Krise und Populismus in Italien

Grillo e depressione

Die soziale Lage unter der technokratischen Notstandsregierung in Italien ist desolat. Die Kritik der Linken am Umgang mit der Krise und ihren Folgen bleibt schwach, wird diskreditiert oder verbindet sich mit rechtem Populismus.

Italien ist aus den Fugen. Zwei Wochen nachdem schwere Erdstöße zahlreiche historische Bauwerke zwischen Ferrara und Bologna zum Einsturz gebracht haben, mehr als zehn Menschen unter den Trümmern begraben wurden und ganze Ortschaften evakuiert werden mussten, erschüttern noch immer schwere Nachbeben die Region der Emilia Romagnia. Doch zerstörerischer als die geologischen Verwerfungen wirken die sozialen Spannungen. Die Naturkatastrophe trifft Italien in einem Zustand großer gesellschaftlicher Zerrissenheit. Nur einen Tag vor dem Erdbeben waren in Brindisi drei mit Sprengstoff gefüllte Gasflaschen in einem Müllcontainer vor dem Eingang einer Berufsschule deponiert und kurz vor Unterrichtsbeginn zur Explosion gebracht worden. Eine 16jährige Schülerin wurde getötet, sieben weitere junge Frauen erlitten schwere Verletzungen.

Der Anschlag ereignete sich an einem symbolischen Ort, vier Tage vor einem Datum von histo­rischer Bedeutung. Die mehrheitlich von jungen Frauen besuchte Schule trägt den Namen »Morvillo-Falcone« zum Andenken an Francesca Morvillo Falcone, die Ehefrau des Mafia-Untersuchungsrichters Giovanni Falcone. Beide waren am 23. Mai 1992 in ihrem Wagen auf der Flughafenautobahn von Palermo mit einer halben Tonne Dynamit in die Luft gesprengt worden. Anlässlich ihres 20. Todestags häufen sich in diesem Jahr die Gedenkveranstaltungen. Für das Wochenende, an dem der Anschlag in Brindisi verübt wurde, hatte die Anti-Mafia-Bewegung »Karawane der Legalität« eine Demonstration in der Hafenstadt angekündigt. Die Stadt und ihr Umland gelten als Zentrum des apulischen Verbrecherkartells Sacra Corona Unità.
Dass der Anschlag ein Racheakt örtlicher Clans war, halten hochrangige Staatsanwälte, die Prozesse gegen die Mafia führen, jedoch für unwahrscheinlich. Zwar sei die in diesen Tagen wieder sehr verbreitete Ansicht, es gebe einen moralischen Kodex, wonach Frauen und Kinder von der Mafia nicht getötet würden, eine mehrfach widerlegte Legende, dennoch sei die Vorgehensweise in Brindisi »anormal« im Vergleich zu den mafiösen Methoden des kriminellen Alltagsgeschäfts. Dann tauchte plötzlich ein Video aus einer Überwachungskamera auf, das einen Mann beim Auslösen einer Fernsteuerung zeigt. Die kurzfristige Festnahme eines voreilig Verdächtigten reichte aus, um die Annahme zu verbreiten, es könne sich um die »individuelle Tat« eines »Einzeltäters« gehandelt haben.
Tatsächlich aber wird der Symbolcharakter des Anschlags auch von jenen Teilen der Bevölkerung wahrgenommen, die nicht im Verdacht stehen, Verschwörungstheorien anzuhängen. Vor 20 Jahren markierte die Ermordung Falcones den Anfang einer langen Anschlagserie, mit deren juristischer und politischer Aufarbeitung Italien noch immer beschäftigt ist. Aktuelle Untersuchungsergebnisse sizilianischer Staatsanwälte scheinen Gerüchte zu bestätigen, wonach es nach Falcones Tod zu Verhandlungen zwischen der Mafia und Teilen des Staatsapparats gekommen sei. Zu Ende ging die blutige Anschlagserie allerdings erst nach dem ersten Regierungsantritt von Silvio Ber­lusconi 1994.
Derzeit befindet sich das Land innenpolitisch in einer ähnlichen Umbruchsituation wie zu Beginn der neunziger Jahre: Damals zwang die Abwertung der italienischen Lira zu vergleichbar drastischen Haushaltseinsparungen wie heute die Euro-Schuldenkrise. Ebenso wie damals haben die ehemaligen Regierungsparteien durch Skandal- und Schmiergeldaffären jede Glaubwürdigkeit verloren. Berlusconis Partei Volk der Freiheit (PDL) zeigt Auflösungserscheinungen, die Lega Nord erwägt einen Rückzug aus dem Parlament, um sich in ihrem imaginierten norditalienischen Stammland Padanien zu regenerieren. Die Opposition kann vom Niedergang der rechten Parteien weiterhin nicht profitieren.
Noch ist völlig unklar, wer nach den Parlamentswahlen im nächsten Jahr die Notstandregierung aus Technokraten ablösen könnte. Nach dem Abgang des alten Regierungsvorsitzenden scheint die mutmaßliche »pax berlusconiana« keine Gültigkeit mehr zu haben und die Kräfteverhältnisse im Staat müssen neu verhandelt werden. Das derzeitige Machtvakuum wird gefährlich. »Wir können die Wiederkehr einer Anschlagsstrategie nicht ausschließen«, warnte Staatspräsident Giorgio Napolitano auf der staatlichen Gedenkveranstaltung für Falcone am Mittwoch vergangener Woche in Palermo.
Im Parlament bezeichnete Innenministerin Annamaria Cancellieri den Anschlag von Brindisi als einen »terroristischen Akt«, der möglicherweise keiner der süditalienischen Mafiagruppen angelastet werden könne, aber eindeutig darauf ausgerichtet gewesen sei, Terror zu verbreiten. So etwas hat es in Italien schon gegeben. In der Vergangenheit hatte ein Bündnis aus Offizieren, Geheimdienstlern, Logenbrüdern und Rechtsextremen mit der »Strategie der Spannung« eine Reihe von terroristischen Anschlägen organisiert, um den Verdacht auf militante linke Gruppen zu lenken. Damit wurde in der Gesellschaft eine Stimmung der Angst und Einschüchterung geschaffen, jeglicher soziale Konflikt unterdrückt und die starke linke Autonomiebewegung der siebziger Jahre schließlich aufgerieben. Auch Ministerpräsident Mario Monti erinnerte an dieses düstere Kapitel der italienischen Geschichte, als er bei seinem Besuch in Brindisi zu »Entschlossenheit und nationalem Zusammenhalt gegen jeden Umsturzversuch« aufrief.

