Zur Koalitionsbildung in Griechenland

Nichts zu verlieren

Bei den Parlamentswahlen in Griechenland konnten Parteien, die den Sparkurs ablehnen, die meisten Stimmen gewinnen. Eine linke Regierungskoalition erscheint dennoch unwahrscheinlich.

Die bunten Wahlplakate hängen noch unbeschädigt in den Straßen Athens. Sie werden wahrscheinlich noch länger dort zu sehen sein. Das Land steuert auf Neuwahlen zu, wenn in dieser Woche keine Regierung gebildet werden kann. Als Schlüsselfigur bei den derzeitigen Verhandlungen gilt der Fraktionsvorsitzende des Linksbündnisses Syriza, Alexis Tsipras. Er will nicht mit der sozialistischen Pasok und der konservativen Nea Dimokratia kooperieren, solange diese die von den Gläubigern diktierte Sparpolitik unterstützen. Beide bisherigen Regierungsparteien haben schwere Verluste bei den Wahlen vom 6. Mai erlitten. Mehr als 3,7 Millionen Stimmen haben sie verloren, schätzen die Wahlbeobachter. Tsipras lehnt auch die Aufforderung von Fotis Kouvelis, dem Vorsitzenden der Partei »Demokratische Linke« (Dimar), ab, an einer sogenannten Einheitsregierung teilzunehmen. Dimar ist eine jüngst von Syriza abgespaltene Gruppe, der ehemalige Mitglieder der Pasok beigetreten sind. Zwar könnte Dimar zusammen mit Nea Dimokratia und Pasok eine Koalition bilden, doch Kouvelis besteht auf einem breiten Parteienbündnis. Er meint, dass ohne Syriza keine Regierung gebildet werden kann, die den politischen Willen der Bevölkerung repräsentiert. Tsipras stimmt ihm zu. Nicht Syriza, sondern »das griechische Volk« sei angesichts des Wahlergebnisses gegen einen solchen Schritt, sagte er am Freitag vergangener Woche.

Der 37jährige gelernte Bauingenieur ist der jüngste Spitzenpolitiker Griechenlands. Seine Partei gilt als eindeutige Siegerin der Wahlen, mit 16,7 Prozent der Stimmen wurde Syriza zur zweitstärksten Fraktion. Im Vergleich zu den Wahlen im Jahre 2009 konnte sie ihr Ergebnis fast vervierfachen. Die Linken haben es geschafft, einen großen Teil der enttäuschten Wählerinnen und Wähler der ehemaligen Regierungsparteien zu gewinnen. Anderseits hat die stalinistische Kommunistische Partei Griechenlands (KKE) es nicht geschafft, die Wählerinnen und Wähler von ihrem Programm zu überzeugen. Sie erlangte 8,4 Prozent der Stimmen und hat im Vergleich zu den Wahlen 2009 nur leicht zugelegt, damals erhielt sie 7,5 Prozent der Stimmen. Die Entscheidung der Führung der KKE, die Einladung von Syriza zur Bildung einer linken Regierung abzulehnen, wird die kommunistische Partei im Falle von Neuwahlen womöglich Stimmen kosten, denn das jetzige Wahlergebnis gilt in Griechenland als historische Chance für die Bildung einer linken Regierung. Die KKE lehnt den Sparkurs kategorisch ab, fordert die Streichung der Schulden und zugleich den Austritt Griechenlands aus der Euro-Zone, der EU und der Nato. Die Bildung einer Linksregierung bezeichneten ihre Vertreter als eine »löchrige Rettungsweste« für die leidende Bevölkerung. Leicht zulegen konnte auch die linke Partei Antarsia. Bei den Wahlen 2009 bekam sie 0,36 Prozent der Stimmen, jetzt hat sie 1,19 Prozent erreicht. Die Partei der »Nichtzahler«, die zum ersten Mal an den Wahlen teilgenommen hat, konnte nur 0,88 Prozent der Stimmen gewinnen. Die Ökologische Partei konnte ihren Stimmenanteil von 2,5 Prozent im Jahr 2009 auf 2,9 Prozent leicht erhöhen, scheiterte aber erneut an der Drei-Prozent-Hürde.

