Hat eine Hochburg des Front National in Nordfrankreich besucht

Kumpel fürs Leben

Die ehemalige Bergbauregion im nordfranzösischen Department Pas-de-Calais ist von Arbeits- und Perspektivlosigkeit geprägt. Die extreme Rechte konnte dort an Popularität gewinnen, noch dominieren aber die Sozialisten. Ihr Klientelsystem kann jedoch nicht mehr alle zufriedenstellen. Die neue linke Partei unter dem Präsidentschaftskandidaten Jean-Luc Mélenchon hat womöglich gute Chancen bei den anstehenden Wahlen.

In Anlehnung an ein antikes Sprichwort über Sparta und die im Lande liegenden Toten könnte es heißen: »Fremder, kommst Du nach Hénin-Beaumont, sage, Du habest sie leuchten sehen, die Schaufenster der Totengräber.« Die Bestattungsunternehmen, deren Firmenschilder an den beiden größten Plätzen des Städtchens prangen, sind das Erste, das im Stadtzentrum ins Auge sticht. Mehrere dieser Unternehmen reihen sich aneinander, neben einzelnen Kneipen, Cafés und dem lokalen Ableger der Regionalzeitung La Voix du Nord. Andere Geschäfte fallen in der 27 000 Einwohner zählenden früheren Bergarbeiterstadt auf den ersten Blick nicht auf.
»Das ist ein absolut typischer Eindruck für Hénin-Beaumont. So ist die Stimmung im Stadtzentrum«, lästert der 23jährige Antoine an einem Kneipentisch. Er ist ein Kind des bassin minier, des früheren französischen Bergbaubeckens, das sich in Nordostfrankreich von Béthune bis nach Douai in der Nähe der belgischen Grenze hinzieht. Geboren wurde Antoine im einige Kilometer entfernten Lens, in Hénin-Beaumont hat er mehrere Jahre lang gelebt.
Früher wurde hier Steinkohle für ganz Frankreich gefördert. Die letzten Kohlegruben wurden vor 20 Jahren geschlossen. Geblieben sind ein Arbeitermilieu, in dem viele Menschen perspektivlos und frustriert sind, sowie zahllose Erinnerungen und Legenden rund um den Bergbau. Geblieben ist auch eine Landschaft, die noch die Spuren des Bergbaus trägt: Von Lens bis Hénin-Beaumont und zurück fährt man an Dutzenden von terrils vorbei, an gigantischen Maulwurfshügeln, die aus den Abraumhalden der früheren Kohlengruben entstanden sind. Einige sind von Büschen, jungen Birken und Gras überwuchert. Andere starren schwarz in die Landschaft. Es sind die mit Abstand höchsten Erhebungen in diesem flachen Land.
Obwohl die Arbeitslosigkeit hoch ist und die Chancen auf sozialen Aufstieg oder überhaupt einen Job gering sind, ist dieses Land mitnichten tot. Die Region Nord-Pas de Calais hat vielmehr den niedrigsten Altersdurchschnitt in ganz Frankreich. Die Bevölkerung nimmt zu, im Bergbaubecken bleibt sie mindestens stabil, von Geisterstädten oder Rentnerüberhang keine Spur.
Die Konzentration der Totengräber im Stadtzentrum rührt vielmehr daher, dass es dort ansonsten nicht viele Geschäfte oder sonstige Aktivitäten gibt. Vor gut 30 Jahren wurde jenseits der Stadtgrenze, in der Nachbargemeinde Noyelle-Godault, eines der größten Einkaufszentren in ganz Frankreich eröffnet, rund um einen völlig überdimensionierten Supermarkt der Kette Auchan. Zahlreiche Geschäfte in der Innenstadt gingen pleite, einige Bestattungsunternehmen zogen an ihrer Stelle ein. Teile Hénin-Beaumonts wirken außer an Markttagen relativ ausgestorben. Die Einwohner sitzen eher zu Hause vor dem Fernseher.
Daran knüpft Marine Le Pen, seit anderthalb Jahren die Vorsitzende des Front National (FN), in ihrem derzeitigen Wahlkampf vor der Präsidentschaftswahl an. Sie forderte, die Ansiedlung von Supermärkten müsse »in Städten unter 30 000 Einwohnern« verboten werden – aus Rücksicht auf das Kleingewerbe. Hénin-Beaumont liegt just unterhalb der von ihr gezogenen Grenze.

