Es erreicht mehr als die Linke

Rote Roben sieht man besser

Vergessen Sie die Linke und »Die Linke«. Bürgerrechte und soziale Verbesserungen werden hierzulande vom Bundesverfassungsgericht durchgesetzt.

Manchmal hat es die Bundesregierung eilig, manchmal hat sie es weniger eilig. Als Grundregel kann gelten: Je stärker auf einen schnellen Abschluss des Gesetzgebungsverfahrens gedrängt wird, desto dubioser ist das Gesetz. Müssen hingegen die Menschenrechte gewährleistet oder rechtliche Verpflichtungen gegenüber den Armen erfüllt werden, lässt man sich gerne etwas mehr Zeit.
So sollte der Fiskalpakt unbedingt noch vor dem 1. Juli beschlossen werden. Eine Opposition im Parlament, dessen Befugnisse mit dem Pakt zudem eingeschränkt werden sollen, muss die Regierung nicht fürchten, und eine außerparlamentarische Opposition erst recht nicht. Nur das Bundesverfassungsgericht kann den nächsten Schritt in die selbstverschuldete Unmündigkeit noch aufhalten.
Als das Asylbewerberleistungsgesetz im Jahr 1993 in Kraft trat, verpflichtete sich die Regierung dazu, die Beträge jedes Jahr neu festzusetzen. Fast 20 Jahre lang wurde diese Bestimmung nicht beachtet. Nun aber vertritt das Bundesverfassungsgericht die revolutionäre Ansicht, dass auch Leistungen für Flüchtlinge sich »am Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums messen lassen« müssen. Abgesehen von den üblichen Verdächtigen, also Linken, Flüchtlingsorganisationen und Menschenrechtlern, war das fast zwei Jahrzehnte lang niemandem aufgefallen.

Die Bourgeoisie gibt sich eine Verfassung, um sich vor den Irrsinnigen in den eigenen Reihen zu schützen, urteilte Karl Marx. Wohl nirgendwo sonst ist das notwendiger als in Deutschland. Das zeigt sich unter anderem an der Häufigkeit erfolgreicher Klagen vor dem Bundesverfassungsgericht. Eigentlich sollte die höchste juristische Instanz nur in besonderen Fällen von grundsätzlicher Bedeutung angerufen werden, und nicht, weil vier Bundesregierungen zu rassistisch waren oder es der Mühe nicht für wert befanden, Flüchtlingen angemessene Sozialleistungen zukommen zu lassen. »Gern hätten wir Ihnen ein verfassungsgemäßes Bemessungsmodell vorgestellt«, sagte Annette Niederfranke, Staatssekretärin im Bundesarbeitsministerium vor Gericht. »Das können wir noch nicht.«
Die Theoretiker der bürgerlichen Gesellschaft waren naiv genug anzunehmen, dass Parlamentarier und Regierungspolitiker professionell arbeiten, also in der Lage sind, ein Gesetz verfassungskonform zu formulieren. Überdies hegten sie die Erwartung, dass eine Regierung sich an die geltenden Gesetze hält. Beides ist in Deutschland nicht der Fall, es darf als exemplarisch für die hiesige politische Kulur gelten, dass die bedeutendste Sozialreform seit Jahrzehnten den Namen des Serienstraftäters Peter Hartz trägt, der wegen »Untreue« (Bestechung) in 44 Fällen verurteilt wurde. Die Korrekturen des Bundesverfassungsgerichts sind zum regulären Bestandteil des Gesetzgebungsprozesses und der Verwaltungspraxis geworden. Und das ist gut so.

Gewiss, es gab Ausrutscher, etwa das im Jahr 1956 verhängte KPD-Verbot. Nicht selten werden die Urteile unterlaufen, manchmal schlicht ignoriert. Wer demonstriert, mag kaum glauben, dass es eigentlich ein Verbot »anlassunabhängiger Videobeobachtungen« der Polizei gibt. Doch was wäre, wenn Leute wie Wolfgang Schäuble und Guido Westerwelle gänzlich unbehindert »durchregieren« könnten? Gäbe es kein Bundesverfassungsgericht, das hin und wieder den Überwachungswahn bremst, etwa im Volkszählungsurteil (1983) oder mit der Einschränkung des »Großen Lauschangriffss« (2004), würden uns die Stasi-Agenten heute schon als liberale Softies erscheinen. Die Richterinnen und Richter verteidigten das Demonstrationsrecht im »Brokdorf-Beschluss« von 1985, schützten die Religionsfreiheit vor bayerischen Kreuzzüglern (Kruzifix-Urteil, 1995) und sorgten dafür, dass die Hartz-IV-Sätze für Kinder erhöht werden mussten.
Die wichtigste Auseinandersetzung steht unmittelbar bevor. Mit Ausnahme der Linkspartei unterstützen alle Parteien im Bundestag den Übergang von der bürgerlichen Demokratie zu einem paneuropäischen technokratischen Austeritätsregime unter deutscher Führung. Die Linke hat sich diesem Problem nicht einmal gestellt, und »Die Linke« hat sich nun an das Bundesverfassungsgericht gewandt.
Zwangsläufig kommt hier auch die nationale Souveränität ins Spiel. Doch derzeit ist die Frage, ob die nationale Souveränität Deutschlands wenigstens an dessen Grenzen endet und die ohnehin dürftigen Standards der bürgerlichen Demokratie erhalten bleiben. Mehr können wir vom Bundesverfassungsgericht nicht erwarten. Schließlich sprechen wir über eine Institution des Klassenfeindes. Rot sind nur die Roben. Um die Abschaffung Deutschlands und die Revolution wird sich die Linke schon selbst kümmern müssen.