Über den Dokumentarfilm »Life in Stills«

»Das hat Rudi fotografiert«

Mitten in Tel Aviv befindet sich der 1940 eröffnete Fotoladen von Miriam Weissenstein. Gemeinsam mit ihrem Enkel führte sie das Geschäft bis kurz vor ihrem Tod und ­bewahrte das fotografische Werk ihres verstorbenen Ehemans Rudi Weissenstein, das aus mehr als einer Million Fotos besteht, die vor allem die Geschichte Israels und Tel Avivs dokumentieren. Der Dokumentarfilm »Life in Stills« erzählt von der Beziehung zwischen Großmutter und Enkel und ihrem gemeinsamen Kampf für den Erhalt des Ladens.

Muss diese tolle Stadt den wunderbaren Menschen danken, die sie erbaut haben? Oder müssen die wunderbaren Bürger von Tel Aviv dieser wunderbaren Stadt danken?« Tel Avivs Bürgermeister Run Huldai spricht diese Fragen aus, und ein bombastisches Feuerwerk erhellt den Nachthimmel. Als Matrosen verkleidete Tänzerinnen schreiten auf die Bühne, »Tel Aviv – Tel Aviv«-Choräle erklingen auf dem Yitzhak-Rabin-Square, wo Israels ehemaliger Ministerpräsident 1995 erschossen wurde. Die 96jährige Miriam Weissenstein und ihr 33jähriger Enkel Ben beobachten die Party vom Rande des Geschehens. Die grobkörnigen Schwarz-Weiß-Aufnahmen von Rudi Weissenstein, dem 1992 verstorbene Mann von Miriam, werden für das grelle Spektakel auf eine große Leinwand projiziert. »Siehst du: Das sind alles unsere Bilder. Das hat Rudi fotografiert«, ruft Ben seiner Großmutter zu. »Erkennst du sie?« Miriam verfolgt die Inszenierung mit Skepsis.
Die Szene am Anfang von Tamar Tals Dokumentation »Life in Stills« über das Fotostudio Zalmania erzählt vom bedeutendsten Bildarchiv des Landes. Obwohl das Geschäft schon eine kleine Institution ist – Woche für Woche drängen sich Menschen in die überschaubaren Räumlichkeiten –, soll der Laden in der Allenby Street der städtischen Aufwertung weichen. Auf Betreiben des Bürgermeisters wurde der zweistöckige Bauhaus-Komplex, in dem sich Zalmania befindet, an privat Investoren verkauft, die das Haus abreißen und Luxusapartments errichten wollen. Das Haus stehe nicht unter Denkmalschutz, erklärt die Architektin Nitza Samuk der Tageszeitung Haaretz. Seit acht Jahren leitet sie ein Projekt zur Umgestaltung Tel Avivs. »Life in Stills« dokumentiert den Kampf von Miriam Weissenstein und ihrem Enkel Ben um den Erhalt des Geschäfts.
Die Vorgeschichte: Die 1913 geborene Miriam Arenstein emigriert 1921 mit ihrer Familie nach Palästina, sie sind die ersten jüdischen Einwanderer aus der damaligen Tschechoslowakei. Später trifft sie dort ihren Ehemann Rudi Weissenstein, der bereits vor ihr ausgewandert ist. Gemeinsam eröffnen sie 1940 den Fotoladen und verdienen ihr Geld mit Auftragsfotos von britischen, kanadischen und australischen Soldaten. Am 15. Mai 1948 erhält Rudi eine Einladung auf den Rothschild Boulevard. Als einziger Fotograf wird er die Proklamation des Staates Israels dokumentieren. Zu dem berühmten Bild von David Ben-Gurion unter Theodor Herzls Porträt kommen Aufnahmen aus der Mandatszeit, Bilder erster Flüchtlingsströme in den dreißiger Jahren sowie einer frühen Rede Golda Meirs von 1937. Das Archiv gilt als einzigartige historische Sammlung.
Die Bilder stammen aus einer Zeit knapp 100 Jahre nach der Erfindung der Fotografie. In seinen Schriften über Film und Fotografie hob Walter Benjamin den neuartigen Zugriff auf die Wirklichkeit hervor, den das Medium ermögliche. Hierfür sind Weissensteins Aufnahmen exemplarisch: als kritische Bilderschau israelischer Geschichte. Ob das Lebenswerk der Weissensteins im Sinne Benjamins als »Politisierung der Kunst« lesbar ist oder ob das Archiv nicht vielmehr der »Ästhetisierung der Politik« frönt, lässt Tamar Tal offen, der Film verklärt seinen Gegenstand eher noch. Das ist schade, denn die Sammlung bietet zahlreiche Anknüpfungen an das diskursive Gedächtnis der frühen Geschichte Israels. Erste Kibbuzim, der Aufbruch nach der Shoa, der Wertewandel zionistischer Politik, all das ließe sich nachvollziehen. Die zeitgenössische israelische Theoretikerin Ariella Azoulay beschreibt Fotografie als eine Art Zivilvertrag, durch den sich mit dem Bürgerrecht verbundene Herrschaftstaktiken außer Kraft setzen lassen. Auch die damit benannten Konflikte – zwischen Israelis und Palästinensern sowie Misrachim und Ashkenazim (arabischen und europäischen Juden) – treten im Film in den Hintergrund.