Die Doppelstadt ist in den vergangenen Jahren überregional die vielleicht bekannteste Stadt dieser Gegend geworden, da die extreme Rechte hier einen ihrer größten Wahlerfolge verbuchte. Marine Le Pen suchte die Stadt zu Beginn des letzten Jahrzehnts als ihren Wahlkreis aus. Ein ortsansässiger Kader, Steeve Briois, vielen als »das Kind des Landes« bekannt, hatte 20 Jahre lang Vorarbeit geleistet. Viele Beobachter meinen, die extreme Rechte nutze den Wahlkreis als Labor. Bereits vor sechs Jahren erzählte Edouard Mills-Affif in dem Film »Au pays des gueules noires« (»Im Land der schwarzen Fressen« – damit meint er die Bergarbeiter) von diesem Phänomen. Verändert haben sich die örtlichen politischen Verhältnisse seither kaum. Im Juli 2009, bei der letzten Stadtratswahl, unterlagen Marine Le Pen und Steeve Briois mit 47,6 Prozent der Stimmen nur knapp einer Koalition aus linken bis Mitte-Rechts-Parteien. Dass die extreme Rechte in Hénin-Beaumont derart erfolgreich werden konnte, hat aber auch andere Gründe. In einem Café gegenüber der Kirche Saint-Martin sitzt Jean-Marc Bureau. Er ist zwischen 50 und 60 Jahre alt und war früher Chauffeur beim Regionalparlament in Lille. Politisch engagiert er sich bei den örtlichen Grünen. Im Rathaus von Hénin-Beaumont war er vor zehn Jahren Beisitzer des damaligen Bürgermeisters Gérard Dalongeville. Zuständig war er für die Beziehungen zu Bürgerinitiativen und dem örtlichen Vereinswesen. Im Dezember 2002 trat er nach nur anderthalb Jahren von seinem Posten zurück.
Schon damals, erzählt Bureau, habe er beobachtet, wie fragwürdige Verwaltungspraktiken um sich griffen, die immer mehr in Selbstbedienung ausgeartet seien. »Die Rathausverwaltung gab ein Flugblatt heraus, mit dem die Stadt auf falsche Informationen in einem Artikel der Regionalzeitung Voix du Nord reagieren wollte. Wir Kommunalparlamentarier waren mehrheitlich einverstanden, das Vorhaben zu unterstützen und das Flugblatt aus eigener Tasche zu bezahlen. Dann wurde uns eine fiktive Rechnung präsentiert: 5 800 Euro. Wir hatten Zweifel und erkundigten uns. Bei den Druckereien erfuhren wird, dass das Flugblatt in dieser Auflagenhöhe ab 1 600 Euro zu haben sei. Daraufhin verlangten wir eine Quittung, es wurde uns aber keine präsentiert.« Das »System Dalongeville«, für den diese Episode nur ein Symptom war, flog einige Jahre später auf. Im April 2009 kam er in Untersuchungshaft, seitdem läuft ein Gerichtsverfahren gegen ihn wegen Unterschlagung von vier Millionen Euro.
»Hier im Bergbaurevier funktioniert die etablierte Politik so und nicht anders«, versichert mir Jacques Kleinpeter. Der verrentete Eisenbahner sitzt in seinem Bergarbeiterhaus in der Gemeinde Mazingarbe und erzählt von seinem langjährigen politischen Engagement. Seit 20 Jahren engagiert sich der knorrige Mann in Bürgerinitiativen für behinderte Menschen. 1995 präsentierten eine Reihe von Vereinen und Bürgerinitiativen eine gemeinsame offene Liste zu den Kommunalwahlen in Liévin, die damals 27 Prozent der Stimmen erhielt. Die Stadt mit 33 000 Einwohnern ist neben Lens eines der beiden Zentren des Bergbaureviers. Schnell wurde die Liste mit den Praktiken von Jean-Pierre Kucheida konfrontiert. Das Mitglied des PS ist seit 1981 ununterbrochen Bürgermeister in Liévin. Bislang beherrschte er Teile des sozialdemokratischen Establishments der Region, doch seine Methoden, zu denen eine gutsherrenartige Kontrolle über Arbeitsplätze, Baugenehmigungen und diverse Lizenzen zählt, scheinen inzwischen diskreditiert zu sein. Zu den diesjährigen Parlamentswahlen im Juni 2012 erwägt die Parteivorsitzende Martine Aubry erstmals, ihn nicht erneut als Kandidaten des PS aufzustellen.
