Kevin Vennemann im Gespräch über Filmen, Bauen und Sterben in Los Angeles

»Es gibt keine Stadt, die Europäer mehr hassen als L.A.«

Der 1977 in Dorsten geborene Schriftsteller Kevin Vennemann (»Nahe Jedenew«) promoviert derzeit an der New York University in Literaturwissenschaften. Kürzlich erschien bei Suhrkamp sein Essayband »Sunset Boulevard«. Ein Gespräch über das Filmen, Bauen und Sterben in Los Angeles.

Sie leben seit kurzem in New York. Warum haben Sie sich nun aber mit Los Angeles beschäftigt, einer Stadt, in die man, wie Sie es formuliert haben, zieht, um »seine Vergangenheit abzuschütteln«? Hat Sie die vermeintliche »Geschichtslosigkeit« der Stadt fasziniert?
Es gibt keine Stadt, die bei Europäern, die so stolz sind auf die legitimierende Geschichtsträchtigkeit der eigenen Städte, dermaßen starke Abwehrreaktionen und geradezu Hass hervorruft wie Los Angeles. Dass Los Angeles allerdings mehr als genug Geschichte hat, und zwar eine durchaus verkorkste, die deshalb umso berichtenswerter ist, das kann man inzwischen bei so einigen Autoren nachlesen, Mike Davis’ »City of Quartz« ist da nur das bekannteste Werk.
In »Sunset Boulevard« nähern Sie sich Los Angeles zunächst über den Film Noir. Inwiefern spiegelt sich im Film Noir die verkorkste Geschichte von L.A.?
Ich habe mir erlaubt, Noir bzw. L.A.-Noir sehr weit, vermutlich unzulässig weit, zu definieren: Nicht nur klassische Hardboiled-Detektivfilme wie »The Big Sleep« oder »Kiss Me Deadly« oder Neo-Noirs wie »Chinatown« und »L.A. Confidential« gehören für mich dazu, sondern grundsätzlich zählt jeder Film dazu, der in Los Angeles spielt und die Stadt negativer, skeptischer, kritischer darstellt, als sie ihren zukünftigen Bewohnern ursprünglich versprochen worden war.
Los Angeles und Umgebung waren anfangs, um 1900, kaum mehr als ein gigantisches Immobilienspekulationsprojekt, das einer weißen Mittelschicht angemessen verkauft werden musste, und verkauft wurde es schlicht als menschengemachtes Paradies auf Erden für eine auserwählte Klasse und Hautfarbe.
Den Pool von Filmen, den Mike Davis L.A.-Noir genannt hat, habe ich um eine sehr große Zahl erweitert; Filme ab 1940, die die Stadt Los Angeles nicht länger als das elitäre Paradies und als Alternative zeichnen und in dieser Hinsicht anders als das frühe Hollywood operieren, das immer wieder auch als Verkaufs- und Werbemaschine funktioniert hat für genau jenes perfekte Bild von Los Angeles, das am besten ging: endlose Strände, mildes Klima, Wildnis und Urbanität, weiter Himmel, viel Platz, Palmen etc.
Deshalb gehören für mich zum L.A.-Noir auch Filme wie »Pineapple Express«, »Falling Down«, »Beverly Hills Cop«, »Terminator«, »The Artist« und der in vielerlei Hinsicht unsägliche, aber als eine Art Noir durchaus ergiebige »City of Angels« und viele mehr.
Sie nehmen in Ihrer Auseinandersetzung mit dem L.A.-Noir auch Bezug auf Fotografien jüdischen Lebens im Schtetl und auf die Shoa: Verstehen Sie die europäische Geschichte als Subtext des L.A.-Noir?
Nur bedingt. Ich verarbeite damit vor allem einen merkwürdigen Reflex, der mich während der Arbeiten am Buch verfolgt hat. Ich habe mir so viele Filme daraufhin angeschaut, wie darin gestorben wird, wer warum und wie stirbt, wie Leichen gezeigt oder verborgen werden, wie also diese vielen Leichenberge, die Opfer des gescheiterten Paradieses sozusagen, im Kino präsentiert werden. Und immer wieder bin ich währenddessen zurückgekehrt zu einem Moment, in dem ich mich frage: Wo und wie habe ich eigentlich gelernt, Leichen zu betrachten, wo und wie habe ich zum ersten Mal welche gesehen, und womit assoziiere ich diese Filmtoten ganz automatisch, beinahe zwanghaft? Und das sind natürlich die Leichen, die ich, die wir alle, schon immer aus so vielem Bildmaterial zur Shoa kennen. Und um diesen fragwürdigen Reflex, um diesen Moment, in dem die Toten aus Los Angeles und die Toten der Shoa und sowieso alle Toten scheinbar in derselben Grube zu liegen beginnen, ging es mir eigentlich, und nur dieses Moments wegen drifte ich ab für eine Weile, raus aus Los Angeles, um mich zu fragen: Was passiert da eigentlich, wenn ich mir einbilde, nur einen einzigen Leichenberg zu sehen, und was bedeutet das?