Stattdessen erzählt der Film eine nicht weniger faszinierende Geschichte im Kleinen. Miriam entspricht mit ihrer lakonischen Art und ihrem derben Humor dem Bild einer hochbetagten Powerfrau. Mal wirbt Miriam Weissenstein bei Kunden für Unterschriften gegen den Verkauf der Ladenfläche und verkündet, sie wolle den Bürgermeister ins Altersheim schicken. Mal streitet sie sich mit Ben um den Internet-Auftritt des Studios. »Ich würde keine fünf Minuten darauf verschwenden«, kommentiert sie widerborstig. Die Dialoge sind witzig, die Beziehung der beiden wechselt zwischen herzlich verspielt und unerwartet grob. Auch die Rollen changieren. Fragt Ben mal nach einem freien Tag, antwortet die Deutsch sprechende Miriam erst mit einem »jeckenhaften« Nein, stellt sich dann aber allein in den Laden. Ansonsten übernimmt Ben den Großteil der Verantwortung für das Geschäft, er spricht mit der Baukommission, koordiniert Ausstellungen im Ausland und hält Kontakte. Ben weiß mit dem Erbe umzugehen, doch ohne dass die sture Großmutter sie absegnet, wird keine Entscheidung getroffen.
Im Lauf der Zeit verändert sich das Verhältnis zwischen Miriam und Ben, die zentrale Bruchstelle in ihrer Beziehung wird deutlich – ein dramatischer familiärer Einschnitt. Von Beginn an ist klar, dass Miriam und ihren Enkel mehr verbindet als die Arbeit im Laden. Nun zeigt sich: Beide sind Hinterbliebene und in einen tiefer liegenden Konflikt verstrickt, es geht um die Interpretationshoheit über die eigene Lebensgeschichte. Die Bilder vom Kampf um den Laden umspielen so den individuellen Kampf gegen das Vergessen, sie lesen sich als Allegorie auf das Älterwerden und den Umgang mit drohender Resignation und Verbitterung. Wie Miriams Leben und Lebenswerk an Bens Hingabe hängt, ist Ben angewiesen auf ihre Anerkennung. Er will Miriam überreden, das Archiv gemeinsam in Frankfurt vorzustellen. Obwohl sie von Bens Homosexualität und seinem Liebespartner Ofir weiß, sagt Miriam: »Ich bin alt, gebrechlich, krank. Du bist jung, klug, gutaussehend … und liebst junge Mädchen.« Die schnippische Rückfrage des Enkels – »Sag mal, ich liebe also Mädchen, ja?« – ist ein Beispiel für den simplen, aber treffsicheren Tenor des Films: Lebensbejahung und der Wille, nicht aufzugeben. Bald sitzen Miriam und Ben im Flugzeug nach Frankfurt und schminken einander die Lippen rot.
Tamar Tal begann vor acht Jahren, Miriam Weissensteins Leben zu dokumentieren. Wie die 32jährige Regisseurin im Interview erzählt, entwickelte sich die Beziehung zwischen Miriam und Ben erst seit 2006, zuvor bestand kaum Kontakt zwischen beiden. Tal hat sie sieben Jahre lang begleitet. Das Ergebnis, der knapp einstündige Film, ist perfekt komponiert, schön an­zusehen und emotional, beinahe zu emotional. Gelegentlich fehlt dem Film die nüchterne ­Distanz.
Dass das Zalmania-Archiv mehr ist als ein Ort der Nostalgie, macht der Film nicht deutlich. Wenngleich das Originalmaterial gekonnt in Szene gesetzt ist: Die Auseinandersetzung mit dem Medium kommt zu kurz, Rudi Weissensteins Bilder sind vorrangig ästhetisches Beiwerk. Die sensible Darstellung der Charaktere steht jedoch für sich. Tamar Tal hat treffende Bilder für Miriams und Bens außergewöhnliche Geschichte gefunden. »Life in Stills« ist ein ermutigendes und humorvolles Panorama über das private Trauma einer zerrütteten Familie und ein kleines Stück Tel Aviv.
Miriam Weissenstein ist kurz nach der Premiere des Films in Israel verstorben.

Life in Stills. Dokumentarfilm von Tamar Tal.
Start: 16. August