Ist beeindruckt von den bolivianischen Wrestlerinnen

Fliegende Röcke im Ring

Im bolivianischen El Alto sind die cholitas catchascanistas eine Institution im Kampf­sport. Sie treten in traditioneller Tracht auf, verstehen sich aber gleichwohl als moderne Frauen und fordern nicht nur im Ring die traditionelle Rollenverteilung der Geschlechter heraus.

Für Carmen Rojas ist der Sonntag der wichtigste Tag der Woche. Dann wählt die Bolivianerin mit Bedacht eine besonders schöne pollera aus, so heißen die bunten Röcke, die über den Petticoats getragen werden und zur traditionellen Garderobe in Bolivien gehören. Dazu trägt sie eine passende Stola, die manta, und zum Schluss kommt das Prunkstück, der traditionelle bolivianische bombín. Ausgesprochen elegant sitzt der kleine Hut auf dem sorgsam gekämmten, pechschwarzen Haar der Frau, die heute als Kämpferin im Multifunctional, der Sporthalle von El Alto, antreten wird. Die Haltestelle für die Kleinbusse befindet sich gleich gegenüber der Sporthalle, in der jeden Sonntag Frauen und Männer in den Ring klettern.
Schon Stunden bevor es losgeht, warten die ersten Fans vor der Halle, die mit einem farbenprächtigen Transparent dekoriert ist. »Titanes del Ring« und »Cholitas Catchascanistas« ist in dicken Buchstaben darauf zu lesen, neben den Namen und Konterfeis der Kämpferinnen und Kämpfer. Die männlichen Catcher tragen Namen wie Cobarde, Rayo Azteca und Doberman. Die Frauen haben es offenbar gerne etwas blumiger wie Yolanda La Amorosa (die Liebevolle), und Jenifer 2 Caras (die doppelgesichtige Jenifer).
»Sie sind die Attraktion im Multifuncional von El Alto«, sagt José Luis Argamonte, der heute mit seinem fünfjährigen Sohn vor dem Eingang der Halle auf den Einlass wartet. Ihm gefällt das Spektakel, das jedes Wochenende mit neuen Sensationen aufwartet. Schon als Kind hat er sich die Lucha libre, wie das Catchen auf spanisch heißt, mit seinem Vater angesehen. »Damals waren es allerdings ausschließlich Männer, die in den Ring stiegen, und irgendwann war der Reiz weg«, sagt der Familienvater.
Der Grund, warum Argamonte und viele weiteren Fans das Spektakel in El Alto besuchen, sind die berühmten cholitas catchascanistas. Beliebt sind sie nicht nur bei Männern, die sich traditionell das Catchen gerne anschauen, sondern auch bei vielen Frauen.
»Die cholitas sind ein Symbol für die Gleichberechtigung«, sagt etwa Yolanda Quispe, die mit ihrem Marktstand, an dem sie Schuhe verkauft, nur ein paar hundert Meter entfernt von der Sporthalle steht. Yolanda hat meist keine Zeit, zum Kampftag am Sonntag in die Sporthalle zu gehen, doch das Spektakel ist ausgesprochen beliebt, auch unter Touristen, die aus La Paz nach El Alto kommen. Die stetig wachsende Stadt liegt rund 500 Meter über dem Talkessel auf einem Hochplateau. Die Bewohner hier gelten mehrheitlich als Anhänger der Regierung von Präsident Evo Morales und sind meist indigener Abstammung, die allermeisten, wie Morales, sind Aymara.

Das gilt auch für Carmen Rojas. Stolz präsentiert sich die Frau von Anfang 30 den Fans vor der Halle und ein paar asiatische Besucher nutzen die Gelegenheit, sich mit der Catcherin, die heute den Hauptkampf gegen Jenifer 2 Caras beschreiten wird, fotografieren zu lassen. Geduldig und mit charmantem Lächeln posiert sie mit den Fans, bevor sie dann hinter der Stahltür zum Aufwärmtraining verschwindet.
Carmen Rojas gehört bereits zur zweiten Generation der kämpfenden cholitas. Die Grande Dame unter ihnen heißt Carmen Rosas. Sie war die erste, die mit der traditionellen Tracht der Aymara in den Ring kletterte. In den Overalls, die Männer üblicherweise tragen, habe sich die kräftige Frau, die heute im Zentrum von La Paz eine Garküche betreibt, schlicht nicht wohl gefühlt. Für den Auftritt am Sonntag darf es gern auch etwas Eleganter sein. Dann putzen sich Carmen, Yolanda, Jenifer, Antonia und die anderen cholitas heraus und das Publikum in El Alto weiß das zu schätzen genauso wie die kämpferische Leistung der Damen. Lucha libre ist hier Volkssport.

