Zehn Jahre Hartz-Reformen

Europa geht hartzen

Vor zehn Jahren verordnete der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder Deutschland die Hartz-Reformen. Die sozialdemokratische Regierung sorgte so nicht nur für wachsende Verarmung, sondern exportierte die deutsche Krise in die EU.

So sehen Sieger aus: Gut gelaunt und tief gebräunt präsentierte sich der ehemalige Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) vergangene Woche nach seinem Urlaub in Griechenland. Dort weilte er nicht nur, um zu entspannen, sondern auch, um ein wenig internationale Solidarität zu üben. Ganz bewusst, wegen der Finanzkrise und aus Verbundenheit mit den Griechen, wie er sagte.
Der ehemalige Kanzler ist schließlich Experte, wenn es um hoffnungslose Patienten geht. In seiner Amtszeit galt Deutschland lange Zeit als der »kranke Mann Europas«, wie das britische Wirtschaftsmagazin The Economist im Jahr 2002 urteilte: hohe Arbeitslosenrate, das niedrigste Wachstum in der Europäischen Union. Deshalb verordnete Schröder den Deutschen die »Hartz-Reformen«.

Nun lässt er sich dafür feiern. »Ich weiß, dass die Reformen zu Beginn schmerzhaft waren, aber wenn wir heute die Erfolge sehen, dann hat es sich für unser Land gelohnt«, lobte er sich vergangene Woche in einem ausführlichen Interview in der Bild-Zeitung. »Heute haben wir zwei Millionen Arbeitslose weniger. Das ist ein Gewinn für die Gesellschaft.« Die Kritik, die Reform habe zu einer Verarmung geführt, sei hingegen bloße Polemik.
Dabei wurde kaum über ein anderes politisches Vorhaben in Deutschland so gestritten wie über das Hartz-IV-Gesetz. Die Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe reduzierte nicht nur die Sozialleistungen in einem in der Bundes­republik bis dahin ungekannten Ausmaß, sondern spaltete auch Schröders eigene Partei. Viele So­zialdemokaten und enttäuschte Gewerkschafter traten der damaligen PDS bei oder organisierten sich in außerparlamentarischen Protestbewegungen.
Initiiert wurde die Reform allerdings nicht von ihrem Namensgeber, dem damaligen VW-Manager und Berater Schröders, Peter Hartz, sondern von einem Arbeitskreis der unternehmernahen Bertelsmann-Stiftung. »Vorrangiges Ziel war es, die öffentlichen Haushalte durch eine schnellere und passgenauere Eingliederung in den Arbeitsmarkt zu entlasten«, heißt es lapidar in einem Bericht der Stiftung. »Die Bundesregierung folgte in ihrem Gesetzesvorhaben dem Vorschlag der Arbeitsgruppe.«
Unter dem Motto »Fördern und Fordern« erfolgte anschließend eine grundlegende Umwälzung des Arbeitsmarktes. Die reduzierten Sozialleistungen sollten vor allem Arbeitslose dazu zwingen, notgedrungen niedrige Löhne zu akzeptieren. In der Folge entwickelte sich in Deutschland der größte Niedriglohnsektor in Westeuropa. Mittlerweile arbeiten etwa 7,5 Millionen Menschen in sogenannten geringfügigen Beschäftigungsverhältnissen. Etwa 1,4 Millionen erhalten zu ihrem Lohn noch staatliche Unterstützung, weil ihr Einkommen unter dem Satz für Hartz-IV-Empfänger liegt. Hinzu kommen ungefähr eine Million Leiharbeiter, die deutlich weniger verdienen als die Stammbelegschaften und die nur einen rudimentären Kündigungsschutz genießen. Die Zahl der »working poor«, also der Beschäftigten, die trotz einer Vollerwerbstätigkeit unterhalb der Armutsgrenze leben, ist nach Angaben der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung in den vergangenen acht Jahren deutlich angestiegen. Selbst jene, die nicht im Niedriglohnsektor beschäftigt sind, bekommen die Auswirkungen indirekt zu spüren. In den vergangenen zehn Jahren sank das Realeinkommen in Deutschland, während es in fast allen EU-Staaten zum Teil deutlich stieg. So billig war die Ware Arbeitskraft schon lange nicht mehr zu haben.

