Das Oberste Gericht der USA erklärte Obamas Gesundheitsreform für verfassungskonform

Nicht der richtige Richter

Zur Empörung der Republikaner hat das Oberste Gericht der USA mit der Stimme eines Konservativen die Gesundheitsreform Präsident Barack Obamas grundsätzlich gebilligt.

»Das Oberste Gericht hat uns im Stich gelassen«, sagte Rick Perry, der republikanische Gouverneur von Texas. »Der Ruf des Obersten Richters Roberts ist für immer beschädigt. Es wird keine Rehabilitierung geben. Er ist ein Verräter an seiner eigenen Philosophie«, urteilte Brent Bozell, Leiter des konservativen Media Research Center. Michael Savage, ein rechtskonservativer Radiomoderator, gab gar Roberts’ angeblicher Epilepsie die Schuld, dass er vorige Woche das entscheidende Votum für die Bestätigung der Verfassungskonformität des Affordable Care Act (ACA) von 2010 – abfällig »Obamacare« genannt – abgab.
Die Konservativen sind enttäuscht und empört. Sie hatten erwartet, dass der 2005 von Präsident George W. Bush ernannte John Roberts zusammen mit den weiteren vier konservativen Mitgliedern des Obersten Gerichts die knappe Mehrheit bilden würde, um den ACA, die bislang wichtigste Reform Barack Obamas, zu widerrufen. Das Hauptargument der Reformgegner war das individuelle Mandat, das alle Bürger dazu verpflichtet, eine Versicherungspolice zu erwerben. Dies sei eine verfassungswidrige Zwangmaßnahme. Gemäß der Kommerzklausel der Verfassung darf die föderale Regierung nur den Handel zwischen den Bundesstaaten regulieren.

Bei der Anhörung vor dem Gericht im Frühjahr schien Roberts den Argumenten der Konservativen zu folgen. Dass er stattdessen die Gesundheitsreform zusammen mit den vier eher linksliberalen Richtern bestätigte, liegt, zumindest verfassungstheoretisch gesehen, nicht daran, dass Roberts seine Meinung geändert hat. Denn in seinem Urteilsspruch für die Mehrheit gab Roberts den Konservativen in der Sache Recht: Laut Verfassung darf niemand gezwungen werden, eine Versicherungspolice abzuschließen. Doch dies fordere das Gesetz nicht, führte Roberts aus. Vielmehr wird nur eine Sondersteuer erhoben, sofern jemand der Aufforderung nicht nachkommt, und dies sei im Rahmen der Befugnis der föderalen Regierung, Steuern zu erheben, verfassungskonform.
Die richterliche Bestätigung für die Reform, die bis zu 32 Millionen bislang unversicherten Menschen eine Gesundheitsversicherung verschaffen soll, wurde vom Präsidenten begrüßt. In den nächsten Monaten wird die Erstellung des neuen Regulierungswerkes für die Versicherungsindustrie fällig. Künftig müssen Anbieter deutlich höhere Mindeststandards bei der Gestaltung der Policen beachten. Zudem dürfen sie nicht länger die Aufnahme aufgrund von Vorerkrankungen verweigern oder Frauen wie bisher deutlich teurere Policen anbieten als Männern. Die Anbieter müssen künftig 80 Prozent ihres Umsatzes für Behandlungskosten ausgeben, andernfalls bekommen die Versicherten eine Rückerstattung. Weitere Kostenkontrollen sind vorgesehen.
Das individuelle Mandat tritt 2014 in Kraft. Dann wird der Erwerb einer Versicherungspolice von der föderalen Regierung mit einem deutlich höheren Steuerfreibetrag für Krankenversicherungsausgaben belohnt. Somit werden künftig alle individuell Versicherten – die überwiegende Mehrheit der Bürger ist bereits über Betriebskrankenkassen versichert –, deren Einkommen die Armutsgrenze um nicht mehr als 400 Prozent übersteigt, indirekt subventioniert. Schätzungen zufolge werden 2014 etwa 15 Millionen Menschen eine der bisher extrem teueren individuellen Policen erwerben. Wahrscheinlich werden kleinere Betriebe die steuerlich begünstigten Betriebsversicherungen kündigen. So könnte die Gesundheitsreform langfristig das Ende der betrieblichen Krankenversicherung bedeuten.
Allerdings gab das Gericht, hier mit einer breiten Mehrheit und Roberts’ Stimme, den Klägern, 26 republikanisch geführten Bundesstaaten, in einem Punkt recht. Die mit dem ACA verabschiedete Erweiterung von Medicaid, des staatlichen Gesundheitsprogramms für Arme, kann nicht wie geplant erfolgen. Das Gesetz sieht vor, dass Medic­aid für alle Menschen mit einem Einkommen unter 133 Prozent der Armutsgrenze geöffnet werden soll, bis zu 17 Millionen working poor kämen so in den Genuss der staatlichen Versicherung. So sollte die Lücke zwischen den bislang mehr oder weniger gut medizinisch versorgten Ärmsten der Gesellschaft und den mittels Steuerbegünstigungen mitfinanzierten Versicherten in der Mittelschicht geschlossen werden. Weil Medicaid von den Bundesstaaten mitfinanziert wird, können diese nach Ansicht des Gerichts nicht zur Teilnahme am erweiterten Programm gezwungen werden.
Experten schätzen indes, dass kaum ein Bundesstaat die Erweiterung von Medicaid auf Dauer verweigern wird, zumal der ACA vorsieht, dass die föderale Regierung künftig 90 Prozent der Kosten übernimmt. Es kommt selten vor, dass Bundesstaaten auf Geld aus Washington verzichten. Insider mutmaßen, dass sogar Texas unter Perry seinen Widerstand bald aufgeben wird.

Dass die Armen Opfer eines konservativen Obersten Gerichtes sind, hat in den USA eine lange Tradition, die erst während der späten Phase der Präsidentschaft Franklin D. Roosevelts gebrochen wurde. Mit seiner grundsätzlichen Zustimmung zum ACA hat Roberts die Philosophie der konservativen Rechtsschule nicht verraten. Auch seine Einschränkung des aus der Kommerzklausel abgeleiteten Rechts der föderalen Regierung, die Wirtschaft der Bundesstaaten zu regulieren, entspricht der konservativen Rechtsauffassung.
Darüber hinaus ist Roberts erwiesenermaßen ein Freund der Privatwirtschaft. Zwar macht die Versicherungsindustrie gegen die Gesundheitsreform Stimmung und versucht dabei, Einfluss auf die Umsetzungsrichtlinien und die Regulierung zu nehmen. Doch gegen das individuelle Mandat hat sie nichts einzuwenden. Schließlich ist es eine Idee der Heritage Foundation, eines konservativen Think Tanks. Alle Bürger sollten zur Teilnahme am privaten Versicherungsmarkt gezwungen werden. Für Millionen neue Kunden und indirekte staatliche Zahlungen kann die profitorientierte Gesundheitsindustrie neben Obama nun auch Roberts danken.