat die Nato vier Kriegsschiffe in den westlichen Teil des Indischen Ozeans entsandt. Sie unterstützen die unter EU-Führung stehenden »Atalanta«-Einheiten, an denen die Bundeswehr nach eigenen Angaben mit »bis zu 1 400 Soldaten« beteiligt ist.

Tatsächlich hat vor allem Deutschland besondere Interessen an der Piraten-Mission. Dem jüngsten »International Piracy Report« des International Maritime Bureau (IMB) zufolge wurden von Januar bis September 2011 weltweit 352 Schiffe durch Piraten angegriffen. Fast die Hälfte war in den drei Billigflaggen-Staaten Panama, Liberia und den Marshall-Inseln registriert, unter deutscher Flagge fuhren nur drei Schiffe. Doch die IMB-Statistik der Länder, in denen von Piraten attackierte Schiffe »kontrolliert oder gemanagt« wurden, führt Deutschland an: 48 ausgeflaggte Schiffe deutscher Reedereien bekamen es in diesem Zeitraum mit Piraten zu tun – mehr als aus jedem anderen Reeder-Staat. Dem IMB zufolge entfällt etwa die Hälfte der weltweiten Piraterie auf Aktivitäten der somalischen Piraten. In der Zeit vom 1. Januar bis zum 19. März dieses Jahres haben sie sieben Schiffe entführt – weltweit gab es in dieser Zeit nur neun Entführungen. Derzeit halten somalische Piraten 197 Seeleute von 13 Schiffen als Geiseln. Gebremst hat »Atalanta« sie nicht: Nach Angaben des IMB gab es vor Süd-Somalia von Januar bis September 2007, vor Beginn der Militär­operation, 26 Überfälle von Piraten. Im gleichen Zeitraum des Jahres 2011 waren es 130 Überfälle. Gleichzeitig geht allerdings die Zahl der Überfälle im benachbarten Golf von Aden seit 2009 zurück.
Nun fürchten viele, dass auch die somalische Zivilbevölkerung ins Visier der EU-Truppen geraten könnte, wenn diese den Piraten auf dem Festland nachstellen. »Die Bundeswehr ist vor Somalia alltäglich und unbeobachtet mit Zivilisten, Händlern, Fischern, Flüchtlingen und Piraten konfrontiert und greift massiv in deren Freiheit und Rechte ein«, schreibt Christoph Marischka in einer Stellungnahme der Tübinger Informationsstelle Militarisierung (IMI). »Sie entert, durchsucht und zerstört manchmal sogar Schiffe, schießt gelegentlich sogar auf Menschen und nimmt diese in Gewahrsam, um sie irgendwo an der somalischen Küste abzusetzen oder ›Sicherheitskräften‹ in Drittstaaten zu übergeben.« Piraterieverdäch­tige landen meist in Kenia, das im Gegenzug von der EU finanzielle Unterstützung für die Ausbildung und Ausrüstung der Polizei erhält. Schon im vergangenen Jahr hat die IMI darauf hingewiesen, dass die EU im Namen der Piratenbekämpfung einen ganze Reihe hochgradig zweifelhafter Regimes der Region in ihre Militäroperationen integriert hat: Jemen, Äthiopien, Kenia, Uganda, Djibouti. Diese würden nicht nur »auf Kosten der dortigen Bevölkerung« unterstützt. Es stehe auch zu befürchten, dass sowohl der somalische Bürgerkrieg als auch benachbarte Konflikte durch die von der EU forcierte »unkontrollierte Aufrüstung« in der Region eskalieren könnten.

Um dagegen den menschenfreundlichen Charakter des deutschen Kriegseinsatzes vor Somalia zu betonen, besuchte Entwicklungsminister Dirk Niebel (FDP) am 1. April Mogadischu. Es war der erste Besuch eines deutschen Ministers dort seit 19 Jahren. Niebel erinnerte an die Entführung des Lufthansa-Flugzeugs »Landshut« durch ein Palästinenser-Kommando. »Vor 35 Jahren hat Somalia Deutschland hier auf diesem Flugplatz beim Kampf gegen den Terrorismus und dem Schutz seiner Souveränität unterstützt«, sagte der Minister. »Heute bin ich hier, um Somalia beim Kampf gegen den Terror und bei der Wiedererlangung seiner Souveränität unserer Unterstützung zu versichern.« Niebel sagte zwölf Millionen Euro Hilfsgelder für Somalia zu, weitere 90 Millionen Euro, die beim Ausbruch des Bürgerkriegs 1993 eingefroren worden waren, sollen wieder freigegeben werden. Niebel forderte die radikalislamischen al-Shabab-Milizen auf, sich an einer »politischen Lösung für Somalia konstruktiv zu beteiligen«. Al-Shabab führt in Somalia seit fünf Jahren einen blutigen Kampf gegen die Übergangsregierung. Um dem Appell mehr Überzeugungskraft zu verleihen, verwies er auf die Erfahrungen mit deutscher Friedenserzwingung in Afghanistan: Dort werde inzwischen schließlich auch mit den Taliban gesprochen.