Skandal um Tests beim American Football

Wonderlic 4, Claiborne Millionen

Das Ergebnis eines eigentlich geheimen Begabungstests sorgt im American Football für Aufregung. Der Karriere des größten Talents dürfte das jedoch nicht schaden.

Die Schlagzeile war zwar nur für Fans verständlich, aber dafür doppelt eklig: »Claiborne gives birth to a four on the Wonderlic«, lautete der Aufmacher der Insider-Rubrik »Pro Football Talk« auf NBC Sports. Neben dem nicht sehr gelungenen Wortspiel mit dem Namensbestandteil »born«, der »geboren« bedeutet, enthielt die Schlagzeile eine Information, die in den folgenden Tagen zu heftigen Diskussionen unter American Football-Experten führen sollte: Der 22jährige Spitzen-Nachwuchsspieler Morris Claiborne hatte im nach seinem Erfinder kurz Wonderlic genannten Intelligenz-, Begabungs- und Problemlösungstest nur vier Punkte und damit vermutlich das niedrigste Ergebnis erzielt, das es in dieser Sportart je gab.
Für die Nachwuchsathleten, die sich Jahr für Jahr Hoffnungen auf einen Platz in einem der NFL-Teams machen können, sind Tests derzeit an der Tagesordnung. Vor der Draft, bei der sich die Vereine nacheinander aus dem »Talentpool« die für sie passenden Talente aussuchen können, werden sie umfassend öffentlich vermessen, getestet und dürfen ihre athletischen Fähigkeiten gleich mehrmals unter Beweis stellen: Beim NFL Scouting Combine werden sie inklu­sive Drogentest medizinisch untersucht, Größe, Gewicht und Spannweite der Arme werden gemessen und selbst die 150 kg schweren Linemen werden aufgefordert, aus dem Stand möglichst hoch und möglichst weit zu springen, zu sprinten und ihre Agilität in verschiedenen Übungen unter Beweis zu stellen. Die erzielten Ergebnisse werden im Fernsehen live übertragen und wenn die Kameras mal ein Gewicht nicht mitbekommen, lässt es sich später erstellten Listen entnehmen. Die Draft und ihre Vortests sind schließlich mittlerweile zu einem regelrechten Medien­ereignis geworden. Gleich zwei Fernsehsender übertragen sie live und in kompletter Länge – ESPN und das NFL-Network –, und die sieben Runden ziehen sich immerhin über drei Tage hin und kommen dabei auf eine Gesamtlänge von rund 25 Stunden, plus Vor- und Nachberichterstattung natürlich.
In einem Punkt allerdings sehen die Regeln ausdrücklich den Schutz des ansonsten gläsernen Spielers vor: Das Wonderlic-Ergebnis darf weder gezeigt noch veröffentlicht werden. Was daran liegt, dass der Test angeblich Aufschlüsse über die Intelligenz des zu Draftenden gibt: Bei den schriftlich innerhalb von zwölf Minuten zu beantwortenden 50 Fragen soll ein Ergebnis von 20 richtig beantworteten Fragen einem IQ von 100 entsprechen. Doch obwohl diese Testergebnisse streng vertraulich sein sollen – sie sind nur für die 32 NFL-Franchises bestimmt und dürfen nicht nach außen dringen –, werden jedes Jahr viele dieser Resultate den Medien zugespielt und veröffentlicht. Vor allem von Interesse sind dabei besonders niedrige oder besonders hohe Ergebnisse, aber auch durchschnittliche Werte von allgemein als aussichtsreich geltenden Kandidaten werden gerne abgedruckt.
Und so verbreitete sich das angebliche Testergebnis von Cornerback Morris Claiborne innerhalb von wenigen Minuten nach der Veröffentlichung. Claiborne gilt als der beste Spieler, der auf seiner Position dieses Jahr zur Verfügung steht, er wird von Experten sogar als einer der besten fünf Aspiranten 2012 eingeschätzt. Der junge Mann, dessen Weg in den kommenden Wochen vom College-Spieler zum Millionär führen sollte, wird seither in Foren und Blogs mit hämischen Kommentaren überschüttet. (Will man das Ergebnis eines Wonderlic-Tests in einen IQ umrechnen, so bedient man sich der Formel IQ = Wonderlic x 2 + 60. Vier Punkte sollen also einem IQ von 68 entsprechen.)
Experten halten den Wonderlic-Test allerdings für problematisch, nicht zuletzt, weil damit versucht wird, in relativ kurzer Zeit ein Ergebnis zu bekommen. Je kürzer die Zeit ist, in der ein solcher Test absolviert werden muss, desto größer sind auch die Auswirkungen von Stress oder Unsicherheit – bereits ein kurzes Stocken oder Hängenbleiben bei einer einzigen Aufgabe kann entscheidende Folgen haben. Probleme wie Prüfungsangst werden dadurch verstärkt.
