Große Koalition in Israel gescheitert

Sich wehren gegen den Niedergang

Die große Koalition in Israel ist gescheitert. Der Streit um die allgemeine Wehrpflicht ist nicht der einzige Grund dafür.

Der erneute Versuch, die israelische Partei Kadima zu spalten, war erfolglos. Dem parteiinternen Machtkampf folgte das Ende der großen Regierungskoalition. Erst am 8. Mai war diese durch den Beitritt der liberalen Kadima (Vorwärts) unter dem neugewählten Parteivorsitzenden Shaul Mofaz zur Regierung von Ministerpräsident Benjamin Netanyahu vom konservativen Likud-Block entstanden. Die Schaffung eines neuen Gesetzes für mehr Gleichberechtigung bei der Wehrpflicht, das kontrovers diskutiert wurde, war nur ein Vorwand und nicht wirklich die ideologische Gewissensfrage, die Hinterbänkler zum Parteienwechsel trieb und Israels Innenpolitik wieder einmal heillos durcheinandergebracht hat.
Die 2005 vom damaligen Ministerpräsidenten Ariel Sharon nach seinem Austritt aus dem Likud gegründete Partei Kadima sollte im Parlament eine Mehrheit für den einseitigen Rückzug aus dem Gaza-Streifen garantieren. Seit Sharon im Januar 2006 einen Hirnschlag erlitt und ins Koma fiel, fehlt Kadima, die als Sammelbecken für Politikerinnen und Politiker von links bis rechts fungiert, ein eigenes Konzept und die Partei befindet sich in einer Krise. Dennoch ging sie aus den letzten Wahlen 2009 als stärkste Kraft hervor. Sie profitierte von der Angst vieler Wählerinnen und Wähler vor Rechten wie Netanyahu und Avigdor Lieberman und von der Schwäche der traditionellen Linken, die keine echte Alternative mehr bieten konnte.
Staatspräsident Shimon Peres beauftragte damals zunächst die Vorsitzende der größten Fraktion, Tsipi Livni der Kadima, mit der Regierungsbildung, wie es die Tradition vorschreibt. Aber die Politikerin, in der deutsche Medien eine große »Friedenshoffnung« sehen, scheiterte wegen ihres mangelnden Verhandlungsgeschicks. Dem innenpolitisch wesentlich geschickteren Netanyahu gelang es hingegen, eine stabile Koalition der Mitte zu bilden. Die sozialdemokratische Arbeitspartei unter Ehud Barak wurde ebenso Teil der Koalition mit dem Likud wie die rechte Partei Israel Beitenu (Israel ist unser Haus) von Lieberman. Mehrere religiöse Parteien, die üblicherweise sehr flexibel sein können, solange ihre Stimmabgabe für den Ministerpräsidenten mit finanzieller Unterstützung ihrer Erziehungseinrichtungen belohnt wird, schlossen sich an.

Netanyahu hatte mehrfach versucht, die Kadima an der Koalition zu beteiligen. Denn die ideologischen Differenzen zwischen dem rechten Likud-Block und der gemäßigten Kadima sind geringer, als viele denken. Livni gehörte einst dem stramm rechten Flügel des Likud an. Doch persönliche Animositäten verhinderten ihren Wechsel ins Regierungslager. Drei Jahre in Folge war die als Regierungspartei konzipierte Kadima bei Umfragen auf einstellige Zustimmungswerte gefallen. Schuld daran war Livni. Zu fast allen relevanten Themen hatte sie geschwiegen, anstatt sich als kritische Oppositionsführerin zu profilieren. Deshalb kam es vor zwei Monaten zur Stichwahl um den Parteivorsitz, aus der ihr Kontrahent, der ehemalige General Shaul Mofaz, siegreich hervorging. Er hatte Netanyahu zwar einst als Lügner bezeichnet, aber das hinderte ihn nicht daran, völlig überraschend der Regierungskoalition beizutreten.
Netanyahu und Mofaz hatten jeweils gute Gründe für dieses Bündnis, das freilich nur 70 Tage lang hielt. Der Ministerpräsident hatte nun über 90 der insgesamt 120 Abgeordneten der Knesset hinter sich und war so mächtig wie kaum einer seiner Vorgänger. Nicht nur um die Zustimmung zum umstrittenen Wehrpflichtgesetz ging es Netanyahu, sondern auch um die zum nächsten Staatshaushalt. Dieser muss fristgerecht bis zum 31. Dezember im Parlament verabschiedet sein, andernfalls stürzt die Regierung automatisch. Es käme dann zu vorgezogenen Neuwahlen, aber Netanyahu plant, seine komplette Amtszeit bis November 2013 auszusitzen. Mofaz hingegen wollte sich selbst und die darbende Kadima vor dem Untergang retten. Er glaubte, sich als stellvertretender Ministerpräsident profilieren zu können.

