Böse Buben ohne Leiche
Es kommt nicht oft vor, dass gepanzerte Hubschrauber einer Antiterroreinheit im Morgengrauen auf einem Privatgrundstück in einem Villenviertel landen und schwerbewaffnete Polizisten dann von ihren Schusswaffen Gebrauch machen, um sich Zugang zu den Wohnräumen zu verschaffen. Was sonst eher in Kolumbien oder im Kampf gegen al-Qaida geschieht, ereignete sich in der vorvergangenen Woche in Hannover. Der außergewöhnliche Großeinsatz diente aber nicht etwa der Verhaftung Frank Hanebuths, des Präsidenten der Hannoveraner Hells Angels. Hanebuth wurde lediglich zu einer kriminalpolizeilichen Vernehmung gebracht, in der es um die Mitwisserschaft in einem mutmaßlichen Mord an einem Drogenhändler ging.
Allerdings fehlt immer noch die Leiche, weshalb es sich ermittlungstechnisch um einen offenen Vermisstenfall handelt, bei dem die Polizei nur auf einen Mord spekuliert. Von einer Unverhältnismäßigkeit der Mittel kann angesichts des Einsatzes also aus verschiedenen Gründen gesprochen werden. Bemerkenswert ist vor allem der schlagzeilenträchtige Einsatz der Eliteeinheit GSG9, die nach Auskunft der Bundespolizei vorrangig zur akuten Gefahrenabwehr eingesetzt werden soll, was beim Sturm auf Hanebuths Anwesen nicht der Fall war. Auch ein anderes Prinzip der GSG9 wurde in Hannover nicht beachtet: »Die Einsätze finden grundsätzlich unbemerkt von der Öffentlichkeit statt.«
Der Einsatz war Teil einer großangelegten Durchsuchungs- und Festnahmeoperation im norddeutschen Raum gegen mehrere Gruppen der Hells Angels, an der insgesamt über 1 000 Polizisten und mehrere Sondereinsatzkommandos (SEK) beteiligt waren. Bislang gaben die Ermittlungsbehörden nicht bekannt, dass dabei Schwerkriminelle gefasst wurden. Vor laufenden Kameras – die Medien waren informiert – kam es zu spektulär inszenierten Stürmungen und Festnahmen sowie zur Beschlagnahme von Messern und anderen Alltagsgegenständen. Außerdem wurden mehrere Vereinsheime der Hells Angels geräumt. In einer Lagerhalle in Kiel wird nun seit zwei Wochen mit schwerem Gerät der Boden ausgehoben, da im Zement die Leiche des Drogenhändlers vermutet wird. Bislang entdeckte die Polizei allerdings dort nach eigenen Angaben keine Spur.
Die Vermutung, dass die Leiche dort einbetoniert worden sei, stützt sich dabei nicht auf Indizien aus eigener Ermittlungsarbeit, sondern Medienberichten zufolge allein auf die Aussage eines ehemaligen Mitglieds der Hells Angels, das derzeit in Kiel unter anderem wegen Zuhälterei, räuberischer Erpressung und Körperverletzung vor Gericht steht. Der Mann nimmt an einem Zeugenschutzprogramm teil, manche seiner Aussagen und »Einblicke in das Innenleben der Hells Angels«, zu denen Zeitungen die Angaben spektakulär aufbauschen, haben sich schon als falsch herausgestellt. In den vergangenen Monaten wurde bereits ein Berliner Grundstück metertief umgegraben, da man dort die Leiche vermutet hatte. Es ist schwer vorstellbar, dass in einem anderen Vermisstenfall aufgrund solcher Hinweise ein derart großer Aufwand betrieben würde, wie er derzeit im Kampf gegen die sogenannte Rockerszene üblich ist.
