Einheitsregierung in Israel

Alles oder nichts

Mit der Bildung einer »Einheitsregierung« hat Ministerpräsident Benjamin Netanyahu die israelische Öffentlichkeit überrascht und die verbliebenen Oppositionellen verärgert.

Montagnacht vergangener Woche, wenige Tage nach der Ankündigung vorgezogener Neuwahlen durch Ministerpräsident Benjamin Netanyahu und wenige Minuten vor der Selbstauflösung des israelischen Parlaments, wurden die versammelten Abgeordneten und Minister von einem Abkommen überrascht. In Geheimverhandlungen hatten Netanyahus engste Vertraute einen Vertrag mit dem Oppositionsführer Shaul Mofaz, dem Vorsitzenden der Kadima, geschlossen. Die größte Fraktion mit 28 Abgeordneten wird Teil einer Regierungskoalition der »nationalen Einheit«, Mofaz wird stellvertretender Ministerpräsident und Minister ohne Geschäftsbereich. Die Regierung verfügt so über 94 der 120 Sitze in der Knesset, eine Mehrheit von fast 80 Prozent.
Noch am Dienstag vergangener Woche ergaben Umfragen, dass über 70 Prozent der Israelis persönliche und politische Interessen und nicht die Sorge um das Wohl des Landes als Motiv der Vereinbarung vermuten. Die Titelseiten aller Tageszeitungen waren bereits den Neuwahlen gewidmet gewesen. »Die politische Atombombe der ›Kumpels‹ – Netanyahu hat uns mal wieder eine Lektion erteilt«, titelte die Haaretz im Internet.
Tatsächlich ist Netanyahu der größte Gewinner, wenn man die Motive und Intentionen aller Beteiligten betrachtet. Für Mofaz und die Kadima war die Sache klar. Alle Umfragen sagten seiner Partei den Verlust von fast zwei Dritteln der Mandate voraus, sein politisches Ende schien besiegelt. Die Abgeordneten seiner Fraktion hat er nicht um ihre Meinung gefragt, viele blieben der Verabschiedung der Koalitionsvereinbarung fern. Doch er führt sie nun in die Koalition und zum Vorsitz bedeutender Komitees. Er selbst erhält Einfluss auf das Sicherheitskabinett. Verteidigungsminister Ehud Barak unterstützte das Abkommen, weil seine Karriere nach dem voraussichtlichen Untergang seiner Splitterpartei Atzmaut beendet wäre.
Und Netanyahu? Vertreter der Siedler hatten am Sonntag zuvor bei einer Versammlung des Likud-Zentralkomitees lautstark die Führung übernommen, eine Abstimmung sabotiert und Maßnahmen durchgesetzt, mit denen der rechtsradikale »Feiglin-Flügel«, die Gruppe um den Likud-Politiker Moshe Feiglin, seine Kader auf die Wahllisten setzen und seinen Einfluss in der Partei ausdehnen wollte. Die Feiglinisten, die unter anderem die Annexion aller besetzten Gebiete und die Aberkennung der Staatsbürgerrechte arabischer Israelis propagieren, genießen die Unterstützung mehrerer Abgeordneter und Minister.

Die tumultartigen Szenen scheinen Netanyahu deutlich gemacht zu haben, dass er die Kontrolle über den Likud teilweise verloren hat. Den vom Obersten Gerichtshof angeordneten Abriss einiger in einer Siedlung illegal errichteter Gebäude hätten die Feiglinisten im Wahlkampf zur Machtprobe genutzt. Durch die überraschende Bildung der »Einheitsregierung« wurde dies verhindert und die Radikalisierung des Likud zumindest um anderthalb Jahre verzögert.
Zudem ist Netanyahu nicht länger von den religiösen Parteien abhängig. Seit Monaten läuft eine Kampagne gegen die von der säkularen Bevölkerungsmehrheit abgelehnte Befreiung ultra-orthodoxer Juden vom Militärdienst, wie sie das »Tal-Gesetz« regelt. Während der Koalitionspartner, Avigdor Liebermans Israel Beitenu (Israel ist unser Haus), vehement eine Reform forderte, stellten sich die religiösen Parteien quer – eine Lösung des Konflikts war unmöglich.
Überdies stehen neue Sozialproteste bevor. Eine starke Opposition aus Kadima und der sozialdemokratischen Arbeitspartei hätte den Druck erhöht, bei Neuwahlen im Herbst hätte der Wahlkampf sozialpolitische Zugeständnisse erforderlich gemacht. Die wenigen verbliebenen Oppositionspolitiker und die Linken empören sich nun verständlicherweise wegen der Täuschung und der undemokratischen Verfahrensweise, aber auch angesichts der eigenen Ohnmacht.
Doch selbst wenn über 50 Prozent der Bevölkerung die angekündigten Reformen schon jetzt für leere Worte halten, lohnt sich ein genauer Blick auf die »historischen Schritte«, die die »Einheits­regierung« möglich machen soll: »Wir rücken zusammen«, sagte Netanyahu, »um das Tal-Gesetz durch eine gerechte Regelung zu ersetzen, ein verantwortliches Budget zu verabschieden, das Regierungssystem zu reformieren und einen verantwortlichen Friedensprozess anzugehen«.

