Der Machtkampf im Jemen

Er bleibt, auch wenn er geht

Auch nach seinem erzwungenen Rücktritt verfügt der ehemalige Präsident Ali Abdullah Saleh im Jemen über Rückhalt in der Bevölkerung und der Armee. Die Übergangsregierung schafft es nicht, die sozialen und wirtschaftlichen Probleme zu ­lösen.

Die politische Entwicklung im Jemen stagniert, und die Gesellschaft ist gespalten. Während das alltägliche Leben wieder seinen gewohnten Gang geht, hat sich die aus dem Aufstand entstandene Einheitsregierung in eine Blockadesituation manövriert. Zuletzt kam es am Dienstag vergangener Woche zu Kämpfen zwischen Einheiten der Armee, die loyal gegenüber der Übergangsregierung unter dem neuen Präsidenten Abd Rabbuh Mansur Hadi sind, und Anhängern des alten Regimes. Hadi war zu einer Konferenz nach Saudi-Arabien geflogen, einige Stunden später versuchten Elitesoldaten der Republikanischen Garde, das Verteidigungsministerium einzunehmen. Nach Gefechten, bei denen jemenitischen Angaben zufolge fünf Menschen starben, konnten die Angreifer zurückgedrängt werden. Die Republikanische Garde untersteht derzeit Brigadegeneral Ahmed Ali Saleh, dem Sohn des einstigen Präsidenten Ali Abdullah Saleh, der vor sechs Monaten abgesetzt wurde. Eine Woche vor dem Angriff hatte Hadi beschlossen, einige Einheiten der Republikanischen Garde einer neuen Truppe zum Schutz des Präsidenten zu überstellen, die unter anderem von General Ali Mohsen befehligt würde. Dieser hatte sich während der Aufstände im vergangenen Jahr auf die Seite der Opposition gegen Saleh geschlagen. Die Kontrolle über das gespaltene Militär ist entscheidend für den Erfolg der Übergangsregierung, wie auch das Beispiel Ägypten zeigt.

Auch sonst sind die Spuren der Kämpfe um die Macht unübersehbar. Die Schäden im Stadtteil Hassaba, wo sich die meisten Ministerien befinden, stechen sofort ins Auge. Die Front des Innenministeriums ist von Einschusslöchern übersät, die Fenster sind geborsten. Dort war es am 31. Juli zu Zusammenstößen gekommen, bei denen mindestens acht Soldaten starben, 25 wurden verletzt. Offenbar hatten Saleh-treue Einheiten das Gebäude gestürmt und das Feuer eröffnet. Die Einheitsregierung Hadis verurteilte die Tat einhellig. Ein Regierungssprecher betonte: »Selbst Angriffe auf die staatlichen Institutionen werden die politische Entwicklung des Landes nicht aufhalten. Und wir werden alles tun, um das Land nicht im Chaos versinken zu lassen.«
Weiter verschärft haben sich auch die sozialen Probleme. Während sich die junge Hautevolee im schicken Viertel Hadda in ihren Geländewagen durch die allabendliche Rush Hour quält und dabei mit ihren iPhones hantiert, ist die Zahl der Senioren, die im Müll nach Essen suchen, stark gestiegen. Allein dass überhaupt Müll auf den Straßen Sanaas liegt, wäre vor zwei Jahren dank der tadellos funktionierenden Müllabfuhr und den Tausenden Straßenfegern unvorstellbar gewesen.
Doch diese Staatsbediensteten haben erst vor gut drei Wochen ihren Dienst wiederaufgenommen. Zuvor hatten sie mehrere Wochen gestreikt. Meterhoch türmte sich der Müll in den Straßen der Hauptstadt, dann kam die Regierung ihren Forderungen nach. Verlangt hatten sie vor allem eine bessere personelle Ausstattung und eine Altersversorgung. Die Auswüchse dieses Arbeitskampfes belegen neuerlich, wie sich die Fraktionen der nach Vermittlung durch den Golfkooperationsrat gebildeten Einheitsregierung gegenseitig blockieren. Sie besteht aus dem früher allein regierenden Allgemeinen Volkskongress und einem vereinten Oppositionsbündnis. Präsident Hadi war zuvor seit 1994 Stellvertreter Salehs. Dieser war mit 33 Jahren an der Macht nach Muammar al-Gaddafi der dienstälteste Herrscher der arabischen Welt.