Das hat Gründe. »Die Innenminister nehmen eine Reihe von Gruppen ins Visier: Salafisten, Rockerbanden, Autodiebe, Hooligans«, berichtete das ZDF anlässlich der Innenministerkonferenz in Mecklenburg-Vorpommern vor einigen Tagen auf seiner Homepage. Der niedersächsische Innenminister Uwe Schünemann (CDU) warnte insbesondere die sogenannten Rockerbanden: »Der Kuschelkurs muss vorbei sein.« Geplant seien Verbote mehrerer lokaler und regionaler Vereine vor allem der Hells Angels. Diese Forderung unterstützen sowohl die Gewerkschaft der Polizei (GdP) als auch die Deutsche Polizeigewerkschaft vehement, die sich ansonsten wegen ihrer parteipolitischen Nähe zur SPD beziehungsweise zur CDU selten einig sind. Kurioserweise warnt ausgerechnet Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich (CSU) vor hektischem Aktionismus. Auch er wünsche sich bundesweite Verbote, das Problem aber sei der gerichtliche Nachweis der kriminellen Ziele der Vereine, der für Verbote notwendig sei, denn: »Wir können ja keine Menschen verbieten.«
Die politische und mediale Diskussion über »die Rocker« trägt hysterische Züge. So schreiben manche Medien eine »Gefahr für den Rechtsstaat« herbei, ein Reporter des NDR forderte kürzlich »null Toleranz«. In den vergangenen Jahren gab es tatsächlich bundesweit Dutzende großangelegter Polizeieinsätze, zudem arbeiten seit Jahren nicht nur die Kriminalpolizeien aller Länder, sondern auch Sonderkommissionen der Landeskriminalämter und des Bundeskriminalamts im Bereich »Rockerkriminalität«. Beweise für die flächendeckende Verwicklung in den Rauschgifthandel oder die bundesweite kriminelle Organisation von Hells Angels, Bandidos, Mongols oder Nomads zu erbringen, gelang bisher nicht, obwohl es wohl kaum eine andere Gruppe von »Verdächtigen« gibt, die sich so gerne und offensiv der Öffentlichkeit präsentiert. Aber gerade das lässt die Rocker mit ihrer vermeintlichen oder tatsächlichen Affinität zu Sexualität, Drogen, »schnellem Geld« anscheinend zum verhassten wie schillernden Gegenbild der »normalen« Gesellschaft werden.
Das Bild der gesetzlosen Parallelgesellschaft der Rocker entwerfen Medien, Politik und Polizei immer wieder, wie etwa die GdP, die anlässlich der jüngsten Razzien forderte: »Kriminelle Parallelgesellschaften mit allen rechtsstaatlichen Mitteln bekämpfen!« Doch empirisch lässt sich die Behauptung des Bestehens einer solchen »Parallelgesellschaft« nicht aufrechterhalten. So wird etwa die Mitgliederzahl der Rockerclubs auf mehrere Zehntausend geschätzt, was sich in der Kriminalitätsstatistik aber nicht entsprechend niederschlägt. Auch die Anzahl von Tatverdächtigen und Verurteilten aus dem Milieu ist im Vergleich zur Mitgliederzahl verschwindend gering.
Manchmal muss die Justiz einschreiten, um deutlich zu machen, dass dem Kampf gegen die »Rockerkriminalität« Grenzen gesetzt sind. So hob der Bundesgerichtshof im vergangenen Jahr ein Urteil gegen einen Rocker auf. Dieser hatte einen SEK-Beamten erschossen, als der Polizist sich im Zuge einer geplanten Durchsuchung an der geschlossenen Haustür zu schaffen gemacht hatte. Das Mitglied der Hells Angels war zunächst wegen Totschlags verurteilt worden, der Bundesgerichtshof wertete die Tat jedoch als »irrtümliche Notwehr«, da der Schütze von einer tatsächlichen Bedrohung ausgegangen war und angenommen hatte, ein Mitglied der verfeindeten Bandidos wolle sich Zugang zu seinem Haus verschaffen.
Kurios verlief auch das geplante Verbot einer Berliner Gruppe der Hells Angels in der vergangenen Woche, zu der SEK aus mehreren Bundesländern angefordert worden waren. Bei den Durchsuchungen wurden keinerlei Beweise für kriminelle Aktivitäten gefunden – angeblich, weil die Maßnahme zuvor der Presse verraten worden sei. Die amtierende Berliner Polizeipräsidentin Margarete Koppers bezeichnete den Polizeieinsatz hinterher als »größte Panne der letzten Jahrzehnte«.
Trotz derartiger Fehlschläge wird eine neue Form der Großkriminalität als Bedrohung für die Allgemeinheit konstruiert, wie es schon in der Vergangenheit mit der »organisierten Kriminalität«, der »Asylkriminalität« und im Zuge der EU-Ost-Erweiterung der Fall war. Die Rocker scheinen auch deshalb ein attraktives Feindbild zu sein, weil sie das subproletarische Milieu der alten Bundesrepublik repräsentieren, das nicht mehr ins aufgeräumte und deindustrialisierte Deutschland von heute passt. Die Vorstellung der kriminellen Aneignung von Gütern durch unmittelbare Gewalt erscheint in der Konsensrepublik von Merkel und Gauck fremd, suspekt wirkt der Sparergemeinschaft von Hybridautofahrern schon ein verschwenderisch donnerndes Motorrad vor einem grell erleuchteten Rotlichtschuppen, in dessen verrauchten Separees noch herbes Bier getrunken wird. Das schillernde Klischee ist aber zumeist das Gegenteil der Wirklichkeit: Neue Rockerdependancen entstehen fast ausnahmslos im Ruhrgebiet, in Ostdeutschland und in ärmeren Großstädten, in den Parallelgesellschaften der Abgehängten, die die westdeutsche Mittelschichtsgesellschaft der Anständigen größtenteils schon aufgegeben hat.