»Kucheida sorgt dafür, dass in jeder Familie je eine Person mit befristeten Arbeitsverträgen oder mit Versprechen für einen Job bei der Stange gehalten wird. So schafft er Loyalitäten. Eine Bekannte wandte sich einmal mit einer Bitte an Kucheida. Zuerst erhielt sie mehrere Briefe von Mitarbeiterinnen des Bürgermeisters: ›Wir haben Ihren Brief bekommen; Kucheida hat mich damit beauftragt, mich um Ihre Situation zu kümmern; ich werde Ihre Akte an örtliche Unternehmen weiterleiten.‹ Dann kamen über ein Jahr lang ständig Briefe von diesem oder jenem Supermarkt, dieser oder jener Firma: ›Das Büro von Kucheida hat uns Ihre Akte weitergeleitet. Leider haben wir derzeit keinen Arbeitsplatz anzubieten. Aber wir kommen auf Sie zurück … ‹ Nach anderthalb Jahren versiegten die Briefe. Aber manche Leute werden auf diese Weise drei Jahre lang hingehalten. Und wenn sie politische Loyalitätsgarantien mitbringen oder Dienste für die Rathausherren leisten, dann können sie auch vom System profitieren«, meint Kleinpeter.
Die Bürgerinitiative fiel nach der Wahl in den Stadtrat auseinander. Kleinpeter selbst schloss sich später einer linksradikalen Partei, dem NPA, an. »Das Klientelsystem in der Region ist eine Fortsetzung des alten Systems der Bergbauherren«, meint er. »Früher verschafften sie den Leuten Jobs und nahmen dafür in Anspruch, ihr ganzes Leben von der Wiege bis zur Bahre zu organisieren. Heute gibt es diese Arbeitsplätze nicht mehr. An ihre Stelle trat das politische Versorgungssystem.«

Wie das alte System funktionierte, schildert Christian Champiré, Bürgermeister der alten Bergbaustadt Grenay, von der Französischen Kommunistischen Partei (PCF). Der frühere Lehrer, der sich infolge seiner Heirat 1993 aus der Region Paris ins Bergbaurevier versetzen ließ, empfängt mich in seinem Büro.
»Die Stadt besteht zu 90 Prozent aus früheren Bergbauhäusern. Solange die Leute in den Kohleminen arbeiteten, wurden sie den Bewohnern kostenlos zur Verfügung gestellt – das gehörte zu den Errungenschaften der Kämpfe der Bergarbeiter. Die freie Miete ging an die Witwen über, wird aber nicht an die Kinder vererbt. Heute werden noch 14 Prozent der Häuser meiner Kommune zu diesen Bedingungen bewohnt. Oft wohnen drei oder vier Generationen unter einem Dach, weil die Großmutter noch kostenlos wohnen kann.« Aber dieser soziale Vorteil hatte zu Zeiten des Bergbaus auch seine Schattenseite: »Die cités, die Bergbausiedlungen, waren eine in sich geschlossene Welt. Dort fanden sich auch die Kirche, die coopérative, die Läden zur Lebensmittelversorgung, die Schulen. Viele Bergarbeiter kamen niemals aus ihren Siedlungen heraus, außer um zur Arbeit zu gehen. Und die cités waren von Gittern umgeben. Wenn es einen Konflikt gab, einen harten Streik, dann wurden die Gitter geschlossen, und die Menschen waren buchstäblich eingesperrt«, erläutert Champiré.