Wie hat sich die Art und Weise, wie im Kino gestorben wird, verändert?
Einerseits hat sie sich überraschend wenig verändert. Für einfaches Hollywood-Kino muss Drastik schon aus ökonomischen Gründen Grenzen haben. Das Sterben ist natürlich mit dem Wegfall der meisten regulativen Produktionsvorschriften in den sechziger Jahren vielfältiger geworden, es kann detaillierter gezeigt werden. Viel interessanter finde ich aber, wie viel Überwindung es Hollywood gekostet hat, sich zu trauen, die Leiche einen Mensch sein zu lassen. Etwa bis 1950 fällt ein Mordopfer einfach um und ist dann tot. Das war’s, wir sehen nur noch eine Körperattrappe, einen Kartoffelsack oder gar nichts, keine Wunden, kein Gesicht, wenig Blut, wenn überhaupt. 1955 markiert einer der ersten, vielleicht der erste Hollywood-Gerichtsmediziner, der in Robert Aldrichs »Kiss Me Deadly« über das Öffnen und Obduzieren eines Körpers spricht, einen Wendepunkt, und erst um 1955 beginnt man ganz allmählich damit, den toten Körper so darzustellen, dass uns klar ist: Schon immer ist im Hollywood-Kino der Tod simuliert worden, aber erst jetzt glückt die Simulation, das heißt erst jetzt sind wir gelegentlich bereit, dem Plot zu glauben, dass da ein Mensch gestorben ist, wir haben es tatsächlich mit einem Körper zu tun, der zwar zu leben aufgehört hat, aber wir sehen ihn weiterhin als tatsächlichen Körper.
Die Toten im Film zeugen auch von den rassistischen Strukturen im Kino, afroamerikanische Tote werden anders inszeniert als weiße.
Grundsätzlich gilt das für jedes Plot-Element im Hollywood-Kino, sowohl zu Zeiten, als die Produktions-Codes das Engagement afroamerikanischer Schauspieler schlichtweg untersagt haben, falls sie nicht nur einmal kurz als Diener oder Autowäscher auftauchen, als auch danach. Eigentlich ist es kaum zu glauben, was für eine Sensation Supersuperstars wie Will Smith oder Samuel L. Jackson immer noch sind. Das wird einem eigentlich erst klar, wenn man die Geschichte Hollywoods einmal ganz gezielt nach schwarzen Schauspielern durchsieht.
»L.A. Confidential« setzt als einer der ganz, ganz wenigen Neo-L.A.-Noirs eine realistische oder repräsentative Anzahl von schwarzen Schauspielern ein und gibt mit diesem Casting auch ein antirassistisches Statement ab. Gleich zu Beginn präsentiert uns der Film mit eindeutiger Geste buchstäblich einen Leichenberg aus fünf oder sechs weißen Leichen. Wir können nicht anders, als dieses schreckliche Bild mit uns durch den Film zu schleppen, wir können diesen Berg gar nicht übersehen, geschweige denn vergessen, sollen wir auch nicht.
Die Leichen von Afroamerikanern sind dagegen über den ganzen Film verteilt, die können wir sehen, wenn wir wollen, wir müssen aber nicht. Hier ein Toter, dort noch einer, für Empathie wird ganz bewusst nicht geworben, und sowieso interessiert sich kein Mensch dafür, diese Tode der Schwarzen aufzuklären, Widersprüche zu klären, Fragen zu stellen. Jener »weiße« Leichenberg allerdings ist das, worum sich der gesamte Film dreht und all unsere Aufmerksamkeit. Man kann »L.A. Confidential« vieles vorwerfen, aber man muss ihm unbedingt anrechnen, dass er als einziger von so vielen Neo-Noirs, die in der Zeit zwischen den zwanziger und den fünfziger Jahren spielen, die Bedeutungslosigkeit des afroamerikanischen Körpers für Hollywood andeutet, und »Hollywood« repräsentiert und spiegelt nicht nur in diesem Zusammenhang durchaus auch gesellschaftliche Zusammenhänge.