Der Erfolg von Syriza überraschte selbst viele Linke. Tsipras will unter anderem mit den Gläubigern neu verhandeln und verlangt ein dreijähriges Moratorium für die Begleichung der Staatsschulden. Zudem will er einen Ausschuss zur Überprüfung der Schuldensumme einrichten und die mit den Gläubigern vereinbarten Kürzungen von Gehältern und Renten verhindern. Eine eindeutige Antwort auf die Frage, was passieren wird, wenn die internationalen Geldgeber die Zahlungen stoppen, hat Syriza jedoch bis jetzt nicht. In den ausländischen Medien wird Tsipras als linksradikaler Politiker bezeichnet. Katerina, eine junge Juristin, die seine Partei gewählt hat, stimmt nicht zu: »Wir sagen nicht, wir möchten die Schulden nicht zurückzahlen. Wir möchten zunächst durch den geforderten Untersuchungsausschuss erfahren, wie und durch wen diese Schulden zustande gekommen sind. Syriza ist die einzige Partei, die untersuchen will, wie der Schuldenberg entstanden ist. So etwas ist möglich. Es ist bereits in Argentinien und Ecuador geschehen.« In den vergangenen Jahren hat die 28jährige Athenerin fast jeden Monat auf den Straßen der griechischen Hauptstadt gegen die strenge Sparpolitik demonstriert. Nun hofft sie auf einen Wechsel.
Nikos, ein junger Taxifahrer, hat für die ultra-konservative Partei »Unabhängige Griechen« von Panos Kammenos, einem ehemaligen Abgeordneten der konservativen Nea Demokratia, gestimmt. Die Partei, die vor ein paar Monaten gegründet worden war, hat es geschafft, mehr als zehn Prozent der Stimmen zu bekommen und einen großen Teil der konservativen Wählerinnen und Wähler der Nea Demokratia für sich zu gewinnen. Nikos hat diese Partei gewählt, weil sie nicht nur gegen den Sparkurs ist, sondern sich auch mit wichtigen nationalen Themen wie beispielsweise dem Namensstreit mit der »Ehemaligen Jugoslawischen Republik Mazedonien« oder den angespannten Beziehungen mit der Türkei auseinandersetzt. »Griechenlands internationale Position wurde durch die Schuldenkrise geschwächt. Wir brauchen eine starke Stimme im Parlament, die die nationalen Interessen verteidigen will«, sagt Nikos, während er aufmerksam den Nachrichten aus dem Autoradio zuhört.

