Erinnert sich an die »L.A. Riots« vor 20 Jahren

Back to the Hoods

Im April 1992 war Los Angeles nach einem rassistischen Übergriff der Polizei Schauplatz heftiger Riots. Ein Besuch in South Central, einem der einstigen Brennpunkte der Ausschreitungen, zeigt: Das Viertel hat sich nach 20 Jahren noch nicht vollständig erholt.

An der Ecke Vermont Avenue und Santa Monica Boulevard in East Hollywood steht ein fliegender Händler am Straßenrand und bietet den Autofahrern Kokosmilch und frisches Obst mit Limonensaft und Chilis an. Früher war hier ein Elektronik­laden. Ein Kiosk verkauft Zigaretten und spanischsprachige Zeitungen.
An diesem Ort, der harmloser nicht aussehen könnte, blickte ich vor 20 Jahren zum ersten Mal in den Lauf einer Pistole. Die Stadt stand in Flammen, der Himmel war ockergelb und von Rauchschwaden durchzogen. Das war 1992, in Los Angeles waren die Unruhen ausgebrochen, die als »L. A. Riots« in die Geschichte der USA eingehen sollten.
Ich war erst seit wenigen Monaten in der Stadt und wohnte, ohne es zu wissen, direkt an einem der Brennpunkte der Riots. Ich musste fliehen, und zwar zu Fuß. Auf den Straßen sah ich meine Nachbarn die Geschäfte plündern, in denen wir alle jeden Tag einkauften. Binnen eines Nachmittags waren die netten Leuten von nebenan wie ausgewechselt. Vor dem Elektronikladen »Holly­tron« hörte man Schüsse. Die koreanischen Ladenbesitzer bezogen mit Schrotflinten Stellung und ein Pick-Up-Truck mit bewaffneten Jugendlichen fuhr an mir vorbei. Ich weiß nicht, wer zuerst schoss. Wir warfen uns zu Boden. Ich presste mich gegen den heißen Asphalt. Als ich wieder aufblickte, schaute ich in den Lauf einer Pistole, die Mündung ein alles verschlingendes schwarzes Loch. Plötzlich lief alles wie in Zeitlupe ab. Das Gesicht des Teenagers, der die Waffe hielt, nahm ich kaum wahr. Er war ein Weißer, ein Latino vielleicht. Auch in seinen Augen stand die Angst. »Nicht schießen«, flehte ich ihn an. »Bitte!« Die Schießerei dauerte nur wenige Minuten. Mir gelang die Flucht in die Hollywood Hills. Vom Balkon eines Freundes konnte ich auf das Inferno blicken, das sich vor mir auftat.

Nichts mehr lässt in East Hollywood auf das Chaos von damals schließen. Doch die Ruhe ist trügerisch, denn an den gesellschaftlichen Missständen, die zu den Riots führten, hat sich kaum etwas verändert. Viele Menschen leben noch in Armut, noch immer gibt es gewalttätige Straßengangs und noch immer ist das Verhältnis vor allem der schwarzen Bevölkerung zur Polizei angespannt.
Die Geschichte der Unruhen nahm 1991 seinen Anfang, als vier Polizisten den betrunkenen Autofahrer Rodney King nach einer langen Verfolgungsjagd brutal verprügelten. Dabei wurden sie gefilmt und die flackernden, grobkörnigen Schwarzweißaufnahmen von dem schwarzen Mann, der auf dem Boden liegt und immer wieder versucht, aufzustehen, lösten nicht nur in der schwarzen Community, sondern im gesamten Land große Empörung aus. 56 Mal schlugen die Polizisten mit ihren Metallschlagstöcken zu. Der Einsatzleiter, Sergeant Stacey Koon, zeigte sich sogar noch stolz darauf: »So gut habe ich schon lange keinen mehr verprügelt«, gab er damals an. Als die Polizisten vor Gericht kamen, argumentierte die Verteidigung, die Vorschriften mögen vielleicht zu kritisieren sein, die Beamten hätten jedoch nur Befehle befolgt.
Nach dem Freispruch der vier Beamten am 29. April 1992 brach in den Teilen der Stadt, die mehrheitlich von der schwarzen Community bewohnt waren, die Gewalt aus. Vier Tage lang stand die Stadt in Flammen. 53 Menschen kamen ums Leben, mehr als 2000 wurden verletzt, ganze Viertel brannten ab. Während auf den Straßen die Unruhen wüteten, zog sich die Polizei in einen improvisierten Kommandoposten hinter den Mauern eines Busdepots in South Los Angeles zurück und wartete ab.