Der somit an sich schon umstrittene Test muss im Falle der NFL-Aspiranten jedoch mit noch mehr Vorbehalt gesehen werden. Denn er ist darauf angelegt, »nur einmal unter guten Bedingungen absolviert zu werden«, sagt Greg Gabriel, der 29 Jahre lang als Scout bei verschiedenen NFL-Teams arbeitete. »Die Aspiranten absolvieren den Test im Trainingscenter für das Scouting Combine vier, fünf Mal pro Woche, und das bis zu sechs Wochen lang«, so Gabriel weiter. »Ich selber habe Kandidaten gesehen, die ihr Ergebnis durch dieses Üben um 20 Punkte verbesserten.«
Greg Gabriel will noch mehr erfahren haben: »Claiborne hat eine Lernbehinderung. Ich weiß nichts Genaues darüber, außer dass dieses Handicap mit dem Lesen zu tun hat. Er kennt und weiß um seine Behinderung, und auch die Universitäten haben das bei seiner Anwerbung gewusst.« An der von Claiborne ausgewählten Uni, der LSU, sei er mit den dort zur Verfügung stehenden Mitteln gefördert worden. Claibornes Agent Bus Cook dementierte die Lernschwäche allerdings sofort – das ist nachvollziehbar, denn eine Lernschwäche wäre den an seinem Klienten interessierten Teams viel schwerer zu erklären als das bloße Versagen beim Test.
Die Verantwortlichen der NFL äußern sich nicht zum Fall Morris Claiborne. Den Wonderlic-Test halten sie für erforderlich, weil American Football ein komplexes und schnelles Spiel ist. Angriffs- und Verteidigungstaktiken erfordern viel Lernaufwand und das Ganze muss zusätzlich noch innerhalb von Sekundenbruchteilen im Spiel abrufbar sein.
Steve Mariucci, ehemaliger Headcoach der San Francisco 49ers und der Detroit Lions, heute Studioexperte bei NFL Network, erklärt das so: »Die Wonderlic-Testergebnisse sind deshalb wichtig, weil sie den Teams einen Hinweis geben, wie sie die Schwerpunkte in den Vorstellungsgesprächen, die die Spieler zwischen Combine und Draft bei den einzelnen Vereinen haben, setzen müssen. Bei einem Kandidaten, der ein schlechtes Wonderlic-Ergebnis hatte, wird im Gespräch mit den Coaches einfach mehr darauf geachtet, ob er die Beschreibungen von komplexen – für seine Position wichtigen – Taktiken versteht und nach einigen weiteren Fragen diese Taktiken in eigenen Worten wiedergeben kann.«
Eine Untersuchung der Fresno State University aus dem Jahr 2009 zeigte jedoch Überraschendes: Je niedriger das Wonderlic-Ergebnis für Cornerbacks und Safeties war, desto besser verlief später ihre Karriere in der NFL. Das passt zu seit Jahrzehnten existierenden Spekulationen, dass Coaches allgemein nur ungern Spieler verpflichteten, die zu hohe Wonderlic-Ergebnisse hatten – denn die Trainer fänden es einfacher, die Mannschaft zu motivieren, wenn sie selbst die hellsten Köpfe in der Kabine seien.
Die meisten Experten sind sich daher auch einig, dass Morris Claiborne durch die Veröffentlichung seines schlechten Ergebnisses keine großen Nachteile in der Draft haben wird. Die verbotene Veröffentlichung hat demnach nur eines bewirkt, sie hat einen jungen Sportler in aller Öffentlichkeit als Idioten hingestellt. Kritik wird deshalb vor allem an denen geübt, die Claibornes Wonderlic-Text publizierten. Selbst Kollegen und Konkurrenten des Footballers solidarisierten sich mit ihm. Die Häme über das schlechte Ergebnis sei viel schlimmer als der Wert selbst, erklärten sie.
»Wenn das Ergebnis eines schlechten Wonderlic-Tests laut Experten gar keine Auswirkungen hat, dann sollte man ihn abschaffen«, verteidigte sich Mike Florio von Pro Football Talk, dessen Meldung über das Ergebnis von Claiborne vor gemeinen Bemerkungen nur so strotzte. »Die Kandidaten sollten sich in Zukunft alle weigern, den Test zu absolvieren«, empfahl er. Damit wiederholte er jedoch nur, was vor ihm schon der Journalist Gregg Doyel gefordert hatte. Denn wenn sich lediglich ein Einzelner weigere, den Test zu absolvieren, dann würde ihm das als Renitenz ausgelegt, hatte der CBS-Kolumnist erklärt, und das sei in einer Liga, in der Einstellung, Wille und die Bereitschaft, Herausforderungen anzunehmen, so wichtig seien, deutlich schlimmer als ein versauter Intelligenztest.
Und Morris Claiborne? Der tat zielsicher das, was alle, die über ihn lachen, wohl am meisten ärgern dürfte. Er lasse sich von dem ganzen Wonderlic-Theater nicht beeindrucken, schrieb er sinngemäß auf Twitter. Er rechne weiterhin damit, sehr früh gedraftet zu werden. Und damit auch dem dümmsten seiner Kritiker klar wurde, was das bedeutet, machte Claiborne in seinem Tweet jede Menge Dollarzeichen.