Zweifellos ist der aus dem ehemaligen Südjemen stammende Hadi ein schwacher Übergangspräsident. Allein durch seine Herkunft verfügt er in dem von Stammesloyalitäten dominierten Norden des Landes über keine wirkliche Machtbasis. Unter Saleh war seine Rolle zudem eher repräsentativer Natur, zumal der ehemalige Präsident schon seit geraumer Zeit seinen Sohn Ahmed Ali als Nachfolger aufbaute. Das Kommando der Republikanischen Garde sicherte ihm eine gute Ausgangsposition, um seinen Vater als Präsident zu beerben. Augenfällig wird die Schwäche Hadis an der fortdauernden Omnipräsenz von Saleh senior. Er steht nun dem Allgemeinen Volkskongress vor, besitzt eine Zeitung und einen Fernsehsender, hält weiter Hofstaat und nimmt Ehrerbietungen und Wünsche für einen gesegneten Ramadan von ihm loyalen Bürgerinnen und Bürgern entgegen.
Dass solche Rituale nach wie vor stattfinden, zeugt davon, dass Saleh seine Machtposition ausbaut. Während in den ländlichen Gebieten und im Süden des Landes die alte Garden und das überkommene System dezidiert abgelehnt werden, stützt in der Hauptstadt ein nicht unerheblicher Teil der Bevölkerung weiterhin den ehemaligen Präsidenten. Es sind durchaus nicht alle Bürgerinnen und Bürger mit der gegenwärtigen Situation zufrieden, und nicht alle Verärgerten sind enttäuscht, weil Saleh trotz der monatelangen Aufstände und vielen Toten weiterhin viel zu sagen hat. Viele wünschen sich ihren alten Herrscher zurück, sei es aus Sentimentalität, einer Mischung aus Unbildung und Obrigkeitsglauben oder schlicht aus wirtschaftlichen Erwägungen. Insbesondere in der von konservativen Händlerfamilien dominierten Altstadt Sanaas finden sich kaum Befürworter des Umsturzes. Dass bei diesen handeltreibenden, auf politische wie ökonomische Stabilität bauenden Schichten Aufstände wenig Anklang finden, ist nichts Neues. Ebenso wenig, dass auch dieser Umsturz zu einem Einbruch der nationalen Wirtschaftsleistung geführt hat: Das Bruttoinlandsprodukt sank um zehn Prozent. Auch stundenlange Stromausfälle gehören in Sanaa wieder zur Tagesordnung. Nun, in den Tagen des Ramadan, gehen die Lichter meist kurz nach Sonnenuntergang aus – dann, wenn die Familien zusammensitzen, um das Fasten zu brechen.

Außerdem destabilisiert eine nicht enden wollende Reihe von Anschlägen das Land. Ende Mai sprengte sich ein Selbstmordattentäter bei der Generalprobe für eine Militärparade in Sanaa in die Luft und tötete 96 Soldaten. Mitte Juli riss ein Jihadist vor der Polizeiakademie Sanaas zehn Menschen mit sich in den Tod, als er seinen Sprengstoffgürtel zündete. Zu beiden Anschlägen haben sich Gruppen von al-Qaida bekannt. Die Terrororganisation ist in dem ärmsten Land der arabischen Halbinsel seit Jahren aktiv. Die Anschläge werden als Vergeltungsaktionen al-Qaidas gegen die Regierung gewertet. Ihr war es gelungen, von den Jihadisten besetzte Städte im Süden des Landes wieder unter ihre Kontrolle zu bringen.
Manche Beobachter sehen gar den ehemaligen Präsidenten in die Anschläge verwickelt. Es heißt, dass Saleh sich der Islamisten bedienen könne, um Unruhe im Land zu schüren, die neue Regierung zu schwächen und sich selbst als einzigen Garanten für Sicherheit und Frieden zu präsentieren. Dass er zumindest in vergangenen Konflikten keine Skrupel hatte, sich dieser Kräfte zu bedienen, ist belegt. Als es nach der Wiedervereinigung von Nord- und Südjemen 1994 zu separatistischen Aufständen im Süden kam, griff Saleh bei deren Niederschlagung auch auf Islamisten zurück.
Die Zukunftsaussicht für den Jemen bleibt düster. Das Land ist politisch blockiert, die Gesellschaft gespalten, die Armut nimmt rasant zu. Zumindest vereinzelt scheint es eine Kooperation der alten Garde mit islamistischen Terroristen zu geben. Dies alles deutet darauf hin, dass die Lage sich eher noch verschlimmert.