Die EU reagierte mit klaren Worten auf das Erstarken der Parteien, die den Sparkurs ablehnen. »Es gibt zwischen Griechenland und der Euro-Zone eine Vereinbarung, und Griechenland muss diese einhalten«, warnte EU-Kommissionspräsident José Manuel Barroso vorige Woche. Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble sagte, Athen könne nicht gezwungen werden, den Euro zu behalten: »Griechenland entscheidet selbst, ob es in der Euro-Zone bleibt oder nicht.« Am Montag ließ die Europäische Kommission verlautbaren, dass Griechenlands Zukunft in der Euro-Zone liege. Es sei die beste Lösung sowohl für Griechenland als auch für ganz Europa, hieß es. Umfragen zufolge wollen drei Viertel der griechischen Bevölkerung, dass ihr Land in der Euro-Zone bleibt – gleichzeitig lehnt die Mehrheit den Sparkurs ab.
Katia, eine 48jährige Angestellte, ist entspannt. Sie hat die Angst vor einer Rückkehr zur Drachme längst überwunden: »Diese Drohungen um einen Austritt aus der Euro-Zone sind nur Erpressung. Wir sind daran gewöhnt.« Jahrelang hatte sie sich geweigert, zur Wahl zu gehen, aus Protest gegen die beiden großen Parteien Pasok und Nea Demokratia, die sich seit fast vier Jahrzehnten an der Macht abwechseln. Diesmal sei es aber um das Schicksal Griechenlands gegangen, meint sie. Sie hat ebenfalls für Syriza gestimmt, obwohl sie sich keinem politischen Lager zuordnen will. »Ein paar Stunden nach den Wahlen, als ich gemerkt habe, dass die politische Landschaft sich total verändert und wir vielleicht auch aus der EU fliegen könnten, hatte ich Angst. Danach habe ich mich beruhigt. Wir haben nichts mehr zu verlieren, nur unsere Ketten.«
Vasiliki, eine junge Friseurin, sieht es genauso. Die 27jährige arbeitet seit acht Jahren in einen Friseursalon. Die Kunden werden immer weniger, ihr Chef schuldet ihr drei Monatsgehälter. Vasiliki wohnt in einem heruntergekommenen Vorort Athens, wo viele papierlose Migranten und Flüchtlinge aus Asien und Afrika leben und die Kriminalitätsrate sehr hoch ist. In dieser Gegend hat die neofaschistische Partei Chrysi Avgi (Goldene Morgenröte) mit ihrem rassistischen Programm und der Ablehnung des Sparkurses der etablierten Parteien viele Anhänger gewonnen. Mit 6,9 Prozent der Stimmen, fast einer halben Million, hat sie zum ersten Mal den Sprung in das griechische Parlament geschafft, und es ist ihr gelungen, ihr Image von dem einer kriminellen rechtsextremen Schlägertruppe zu dem einer angeblich familiengerechten Rechtspartei zu wandeln. Auch Vasiliki hat dieser Partei ihre Stimme gegeben, »aus Protest, damit jemand im Parlament mal auf den Tisch hauen kann, wenn die Politiker der großen Parteien unser Land an die Gläubiger verkaufen!« Als sie aber verstand, dass diese Partei faschistische Ideologien vertritt, bereute sie ihre Wahl. Nun hofft sie, dass sie bei Neuwahlen ihre Stimme einer anderen Partei geben kann, die die Sparpolitik ablehnt.
Christos, ein 19jährige Politologiestudent, versucht, den Erfolg der Faschisten nüchtern zu erklären: »Diese Partei hat Stimmen bekommen in Orten wie Distomo oder Kalavrita, die während des Zweiten Weltkrieges schlechte Erfahrungen mit den Nazis gemacht hatten (dort wurden von der Wehrmacht und der SS Massaker verübt, Anm. d. A.). Sicherlich sind diese Wähler keine Faschos, sondern Menschen, die nicht wissen, was genau diese Partei ist; sie haben sich darüber nicht richtig informiert. Es war eher eine Stimme des Protests in Zeiten der Krise.« An der Diskussion nimmt auch Giorgos teil. Der junge Mann mit dem scharfen Blick weist auf einen weiteren Aspekt hin: »Die Goldene Morgenröte hat viele Stimmen in ländlichen Gebieten bekommen. Ich glaube, dass dort die Wähler Nationalismus mit Vaterlandsliebe verwechselt haben. Diese Partei hat keine klare Trennung zwischen den beiden Ideologien gemacht, und viele sind in die Falle getappt.«
Giorgos ist vom Erfolg des Linksbündnisses Syriza überrascht, aber auch von der Art, wie diese Partei im Ausland dargestellt wird: »Es ist paradox und merkwürdig, dass eine Partei, die ein Programm hat, das die von den Gläubigern diktierte Sparpolitik ablehnt, von ausländischen Medien als linksradikal dargestellt wird, nur weil sie eine andere Politik vorschlägt.« Odysseas, ein anderer Student, mischt sich in die Diskussion ein. Er glaubt, dass viele, die Syriza gewählt haben, noch nicht einmal zur Linken gehören: »Sie haben nicht aus ideologischen Gründen diese Partei gewählt. Sie sind nicht eines Morgens aufgewacht und haben gesagt: ab jetzt sind wir Linke. Syriza ist eine Partei, die nicht bei Regierungen mitgemacht hat, die die harten Sparmaßnahmen beschlossen haben. Die Griechen haben dies erkannt und ihre Stimme einer linken Partei gegeben, die nicht so sehr mit der Macht verbunden ist.« Einer aktuellen Umfrage des Instituts Rass zufolge wünschten sich 66,1 Prozent der befragten Griechinnen und Griechen die Bildung einer Koalitionsregierung, 32,4 Prozent befürworten Neuwahlen. Syriza könnte bei Neuwahlen mit mehr als 20 Prozent der Stimmen rechnen und sogar die stärkste Partei werden. Damit würde sie nach dem griechischen Wahlsystem sogar die 50 Extra-Sitze im Parlament erhalten, die im Moment der Nea Dimokratia zufallen, die mit 18,8 Prozent der Stimmen stärkste Partei wurde.