Eine landesweite Kampagne fordert seit Wochen die »Gleichverteilung der Lasten«. Sollte es nun zur Durchsetzung eines verpflichtenden Ersatzdienstes auch für die ultraorthodoxen Juden kommen, die bisher nicht wollen, sowie für die arabische Bevölkerung, die bisher nicht darf, dürfte dies populär sein. Das Problem ist das Budget. Das Defizit ist in den vergangenen Jahren nicht kleiner geworden, für 2013 fehlen etwa zwei Milliarden Euro. Nun muss zumindest die Gunst der religiösen Parteien nicht mehr mit Pfründen erkauft werden, und auch Sozialprotesten und der öffentlichen Meinung kann eine »Einheitsregierung« leichter standhalten.
Die »Reformen zugunsten sozial Schwacher und zur Stärkung der Mittelschicht«, die Mofaz in die Koalitionsvereinbarung hat aufnehmen lassen, sind wenig konkret, zumal sich die Kadima darin gleichzeitig zur marktliberalen Politik Netanyahus bekennt. Für diesen Sommer wird nun unter anderem die Erhöhung der Mineralöl- und der Mehrwertsteuer erwartet. Eine Regierungsreform soll die zukünftigen israelischen Regierungen stabilisieren und den überproportionalen Einfluss von Kleinstparteien einschränken, was die Mehrheit der Bevölkerung begrüßt. Viele Israelis sind dennoch über den plötzlichen politischen Umschwung von Netanyahu (»Neuwahlen!«) und Mofaz (»Nie werde ich der schlechten Regierung des Lügners Netanyahu beitreten!«) entrüstet.
Vor allem ein Durchbruch in den Verhandlungen mit der Palästinenserführung hätte histo­rische Bedeutung. Während der gesamten Amtszeit Netanyahus zeigte die israelische Seite kein Interesse an Verhandlungen, wie zuletzt auch der ehemalige Leiter des Inlandsgeheimdienstes, Yuval Diskin, urteilte. Der Druck der rechtskonservativen Koalitionspartner und der große Einfluss rechtsradikaler Aktivisten innerhalb des Likud konnten bisher als Ausrede dienen. Mit Unterstützung der Kadima besteht nun die Möglichkeit, in dieser Frage richtungsweisende Entscheidungen zu fällen. Ein pragmatischer Friedensplan liegt seit geraumer Zeit in der Schublade von Mofaz, die erwähnte Abrissorder wird zur ersten Probe.

Sollte die »Einheitsregierung« nur einen der vier Konflikte bewältigen, wird sie Israel dauerhaft verändern. Bleibt sie lediglich ein Mittel zum Machterhalt der Beteiligten, werden diese politisch untergehen. Bezüglich des Konflikts mit dem Iran halten viele nach Netanyahus jüngsten Manövern die Rede von der existentiellen Bedrohung durch den baldigen Atomwaffenbesitz des Regimes für übertrieben. Vertreter des Sicherheitsestablishments und der Oberkommandierende der Streitkräfte haben in den vergangenen Wochen die Rhetorik der Regierung kritisiert und mehr Rationalität im Umgang mit der iranischen Bedrohung gefordert. Nun verändert sich zweierlei: Zum einen stößt Mofaz in den Kreis der Entscheidungsträger vor. Er äußerte sich bislang sachlich, nicht alarmistisch, und das nicht – wie einige westliche Journalisten meinten –, weil er in Teheran geboren wurde, sondern wie die gleichgesinnten Geheimdienstexperten aufgrund seiner Sachkompetenz. Zugleich wäre allerdings eine Militäroperation Israels gerade deshalb viel besser legitimiert.