Dabei hat die Regierung schon Anfang Mai, nachdem ein Manager eines Atomkonzerns mit Schüssen in die Beine verletzt worden war und eine »Informelle anarchistische Föderation« (FAI) sich zu dem Attentat bekannt hatte, das Gespenst der »bleiernen Jahre« beschworen. Dass fast gleichzeitig einige in Mailand vor Gericht stehende Gefangene der sogenannten neuen Roten Brigaden (BR) zu einer »bewaffneten Offensive« aufriefen, stärkte diese Regierungspropaganda. Aktivisten der »No Tav«-Bewegung gegen die Hochgeschwindigkeitstrasse Turin-Lyon werden mittlerweile als »Terroristen« kriminalisiert (Jungle World 11/2012), der Widerstand von linken Gewerkschaften gegen die Deregulierung des Arbeitsmarkts wird als unverantwortlich diffamiert und die Bewegung der Studierenden und Prekären regelmäßig mit Spott bedacht.

Die von der EU-Kommission diktierten und von Montis Regierung umgesetzten Sparprogramme verschärfen die sozialen Konflikte: Die Wirtschaft stagniert, in weiten Teilen Italiens liegt die Jugend­arbeitslosigkeit bei 40 Prozent, mehr als 20 Prozent der Familien leben in Armut. Doch da die Technokraten ohne Wahlen ins Amt berufen wurden und das Kabinett im Parlament von einer breiten Mehrheit der Parteien unterstützt wird, fehlt den sozialen Protesten jede entscheidende politische Einflussmöglichkeit. Es gibt keine Linke, die eine starke Oppositionsbewegung organisieren oder repräsentieren könnte. Stattdessen finden neuerdings rechte und linke Regierungsgegner in ihrer Frustration und Wut zu einer populistischen Einheitsfront zusammen.
Bei den Kommunalwahlen Anfang Mai pro­fitierte von diesem Protestbündnis vor allem Beppe Grillos »5-Sterne-Bewegung«. Der einstige Fernsehkomiker schuf die antipolitische Politbewegung über seinen Blog und Massenkundgebungen auf Marktplätzen. Mit seinen Hetzreden gegen die »Politikerkaste« begeistert er nicht nur enttäuschte Anhänger des auseinanderfallenden Rechtsbündnisses, sondern auch eine linke Wählerschaft, die an der Schwäche der Demokratischen Partei verzweifelt oder die traditionelle Parteiarbeit für überholt hält. Die vielbeschworene »Partizipation« in Grillos Bewegung erschöpft sich freilich im unkontrollierten Posting von mit Ressentiment behafteten Meinungen. Die Netzmehrheit und im Zweifelsfall Grillos Machtwort entscheiden, was »Konsens« ist. Mit dieser »neuen«, »transparenten« Methode und einer extrem lokalistischen Programmatik gelang es der Bewegung, fünf »ganz normale Männer« ins Bürgermeisteramt zu wählen. Kandidaten des Linksbündnisses konnten sich nur dort durchsetzen, wo sie als charismatische Einzelkämpfer auftraten und der Wahlkampf so personalisiert wurde, dass die Parteizugehörigkeit keine Rolle mehr spielte. Allerdings lag die Wahlbeteiligung bei den Stichwahlen nur noch bei knapp 50 Prozent, mancherorts sogar deutlich darunter.

Kritik und Unbehagen an den gesellschaftlichen Verhältnissen artikuliert sich derzeit vornehmlich in dubiosen Aktionen, die von rechten Vereinigungen initiiert und von linken Gruppen unkritisch unterstützt werden. Als die Lega Nord und andere rechte Splitterparteien behaupteten, die Regierungspolitik treibe mittelständische Kleinunternehmer in den Freitod, zögerten viele Linke nicht, sich an der geschmacklosen Instrumen­talisierung einiger bekannt gewordener Verzweiflungstaten zu beteiligen. Umgekehrt gelang es bisher nicht, eine kritische Massenbewegung gegen Equitalia zu organisieren. Die staatliche Behörde zur Eintreibung von Steuerschulden und Bußgeldern treibt mit sehr hohen Zinsen und Verpfändungen immer mehr Menschen in die private Insolvenz.
Der berechtigte Protest droht nun in blinden Zorn »gegen die Oberen« umzuschlagen. Nach einer Serie von Brandanschlägen auf Büros der Steuerbehörde kündigte die Regierung an, die Einrichtungen gegebenenfalls von Soldaten schützen zu lassen. Der Populismus der unterschiedlichen politischen Lager vermag den demokratischen Schein, den die Notstandsregierung gerne gewahrt sehen möchte, zu zerstören. Das allein ist jedoch kein Anlass zur Hoffnung, zum Vorschein kommt bisher nur die hässliche Fratze einer desillusionierten, verrohten italienischen Gesellschaft.