»Sie haben auf unsere Leichenwagen geschossen, auf unsere Leute«, erinnert sich Dr. Laksmanan Sathyavagiswaran. Dr. Laksman, wie er von seinen Freunden der Einfachheit halber genannt wird, ist seit 20 Jahren Chefpathologe des Los Angeles County, der oberste Gerichtsmediziner des Landkreises. Zu seinen Aufgaben gehört es, im Ernstfall die Toten zu bergen und in die Leichenhalle zu bringen.
Genau das sei damals unmöglich gewesen: »Man kam nirgendwo mehr durch, alle Verkehrsadern waren von brennenden oder gestrandeten Fahrzeugen blockiert«, erzählt er. »Wir hatten kugelsichere Westen, sonst nichts.« Dr. Laksman, der damals gerade drei Monate im Amt war, hatte eine Idee: Er schaute auf den Stadtplan und unterteilte die Karte in einem Raster. Die Gegenden, in denen die Unruhen wüteten, markierte er als hot zones. Nahe jeder hot zone designierte er Parkplätze oder Warenhäuser als »Kommandozentralen«, dort platzierte er seine Leute. Mithilfe von Spürhunden drangen sie, immer wenn die Gewalt etwas abflaute, in eine hot zone ein und suchten nach Toten: »Die Leichen wurden dann in die Kommandozentrale gebracht und dort so lange auf­bewahrt, bis der Transport in die Leichenhalle von Downtown Los Angeles möglich wurde.«
South Central war einer der Brennpunkte der Riots. Das ist die Gegend südlich des Santa Monica Highway, die in den frühen neunziger Jahren durch den Gangsta-Rap aus der West Coast bekannt gemacht wurde, und in unzähligen Songs als Synonym für Gang-Kriminalität, Armut, Drogen und Polizeigewalt gilt, etwa in den Texten der Band N.W.A. (Niggaz Wit Attitudes) oder in Ice Cubes »How to Survive in South Central«.

Noreen McClendon ist die Vorsitzende der »Concerned Citizens of South Central L.A.«, einer Bürgerinitiative, die darum bemüht ist, den wirtschaftlichen, kulturellen und sozialen Zusammenhalt dieser Gegend zu stärken. »Denn South Central ist weitaus mehr als nur Gangs und Gewalt«, sagt McClendon. Die Gegend ist eine historische Nachbarschaft mit traumhaften Gebäuden im Stil des Art-Deco und mit palmengesäumten Boulevards. Doch nicht nur die jahrzehntelange Vorherrschaft von Drogen und Kriminalität, sondern auch, paradoxerweise, der wirtschaftliche Aufschwung habe für viele Bewohnerinnen und Bewohner von South Central das Leben schwierig gemacht: »Die Gentrifizierung tötet unsere Community«, sagt McClendon. Aufgrund der Wirtschaftskrise, die 2008 in den USA ihren Anfang nahm, ist das Leben für viele Menschen aus South Los Angeles, die in den vergangenen Jahrzehnten in die Vorstädte abgewandert waren, immer teuerer geworden. Viele von ihnen kehren jetzt in die Inner City zurück. Dadurch wird die Gegend wieder attraktiver und die Mieten und Grundstückpreise steigen. »Lange Zeit war es schwer, die Leute zu überzeugen, in diese Gegend zu investieren, denn das Kapital war aus South Central abgezogen worden«, beschreibt McClendon die Lage. Mit ihrer Initiative hat sie unter anderem für den Bau von mehr als 600 Sozialwohnungen gesorgt. Für die Jugendlichen entsteht hier, im Herzen des »Ghettos«, ein Fußballplatz. Jetzt kommen immer mehr Menschen aus den Vorstädten und Einwanderer aus Lateinamerika. »South Central wird nie wieder schwarz sein«, meint sie, »aber das ist okay.«
Doch es gibt noch andere Probleme neben der Stadtentwicklung. South Los Angeles hat die schlechteste Luft der Stadt. Nur 30 Prozent der Jugendlichen schaffen den Highschool-Abschluss. »Viele Leute glauben, dass wir nur auf der faulen Haut liegen und nichts zur Gesellschaft beitragen. Sie glauben, dass die Unterschicht wertlos ist«, fasst McClendon die gängigen Vorurteile gegenüber den Bewohnerinnen und Bewohnern dieser Gegend zusammen, »gleichzeitig gilt South Central als ein Schwellenmarkt«, fügt sie hinzu.
In der Tat ist South Central ein Viertel voller Kontraste. Es gibt neue Parks und neue Schulen, doch gleichzeitig sind wesentliche Teile der Infrastruktur völlig veraltet. Noch immer sieht man hier Müll auf den Straßen, heruntergekommene Sozialbauten und Bahngleise, die ins Nichts führen. Die Wandgemälde von Konterfeis der Ikonen der schwarzen Community, etwa Malcolm X, wurden mit Graffitis verunstaltet und sind kaum noch auszumachen. Die Straßen und Bürgersteige sind in einem erbärmlichen Zustand, überall suchen streunende Hunde nach Essbarem. Die Zuwanderung aus Lateinamerika kann man bereits an den Straßenschildern erkennen, die jetzt Namen tragen wie Honduras Street oder Lima Street. Viele der Anwohner halten sich Hühner oder bauen Mais im Garten an. Zugleich befindet sich nahe der Los Angeles Food Bank, der städtischen Essensausgabe für die Armen ein riesiges, leerstehendes Gelände, in dem früher Schrebergärten waren, wo Gemüse angebaut wurde. Doch dann wurde das Grundstück verkauft und die Kleinbauern wurden vertrieben. Seit sechs Jahren liegen die Flächen brach, von einem Zaun umgeben, 18 Millionen Dollar will der Besitzer dafür haben.

