Gesundheitstag für ALG-II-Empfänger

Gesundheitstag mit Rechtsbelehrung

Die Bundesagentur für Arbeit will sich künftig um die Gesundheit von ALG-II-Beziehern kümmern. Im Berliner Bezirk Kreuzberg veranstaltete das Jobcenter bereits einen »Gesundheitstag« für ältere Arbeitslose.

Als Mirko Möller* Ende März den Briefumschlag öffnete, war er überrascht. Das für ihn zuständige Jobcenter im Berliner Bezirk Kreuzberg lud ihn für Anfang April zu einem Gesundheitstag ein. »Anwesenheit war Pflicht«, sagt er, »im Eingangsbereich saßen die Sachbearbeiter und Sachbe­arbeiterinnen des Jobcenters, denen man die Einladung vorlegen musste.«
Mirko Möller ist ein sogenanntes Bärchen, wie die Empfänger von ALG II, die über 50 Jahre alt sind, innerhalb der Berliner Jobcenter bisweilen liebevoll bezeichnet werden. Die Metapher geht auf das Projekt »Berliner BÄr – Berliner Betriebe nutzen die Kompetenzen Älterer« zurück, mit dem die »Problemgruppe« derjenigen, die über 50 Jahre alt sind, besonders intensiv ­betreut werden soll. Nun scheint man sich bei den Jobcentern die Frage zu stellen, ob die Betroffenen überhaupt noch für den Arbeitsmarkt taugen. Man interessiert sich für die Fitness der ALG-II-Bezieher. »Ganz offensichtlich macht man sich in dieser Hinsicht Sorgen um mich«, sagt Mirko Möller, den der Gesundheitstag an eine Messe erinnerte. In einem großen Raum präsentierten sich diverse Vereine und Institutionen wie die Volkshochschule, die Arbeiterwohlfahrt oder ein Fitnessclub. An mehreren Ständen wurde Informationsmaterial über gesunde Ernährung, Sport und Sozialberatungen verteilt, die Teilnehmer des Gesundheitstags konnten Gewicht und Blutdruck messen lassen oder an einem Sehtest teilnehmen.
Freiwillig, versteht sich, schließlich herrscht hierzulande auch für Arbeitslose das Recht auf die freie Arztwahl. Ein gewisser Druck wurde dennoch ausgeübt, denn beim Verlassen des Gebäudes wurde man zu einer Evaluation der Veranstaltung aufgefordert. Die Teilnehmer mussten angeben, welches Angebot ihnen besonders zugesagt und welches ihnen weniger gefallen hatte. Wer nicht an der Evaluation teilnehmen konnte, weil er keines der Angebote in Anspruch genommen hatte, fiel auf. »Ich hatte den Eindruck, dass wir alle ein bisschen Interesse geheuchelt und abgewartet haben, bis man wieder ­gehen konnte, ohne negativ aufzufallen«, sagt Mirko Möller. Ihm ist ein wenig unwohl beim Gedanken daran, dass das Jobcenter sich nun auch um seinen Blutdruck kümmern möchte. Gewisser Ängste konnte und kann er sich auch im Nachhinein nicht erwehren: »Das Thema ­Gesundheit impliziert ja immer auch ganz spezifische Fragestellungen«, sagt er. »Raucht man? Trinkt man Alkohol? Ist man zu dick oder depressiv? Treibt man zu wenig oder zu riskanten Sport?« Mirko Möller fürchtet, dass man umgehend selbst dafür verantwortlich gemacht ­werden könnte, wenn gesundheitliche Probleme bestehen und das Jobcenter zu der Einschätzung gelangt, man sei auf dem Arbeitsmarkt nur eingeschränkt vermittelbar. »Ich kann einfach nicht glauben, dass dem Jobcenter ausschließlich an meinem Wohlergehen gelegen ist«, sagt er.