In vielen Sporthallen des Landes wird am Abend trainiert und am Wochenende gekämpft. So auch im Coliseo von Villa Victoria, einer Sporthalle unten in La Paz, wo viele der cholitas früher tranierten. Yolanda ist über ihren Vater zum Catchen gekommen. Er trat als El Gran Lotario auf und hat die Begeisterung fürs Catchen an die Tochter weitergegeben. Yolanda und Carmen sind schon im Ausland aufgetreten. Viel Geld ist trotz vieler blauer Flecken und teilweise langwieriger Verletzungen allerdings nicht zu verdienen. Zwischen 20 und 40 Euro sind es pro Kampf, so wird gemunkelt, denn über Geld wird rund um die Wettkämpfe nur ungern geredet. Das liegt auch daran, dass die cholitas von ihrem Management abgeschirmt werden und dass für Interviews meist Geld verlangt wird. Die Gagen sind angesichts eines Mindestlohns von 800 Bolivianos, rund 90 Euro, ein willkommenes Zubrot, aber auch auf den Ruhm sind viele stolz. Schließlich werden die Kämpfe manchmal im Fernsehen übertragen und einzelne Kämpferinnen und Kämpfer werden geradezu verehrt.
Endlich ist es am Sonntag so weit. Die Halle mit Betonboden, die links und rechts mit fest installierten Bänken eingefasst ist, wird von dem Ring dominiert, um den wiederum Hunderte bunte Plastikstühle aufgestellt sind. Die sind den Touristen vorbehalten, die deutlich mehr als die fünf bis zehn Bolivianos (umgerechnet zwischen 50 Cent und einem Euro) für den Eintritt zahlen, die die Einheimischen berappen müssen. Rund das Zehnfache, je nach Platz, zahlen die Ausländer. Allerdings werden sie dafür auch aus La Paz hochgekarrt in die Mehrzweckhalle, die zur Einstimmung mit lauter, leicht verzerrter Musik beschallt wird. Neben internationalen Disco-Klassikern von Vorgestern dröhnen auch Cumbia und der markante Rhythmus des bolivianischen Huayño aus den Boxen. Dann geht es los. Die Kämpferinnen und Kämpfer präsentieren sich dem Publikum, das von wackligen, gelb lackierten Metallgittern vom Kampfareal getrennt wird. Zwei alternde, übergewichtige Kämpfer machen den Anfang und wie so oft wartet der Kampf mit einigen Überraschungen auf, um das Publikum in Stimmung zu bringen. Diesmal ist es ein parteiischer Schiedsrichter, der dem unterlegenen Kämpfer in die Seite tritt. Das ist typisch für die lucha libre, die keine Regeln und keine Verlierer kennt und vor Anzüglichkeiten nicht zurückschreckt. Dem Publikum in El Alto gefällt das.
Rosita Quispe Navarro ist zum ersten Mal da und hat gemeinsam mit ihrem Mann großen Spaß an dem Geschehen im Ring. Laut schimpft sie auf den Schiedsrichter, fordert dessen Ablösung, als im folgenden Kampf die erste cholita hemmungslos benachteiligt wird. Das gehört zur Inszenierung bei den »Titanes del Ring« und funktioniert prächtig: Die rund 2 000 Zuschauer sind begeistert. Schnell verwandelt sich die Halle in ein Tollhaus, in dem Schiedsrichter, besonders fiese Kämpfer, rudo bzw. ruda genannt, mit Knochen oder anderen Speiseresten beworfen werden.
Die Kämpfe folgen dabei meist einer konventionellen Dramaturgie. Zuerst muss der oder die »Gute« Hiebe einstecken, oft auch vom Schiedsrichter. Da wird dann schon mal ein Stuhl oder eine Neonröhre spektakulär auf dem Kopf eines Kämpfers oder einer Kämpferin zerbrochen und die Halle johlt und flucht angesichts der Ungerechtigkeit. In aller Regel sind Zuschauer auf der Seite des Guten und wollen daher das Böse besiegt sehen. Heute ist im Hauptkampf Jenifer 2 Caras die »Böse«. Ihr gegenüber steht die perfekt geschminkte Carmen Rojas, die Hut und manta in der Kabine gelassen hat und sich vom Publikum feiern lässt. Doch dann kommt Jenifer angeflogen und springt ihr mit Anlauf in den Rücken. Der vielstimmige Schrei »Atención« aus dem Publikum kommt zu spät. Carmen Rojas geht zu Boden, rappelt sich wieder hoch und muss mehrere harte Schläge von Jenifer 2 Caras einstecken, die sich schon selbst feiert und das johlende Publikum beschimpft, welches auf Seiten der Unterlegenen steht.
Das gehört genauso zur Dramaturgie wie das Ziehen an den langen Zöpfen, manchmal durch den Ring und manchmal auch außerhalb. Auch das ist heute Bestandteil der Show. Als eine Flasche auf der Stirn von Carmen Rojas zerbricht, bewerfen die Zuschauern Jenifer 2 Caras mit halbvollen Plastikflaschen und Speiseresten. Das ist das Signal für das große Finale. Dabei landen die beiden Kämpferinnen auch einmal in den Zuschauerreihen, bevor es zurück in den Ring geht. Da wendet sich endlich das Blatt – die Gute, Carmen Rojas, feiert ihre Wiederauferstehung und legt die fiese Jenifer auf die Bretter.
Ein Finale ganz nach dem Geschmack von Rosita Quispe Navarro. Begeistert klatscht sie Beifall, als Carmen zu einem Sprungtritt ansetzt und Jenifer krachend auf den Brettern landet. Es folgt eine ganze Serie von Würfen und Sprüngen, bis die fiese Jenifer keuchend auf dem Rücken liegt – Carmen jubelt. Das Gute hat gesiegt und erstmals hat Mr. Ramiro, der Schiedsrichter, nichts einzuwenden. Carmen Rojas ist zufrieden.