Die Inhaber des einstigen Elektronikladens an der Ecke Vermont Avenue und Santa Monica Boulevard, Charles und Chuck Lim, haben das Geschäft dicht gemacht und sind weggezogen. Sie hatten ihren Laden 1979 gegründet, mithilfe eines in der koreanischen Community üblichen informellen Kredits, den man kye nennt. In Korea-Town war in den siebziger und achtziger Jahren eine verbreitete Praxis, sich Geld nach dem Genossenschafts­prinzip zu leihen. Dadurch hatten die Koreaner gegenüber der schwarzen Community einen wirtschaftlichen Vorteil, denn sie waren von den Banken unabhängig, welche Kredite an Leute aus South Central nur ungern bewilligten. Seit den sechziger Jahren waren immer mehr koreanische Einwanderer in das Geschäft mit den kleinen Liquor Stores, die man in L.A. an fast jeder Ecke finden kann, eingestiegen. Da South Los Angeles von den großen Handelsketten und Supermärkten so gut wie ignoriert wurde, stießen die Koreaner auf eine Marktlücke, sie machten ihre kleinen Läden auf und verkauften Alkohol, Zigaretten, aber auch alltägliche Gebrauchsgegenstände zu überteuerten Preisen.
Als 1991, zwischen dem Polizeiübergriff gegen Rodney King und dem Freispruch der Täter, die koreanische Ladenbesitzerin Soon Ja Du die 15jährige Latasha Harlins von hinten erschoss, weil sie das Mädchen fälschlicherweise des Ladendiebstahls bezichtigt hatte, wurden die Risse zwischen der koreanischen und der schwarzen Community in South Central offensichtlich. Soon Ja Du wurde nicht freigesprochen, aber sie kam mit Bewährung davon.
»In der schwarzen Community hieß es, wenn man einen Hund tötet, kommt man in den Knast, aber wenn man eine schwarze Teenagerin erschießt, kommt man davon.« So beschreibt die Anwältin und Bürgerrechtlerin Connie Rice bei ­einer Presseveranstaltung der Los Angeles Times anlässlich des 20. Jahrestages der Riots die Stimmung in der Gegend nach diesem Urteil. Rice engagiert sich seit vielen Jahren gegen Rassismus und Diskriminierung. Sie hält die Riots für das Resultat der »totalen Demütigung einer gesamten Community«. Als die Gewalt dann losging, wurden gleich zu Beginn koreanische Ladenbesitzer angegriffen. Rice meint, es sei ein regelrechtes Pogrom gewesen.
Wer mit der Popkultur von damals vertraut war, etwa den Filmen von Mario Van Peebles (»New Jack City«), John Singleton (»Boyz N The Hood«) oder Spike Lee (»Jungle Fever«) sowie den Rap-Alben von Dr. Dre und N.W.A., hätte vielleicht vor Ausbruch der Unruhen die Zeichen der Zeit erkennen können. Die Crack-Epidemie, die brutalen Kriege unter den Gangs, und die Gewalt der Polizei gegen Schwarze wurden in vielen Rap-Songs thematisiert, wie in »Cop Killer« von Body Count oder auf dem Album von Public Enemy »Fear of a Black Planet« von 1990. Doch keiner nahm die Wut offenbar so richtig wahr. Und als sie sich entlud, war es zu spät. Nach etwa vier Tagen Ausschreitungen gelang es den Behörden, der Polizei und der Nationalgarde, die Situation unter Kontrolle zu bekommen. Die Stadt erwachte wie aus einem Albtraum. Hunderte von Menschen gingen zu den Geschäften, die sie zuvor ausgeraubt hatten, und brachten das Diebesgut zurück. In den Tagen nach den Riots war auffällig, wie die Leute auf der Straße den Blickkontakt untereinander vermieden. Es blieben Trümmer, abgebrannte Gebäude und Asche.