Vordergründig scheiterte die große Koalition am Wehrpflichtgesetz. Grundsätzlich können Männer zwischen 18 und 21 Jahren für drei Jahre und Frauen für zwei Jahre eingezogen werden. Aber selbst bei herrschender Wehrpflicht kann und will das Militär nicht jeden und jede einziehen, etwa wegen körperlicher oder psychischer Beeinträchtigungen. Seit der Staatsgründung gibt es außerdem zwei politisch begründete Ausnahmen, die zu Ungerechtigkeiten führen: Für Orthodoxe und Araber gelten Sonderegelungen.
Die meisten Jüdinnen und Juden, die in den Konzentrationslagern ermordet wurden, waren sogenannte Ostjuden. David Ben Gurion argumentierte bei der Gründung Israels, dass jene frommen Jüdinnen und Juden durch ihre Lebensweise und das Studium der Thora die Identität des Judentums über die Jahrhunderte bewahrt hätten. Damals lebten nur ein paar tausend Ultraorthodoxe in Israel, es war daher nachvollziehbar, dass Ben Gurion sie vom Militärdienst befreite. Diesen ein ganztägiges Studium der Heiligen Schriften zu ermöglichen, bedeutete aber auch, dass sie nicht arbeiten konnten oder durften und vom Steuerzahler finanziert werden mussten. Inzwischen machen sie jedoch gut 15 Prozent der israelischen Bevölkerung aus. So entstand für viele Israelis ein unhaltbarer Zustand: Einerseits beteiligten sich diese Orthodoxen nicht an der Landesverteidigung, andererseits blieben sie vom Arbeitsleben ausgeschlossen, zahlten keine Steuern und lebten von Sozialhilfe.
Seit einigen Jahren gibt es daher Bestrebungen, auch Orthodoxe in den Militärdienst einzubinden. Es wurden spezielle Einheiten ohne Frauen geschaffen, wo auch auf die rituelle Reinheit der Speisen besonders geachtet wird. Zudem wird ausreichend Zeit für das Thorastudium eingeräumt. Doch auch diese Maßnahmen reichten nicht aus, um alle Orthodoxen einzuziehen. Einer Studie des Richters Zwi Tal folgend, die 1999 vom damaligen Verteidigungsminister Ehud Barak in Auftrag gegeben worden war, hatte das Parlament 2002 eine Neuregelung der Wehrpflicht beschlossen, die Orthodoxen unter anderem die Möglichkeit der Entscheidung für oder gegen den Wehrdienst einräumte. Doch das Oberste Gericht befand im Februar, dass das sogenannte Tal-Gesetz, das am 1. August auslief, nicht alle Bürgerinnen und Bürger gleich behandle, deshalb verfassungswidrig sei und nicht verlängert werden dürfe.