Der cholitas sei es zu verdanken, dass diese Veranstaltung in El Alto eine Renaissance erlebt hat, sagt José Luis Argamonte: »Vor elf Jahren zog das kaum mehr Zuschauer an. Die Männer wollte kaum jemand mehr sehen und erst als die cholitas kamen, kehrten auch die Zuschauer zurück.« Eine Darstellung, die auch Juan Mamani, Veranstalter und selbst Catcher, bestätigt. Die Idee, Frauen in den Ring steigen zu lassen, symbolisiert einen Wandel in der bolivianischen Gesellschaft. Nicht nur weil die Frauen auch mal einen Mann krachend auf die Bretter legen, sondern weil sie sich selbstbewusst als chola, verniedlichend cholita, bezeichnen.
Cholas wurden einst in Bolivien Mestizinnen genannt, die indigene und europäische Einflüsse vereinten, dann mutierte das Wort zum Schimpfwort für die Frauen aus den Anden, die traditionelle Trachten tragen. »Doch das Wort ›cholita‹ ist in Bolivien mittlerweile eher positiv besetzt«, sagt Casimira Rodríguez. Die ehemalige Hausangestellte gehörte 2006 als Justizministerin zum ersten Kabinett von Präsident Evo Morales. Sie wurde vielfach angefeindet, weil sie in traditioneller Tracht ihrer Arbeit nachging. Das ist heute vorbei: Mehrere der sieben Frauen, die heute in Bolivien Ministerien vorstehen, tragen traditionelle Tracht.
Die Ex-Ministerin leitet heute eine Stiftung in Cochabamba, die sich für die Rechte der Frauen einsetzt. Hürden beim Zugang zur Bildung, familiäre Gewalt, aber auch Frauenmorde sind trotz aller Veränderungen für viele Frauen in Bolivien nach wie vor Teil des Alltags. Gleichwohl ist die klassische Rollenverteilung, hier Herd und Kinder, da Erwerbsarbeit und Ernährer der Familie, auch in Bolivien ins Wanken gekommen.
Das zeigen Juanita und Kid Simonini, die beide regelmäßig im Ring stehen und sich gemeinsam um ihre beiden Kinder kümmern. »Wir haben uns gut organisiert«, sagt Kid Simonini, der seiner Frau auch als Trainer zur Seite steht und, wenn sie im Ring kämpft, mit dem Kinderwagen um den Block zuckelt.
Juanita, Yolanda oder Carmen bezeichnen sich als »moderne bolivianische Frauen«, die wissen, was sie wollen, und hart für die eigene Zukunft schuften. Der Auftritt im Ring ist dabei nur ein Teil der Realität, denn fast jede von ihnen hat mindestens einen weiteren Jobs neben dem Catchen. Carmen arbeitet in einer Garküche, Yolanda als Schreibkraft in einem Krankenhaus und Martha La Altoña näht gemeinsam mit ihrer Schwester Masken und die Kostüme für die Events im Ring.