Große Teile von South Los Angeles sind seitdem nicht mehr wieder aufgebaut worden. Rund 20 Prozent der Infrastruktur von damals sind noch immer zerstört. Anlässlich des Jahrestags der Riots Ende April sind viele Reporterinnen und Reporter nach Watts und South Central gekommen. Sie stellen Fragen, sie wollen wissen, wie es damals war. Die Anwohnerinnen und Anwohner sind genervt, denn die meisten von ihnen haben damals noch nicht hier gewohnt. Die Welt hat sich verändert.
Das ehemalige Mitglied von N.W.A., Ice Cube, dreht heute Familienfilme und hat sein eigenes Modelabel. Dr. Dres berühmtes Album »The Chronic« feiert sein 20jähriges Jubiläum. In South Central gibt es noch immer viel zu wenige Geschäfte und ein begrenztes Lebensmittelangebot. Allein die britische Supermarktkette »Fresh & Easy« macht dort Filialen auf, sie sieht anscheinend in South Central einen riesigen Markt. Und noch immer gibt es Liquor Stores, die jetzt aber in der Regel Latinos gehören. »Es hat sich gar nichts verändert«, meint John, 55, der vor einem Store um Geld bettelt. Er riecht nach Alkohol. »Der Wirtschaft geht es besser«, glaubt er, »aber uns Armen nicht.«
Auch das Verhältnis der Bevölkerung zur Polizei ist im Wandel begriffen. Der jetzige Polizeichef, Charlie Beck, hat große Veränderungen bewirkt, was man zuletzt an der relativ friedlichen Räumung des »Occupy«-Lagers vor dem Rathaus in L. A. sehen konnte. Beck will das Image der Polizei ändern, aber der Rassismus ist noch immer tief verwurzelt. Allein im letzten Jahr gab es in Los Angeles laut interner Polizeiakten, rund 140 Übergriffe von Polizeibeamten, die noch untersucht werden. Darum berät Beck sich oft mit Bürgerrechtlerinnen wie Connie Rice, die keine positiven Veränderungen im Verhalten der LAPD erkennen kann: »Die DNA der Polizei hat sich nicht verändert«, sagt sie.
Rassistische Übergriffe von Polizisten sind auch in anderen Gegenden der USA ein Dauerthema. Im Frühling dieses Jahres hat die Polizei in Florida erst nach mehreren Wochen und hohem öffent­lichen Druck gegen den Mörder des schwarzen Teenagers Trayvon Martin Haftbefehl erlassen (Jungle World 14/12). In Los Angeles ist es nicht viel anders. Im März 2010 erschossen zwei Polizisten den geistig behinderten schwarzen Jugendlichen Steven Washington auf offener Straße ohne auf Anhieb erkennbaren Grund. Ein polizeiinterner Bericht hatte den Beamten jedwede Schuld abgesprochen, doch nach einem öffentlichen Aufschrei kommt es nun zu einer erneuten Ermittlung. Die Ergebnisse sind noch nicht bekannt.