Ein wichtiger Aspekt des Buches ist die Auseinandersetzung mit der Architektur von L.A. und ihre Inszenierung, etwa in den Architekturfotografien Julius Shulmans. Wie verhält sich seine fotografische Inszenierung von L.A. zu Ihrer Wahrnehmung der Architektur?
Shulman hat den größten Teil seines Lebens damit verbracht, die teilweise radikal minimalistische, teilweise unnötig selbstverliebte architektonische Moderne in Südkalifornien zu fotografieren. Der Rest der Welt kennt die inzwischen berühmten Häuser vor allem von seinen Fotos.
Ich war immer schon sehr begeistert von Architekten wie Raphael Soriano und Gregory Ain, die tatsächlich im Sinn gehabt zu haben scheinen, nicht weniger als so etwas wie das bestmögliche und fortschrittlichste Wohnen für alle zu schaffen. »Für alle« bedeutete in einer jungen Stadt wie Los Angeles, die sich in architektonischer und stadtplanerischer Hinsicht rasend schnell vor allem im Sinne ihrer weißen und reichen Bewohner entwickelt hat, eine Zielvorgabe, die niemandem zuvor auch nur ansatzweise in den Sinn gekommen wäre. Aber auch ein Superstar der architektonischen Moderne wie Richard Neutra hat sich immer wieder mit progressiven Sozialbauten in South Central beschäftigt, und dies zu einer Zeit, in der er erfolgreich genug war, um sich auf immer wieder neue und einträgliche Glas- und Stahlvillen in den Hollywood Hills konzentrieren zu können. Leider hat die McCarthy-Ära und der allgegenwärtige Kommunismusverdacht einige wirklich tolle und soziale Neutra-Projekte verhindert.
Shulman hat so ziemlich jedes moderne Gebäude im Raum Los Angeles fotografiert, sich beispielsweise für Neutras realisierte Sozialbauten allerdings niemals interessiert. Sowieso ist Shulman das Gebäude nie als Gebäude wichtig gewesen, sondern immer nur als Skulptur, die gut auszusehen hat, und genau so inszeniert er seine Fotos: Wir lernen aus seinen Fotos so gut wie nichts über das Haus und was es kann und soll und will und verbessert, wir lernen immer nur, wie spektakulär sich in ihm die weiße Mittelklassenfamilie inszenieren lässt, über die diese Architektur leider nie hinausgekommen ist. Und daran, dass ein Großteil der radikalen architektonischen Moderne heute reduziert wird auf ein Dasein als hübsches Kunstobjekt, als Skulptur und grundsätzlich funktionsloser Dekorationsgegenstand für einige wohlhabende Wenige, daran gebe ich Shulmans einerseits zu Recht als ikonisch und allgegenwärtig geltenden, aber eben auch ziemlich ignoranten Fotografien die Schuld.
In Ihrem Buch verlassen Sie L.A. schließlich gemeinsam mit der in New York geborenen, heute in L.A. lebenden Autorin und Filmemacherin Chris Kraus in Richtung Osten, was fast als Flucht beschrieben ist. Wovor fliehen Sie und was haben Sie in New York für sich gefunden?
Nein, wir fliehen nicht. Wir haben festgestellt, dass in vielen L.A.-Noir-Filmen die Protagonisten am Ende aus Los Angeles zu fliehen versuchen oder von der Flucht träumen. Den wenigsten gelingt die Flucht, viele sterben beim Versuch, aber die meisten sehnen sich in dem gescheiterten Ersatzparadies auf Erden zurück nach New York. Sie haben nichts gelernt, sie hoffen nun auf ein Paradies in New York. Chris und ich folgen ihnen auf dem Weg Richtung Osten, um zu sehen, was sie da wohl gesucht und was die wenigen, denen die Flucht geglückt ist, gefunden haben. Chris ist in den frühen Neunzigern aus New York nach Los Angeles abgehauen, ihr gefällt’s da und mir auch. Insofern ist sie den Protagonisten des L.A.-Noir noch einen Schritt hinterher, sie hat die Erfahrung des Hölle gewordenen Paradieses noch nicht gemacht. Damit ist sie mir allerdings noch weit voraus: Denn was auch immer ich in New York bislang gefunden habe, es wird mich wohl nicht davon abhalten, im nächsten Januar nach Los Angeles zu ziehen. Nach so vielen Filmen sollte ich’s eigentlich besser wissen.