Die Bundesagentur für Arbeit (BA) möchte sich in Kooperation mit dem Spitzenverband der ­gesetzlichen Krankenkassen künftig nicht nur um die Gesundheit der über 50jährigen, sondern um die Gesundheit aller ALG-II-Empfänger kümmern. »Anhaltende Arbeitslosigkeit macht krank!« meldete die BA in einer Pressemitteilung am 5. April besorgt. Was an diesem Umstand besondere Sorgen bereitet, wird ebenfalls erläutert: »Bereits heute weist jeder dritte Leistungsberechtigte in der Grundsicherung (Hartz IV) gesundheitliche Einschränkungen auf. Nachgewiesen ist auch, dass die mentale wie physische Verfassung der Arbeitslosen Vermittlungserfolge stärker beeinflussen kann als ihre formalen Qualifikationen. Daher wollen die BA und der GKV-Spitzenverband zusammen mit seinen Mitgliedskassen an diesem Punkt ansetzen und Arbeitslose gezielt über Präventivangebote informieren.«
Heinrich Alt, im Vorstand der BA für die Grundsicherung zuständig, verkündet im gleichen Schreiben: »Wir wollen darauf hinwirken, dass unsere Kunden gesund bleiben oder gesund werden.«

Davon abgesehen, dass Menschen, die an einer akuten Erkrankung oder an einem schwerwiegenden Gebrechen leiden, ohnehin weder der BA noch dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stehen, weil sie arbeitsunfähig sind, stellt sich die Frage, ob es der BA tatsächlich darum geht, dass die Kunden gesund bleiben, oder doch eher um Erfolge bei deren Vermittlung.
Gesundheit wird von der Weltgesundheits­organisation WHO als Zustand des vollkommenen körperlichen und geistigen Wohlseins de­finiert.Abgesehen von fehlenden vernünftigen Arbeitsangeboten, fühlt Mirko Möller sich von den Mitarbeitern des Jobcenters Kreuzberg freundlich behandelt, aber ein Zustand vollständigen Wohlseins stellt sich bei ihm im Jobcenter nicht ein. »Arbeitslosigkeit ist grundsätzlich demütigend«, sagt er und berichtet über seine Zukunftsängste: »Es ist kein schönes Gefühl«, sagt er, »immer wieder zum Jobcenter gehen und sich dort rechtfertigen zu müssen.« Bei den Terminen laste auf ihm der Druck, zu erklären, dass er sich zwar beworben, aber wieder keinen Job ­bekommen habe.
Mirko Möller hat keine gesundheitlichen Pro­bleme, aber er glaubt, dass er sich mehr um seine Gesundheit kümmern könnte. »Ich habe nicht alle Vorsorgeuntersuchungen wahrgenommen, die man machen lassen sollte«, sagt er. Auch wenn Mirko Möller sich krank fühlt, überlegt er aus Kostengründen sehr genau, ob er ­einen Arzt aufsucht, denn auch als ALG-II-Empfänger ist er nicht von der Praxisgebühr befreit. Mit deren Abschaffung wäre ihm eher geholfen als mit einem Gesundheitstag. Den hat er als leicht beunruhigende, aber auch ein wenig grotesk anmutende Veranstaltung in Erinnerung behalten, über mögliche Implikationen dieser neuen »Gesundheitsoffensive« der Jobcenter möchte er vorerst lieber nicht nachdenken.
Daran scheint auch der BA gelegen zu sein, die in ihrer Pressemitteilung betont, dass die Inanspruchnahme von Gesundheitsförderungs­angeboten freiwillig sei: »Weder solle Arbeitslosen eine bestimmte Lebensweise aufgezwungen werden, noch würden Leistungen oder Hilfen an eine Kursteilnahme gekoppelt.«

Die Teilnahme am Gesundheitstag im Jobcenter Kreuzberg war jedoch keineswegs freiwillig, denn das Einladungsschreiben war mit einer Rechtsfolgebelehrung versehen. Nicht am Gesundheitstag teilzunehmen, wäre einem Meldeversäumnis gleichgekommen, das grundsätzlich mit einer Leistungsreduzierung um zehn Prozent für drei Monate sanktioniert werden kann.

*Name von der Redaktion geändert