Der Ministerpräsident hatte die Wahl, das Urteil des Obersten Gerichts zu ignorieren, was rechtswidrig gewesen wäre, oder ein neues Gesetz zu erarbeiten. Dazu reichte weder die Zeit noch der innenpolitische Wille, denn es drohte der Austritt der frommen Parteien aus Netanyahus Koalition, was seinen Sturz bedeutet hätte. Es waren bereits Neuwahlen im Gespräch, als sich Kadima unter Mofaz überraschend der Koalition anschloss. Im Prinzip hätte Netanyahu nun auch ohne die frommen Parteien ein neues Gesetz durchsetzen können. Aber mit Blick auf die bevorstehenden Wahlen, die spätestens 2013 stattfinden werden, wollte er die Frommen nicht vor den Kopf stoßen, um sie in Zukunft als möglichen Bündnispartner zu behalten.
Nicht nur um den Beitrag der Orthodoxen geht es bei dem Streit um die Wehrpflicht, auch arabische Israelis müssen nicht dienen. Sie galten nach der Staatsgründung als potentielle »fünfte Kolonne«, deswegen wollte die Staatsführung sie nicht in die Landesverteidigung einbeziehen. Araberinnen und Araber sind vom Wehrdienst völlig befreit, während Drusen und andere Minderheiten eingezogen werden, viele Beduinen melden sich aus Patriotismus freiwillig. Die arabische Bevölkerung, Christen wie Muslime, ist stark gewachsen und stellt heute etwa 20 Prozent der Einwohner Israels, im Gegensatz zu den Orthodoxen können sie aber arbeiten.
Viele arabische Israelis und besonders deren politische Vertreter stehen ihrem Staat kritisch gegenüber. Sie können oder wollen sich nicht mit dem »jüdischen Staat« identifizieren. Andererseits klagen sie über »Diskriminierung«, denn der Staat vergibt finanzielle Vergünstigungen nur an Israelis, die gedient haben. Ebenso bleiben viele Berufe jenen verschlossen, die keinen Wehrpass vorweisen können. Für arabische Israelis und Menschenrechtsorganisationen ist das ein Grund, Israel als »Apartheitsstaat« an den Pranger zu stellen. Sie fordern volle Gleichberechtigung bei den Vorteilen, lehnen aber meist jegliche Gleichberechtigung bei den Pflichten ab. Es gibt aber seit einigen Jahren Hunderte arabische Israelis, die sich freiwillig zum Militärdienst melden, um besser in die israelische Gesellschaft integriert zu sein.
Außenminister Lieberman fordert heute eine absolute Gleichberechtigung für alle, Orthodoxe wie Araber. Mofaz und Netanyahu sind weniger radikal und nehmen Rücksicht auf arabische Widerstände oder spezielle Bedürfnisse der Frommen. So gab es den Vorschlag, Orthodoxe nicht bereits mit 18 Jahren, sondern erst ab 23 Jahren einzuziehen, nachdem diese schon Familien gegründet haben. Das wäre jedoch ein sehr teures Unterfangen, da verheiratete Wehrpflichtige ein Anrecht auf volle Gehälter zum Unterhalt ihrer Familien haben.
Während die israelischen Medien inbrünstig das Pro und Contra der Wehrpflicht diskutierten, wollten sich fünf Abgeordnete der Kadima aus Misstrauen gegen Mofaz abspalten. Doch am Ende fehlte der »siebte Mann«, um eine eigene neue Fraktion zu gründen. Als dieses angeblich von Netanyahu eingefädelte Komplott vorzeitig bekannt wurde, berief Mofaz am nächsten Morgen eine Pressekonferenz ein, verkündete seinen Austritt aus der Koalition und erklärte den Meuterern, dass derartige »Verräter« keinen Platz in seiner Partei hätten.
Die Innenpolitik steht Kopf, Mofaz habe seine politische Karriere beendet, Kadima sei am Ende, Netanyahu der große Sieger. Dies und ähnliches behaupten jetzt Analytiker, die sich schon oft geirrt haben. In der Frage der Wehrpflicht mag es verschiedene Positionen geben, letztlich versuchen alle Parteien, mit dem Thema populistisch Stimmen zu gewinnen. Israel kann sich wieder wichtigeren Themen zuwenden: Hunderttausende Arbeitsmigranten aus Afrika, soziale Not bei der Mittelschicht in Israel, Raketenbeschuss aus Gaza, Terroranschläge aus dem Sinai, chemische Waffen und Chaos in Syrien, ein Atomprogramm im Iran und nicht zuletzt der Terroranschlag in Bulgarien, für den vermutlich der Iran und die Hizbollah verantwortlich waren.