Abhängigkeiten wie damals existieren heute nicht mehr. Doch die sozialdemokratische Krisenverwaltung trat oftmals an ihre Stelle. Aber sich stattdessen in der Privatwirtschaft eine Arbeitsstelle zu suchen, ist auch nicht immer attraktiv. Der 23jährige Antoine weiß ein Lied davon zu singen: »Die letzten sechs Monate arbeitete ich bei Arvato, einem Dienstleistungsunternehmen, das Call-Center betreibt, etwa für den französischen Telefonanbieter Orange. Total flexible Arbeitszeiten rund um die Uhr, einen ständigen Arbeitsortwechsel zwischen drei Call-Centern von Lens bis Hénin-Beaumont, keinen Zuschlag für Wochenendarbeit – es sei denn am Sonntag nach 22 Uhr – und Bezahlung nach dem gesetzlichen Mindestlohn. Nach sechs Monaten schmiss ich den Job. In wenigen Wochen gehe ich nun nach Paris, wo ich einen Job als Eisenbahner gefunden habe. Aber die meisten jungen Leute in unserer Region haben nur solche Stellen wie die bei Arvato zur Auswahl.«
Die Linke hat es schwer, die Leute in der Region noch zu erreichen. Das gilt vor allem für die Sozialistische Partei wegen ihrer örtlichen Regierungspraktiken. Allerdings hat der frühere linke Sozialdemokrat Jean-Luc Mélenchon große Unterstützung gewinnen können. Anfang 2009 hat er den PS mit einer eigenen »Linkspartei« (Parti de gauche) verlassen, nun kandidiert er im Bündnis mit den Kommunisten bei den Präsidentschaftswahlen. Die alte Kommunistische Partei, die vielerorts im Niedergang war, bekam durch diese neue Allianz etwas frischen Wind. Ein Auftritt Mélenchons in der Regionalhauptstadt Lille zog vor zwei Wochen mehrere zehntausend Menschen an, zu seiner Kundgebung in Paris zum Jahrestag der Pariser Kommune am 18. März kamen über 100 000 Menschen.

Der Aufstieg Mélenchons in der Linken »kündigt eine Wende an, auch in Hénin-Beaumont«, meint Bureau. Ihm zufolge wird die extreme Rechte den sozialen Zorn nicht mehr allein ausbeuten können. In näherer Zukunft werden, meint er, die Wahlergebnisse des FN auch in Hénin-Beaumont zurückgehen, »zumal Marine Le Pen ihr Mandat im Kommunalparlament aufgegeben hat: Das Gesetz gegen Ämterhäufung zwang sie dazu, eines ihrer drei Mandate niederzulegen. Sie behielt jene im Europa-Parlament und im Regionalparlament in Lille und gab das in Hénin-Beaumont auf. Das wird einen Rückgang ihres Einflusses zur Folge haben.« Allerdings meint auch er, dass Le Pen im Juni die Parlamentswahl im Wahlkreis gewinnen könnte: »Eine jüngste Umfrage, die von der Sozialistischen Partei in Auftrag gegeben wurde, sagt Marine Le Pen 51 Prozent voraus.«
Champiré, der kommunistische Bürgermeister von Grenay, sieht den Front National im Niedergang: »Den Wendepunkt markierte die gemeinsame Fernsehdebatte von Marine Le Pen und Mélenchon«, die am 23. Februar stattfand. Damals lehnte es Le Pen ab, mit ihrem linken Widersacher zu diskutieren, und wandte ihm demonstrativ vor dem Publikum den Rücken zu, weil er ihre Partei »in der Öffentlichkeit beleidigend behandelt« habe. Mélenchon nutzte unterdessen die wertvollen Minuten, um einige der Argumente Le Pens zu zerpflücken. »Diese Szene kam bei den Leuten in unserer Region gar nicht gut an«, meint Bürgermeister Champiré. »Nicht das Gesicht zu zeigen und dagegenzuhalten, das ist ein Verhalten, das absolut schlecht angesehen ist. Aufgrund sozialer Traditionen hat Marine Le Pen es ohnehin etwas schwerer als ihr Vater: Weil sie eine Frau ist, muss sie sich stärker beweisen. Man kann es beklagen, aber diese Mentalität existiert nun einmal. Das Familienmodell der Bergarbeiter beruhte darauf, dass die Männer arbeiteten und die Frauen ab ihrer Volljährigkeit – damals mit 21 Jahren – zu Hause blieben. Dies prägte die Mentalität nachhaltig. Marine Le Pen hätte versuchen können, sich zu beweisen. Aber durch ihr Verhalten hat sie dem Linkskandidaten einen wichtigen Vorteil verschafft.«
Kleinpeter meint hingegen, wenn es heute Neuwahlen zum Rathaus von Hénin-Beaumont gäbe, würden die Rechten »sogar 60 bis 70 Prozent einsammeln«. Wie es ausgeht, werden nun die Präsidentschaftswahlen am 22. April zeigen. Landesweit lag in den vergangenen Wochen in Frankreich manchmal Mélenchon dicht vor Marine Le Pen, machmal war es umgekehrt.