Dieser Umstand macht sich in der gesamten Euro-Zone bemerkbar. Während die deutsche Exportwirtschaft ein Rekordergebnis nach dem anderen erzielt, verschlechtert sich die Handelsbilanz der meisten anderen Euro-Staaten rapide. In gewisser Weise hat Deutschland mit den Hartz-Reformen seine eigene Krise exportiert. Die große Nachfrage nach günstigen deutschen Produkten sorgte in Deutschland für Wachstum, während im restlichen Europa vor allem das Handelsbilanzdefizit stieg. So wirkt es reichlich grotesk, wenn Schröder heutzutage Griechenland seine Solidarität bekundet. Die von ihm durchgesetzten Arbeitsmarktreformen haben dazu beigetragen, dass sich die Euro-Zone in einer strukturellen Krise befindet: Länder wie Griechenland, aber auch Italien, Frankreich und Spanien müssen ihre Lohnkosten drastisch senken, wenn sie weiterhin konkurrenzfähig bleiben wollen.
Aus Sicht der Bundesregierung kehrt sich das Verhältnis von Ursache und Wirkung allerdings um. Die Schuldenkrise lässt sich nach ihrer Ansicht nur lösen, wenn die anderen Staaten dem deutschen Modell nacheifern. Die Sparmaßnahmen, die viele Länder deswegen ergriffen haben, stellen das deutsche Vorbild mittlerweile weit in den Schatten. Die spanische Regierung hat beispielsweise erst kürzlich beschlossen, die Hilfe für Arbeitslose nach sieben Monaten zu halbieren. Wer keinen Anspruch mehr hat, erhält eine Zeitlang eine monatliche Sonderzahlung von 400 Euro. Danach muss die Familie oder die Caritas einspringen. Von der europäischen Peripherie aus betrachtet wirkt Hartz IV schon fast wieder luxuriös.
Von einer sozialen Grundsicherung, die die Reformen angeblich garantieren sollten, kann aber spätestens dann kaum mehr eine Rede sein, wenn der Ruhestand bevorsteht. Bereits jetzt ist absehbar, dass Millionen Beschäftigte wegen ihrer niedrigen Löhne keine ausreichende Rente erhalten werden. Pläne von Bundesarbeitsministerin Ursula von der Leyen, eine Pflichtversicherung für Selbstständige einzuführen, werden vorerst nicht weiterverfolgt: Die meisten prekären Freiberufler können sich diese Form der Altersvorsorge schlicht nicht leisten.
Das Problem hat auch Schröder erkannt. Er sorge sich, dass es »immer mehr Rentner, immer weniger Arbeitnehmer« gebe, wie er der Bild-Zeitung verriet. Aber auch eine Antwort hat er bereits parat: »Also müssen wir möglichst viele in Arbeit bringen.« Einen Hinweis, wie dieser Vorschlag gemeint sein könnte, gab kürzlich sein ehema­liger Parteifreund, der frühere Wirtschaftsminister Wolfgang Clement. »Wir sollten die gesetz­liche Lebensarbeitszeitbegrenzung abschaffen«, sagte er vergangene Woche in der Welt. Wer wolle und könne, solle bis zum 75. oder 80. Lebensjahr arbeiten. Die Tatsache, dass viele prekär Beschäftigte wegen ihrer niedrigen Rente künftig bis zu ihrem Lebensende arbeiten müssen, egal, ob sie wollen oder nicht, übersieht Clement geflissentlich.
Schließlich gibt es »kein Recht auf Faulheit«, wie Schröder vor zehn Jahren sein Reformvorhaben verteidigte – das soll auch im Alter gelten. Vielleicht manifestiert sich in dieser Stammtischparole der eigentliche Erfolg seines größten po­litischen Projekts. Bis dahin hatte noch das Wohlfahrtsversprechen des »rheinischen Kapitalismus« als gesellschaftlicher Konsens gegolten. Nun fühlte sich eine selbsternannte Elite bestätigt, die glaubte, dass nur individueller Leistungswillen zum wirtschaftlichen Erfolg führe, während die sozialen Verlierer in einem parasitären Verhältnis zur Gesellschaft stünden. So konnte der Philosoph Peter Sloterdijk 2009 von der angeblich herrschenden Ausbeutung der Besserverdienenden durch die Arbeitslosen schwadronieren und medienwirksam von einer »sozialpsychologischen Neuerfindung der Gesellschaft« fabulieren: Almosen statt Sozialhilfe. Im Zuge dieser Debatte konnte die FDP immerhin das beste Wahlergebnis ihrer Geschichte erzielen.

Die Legende von der segensreichen Tätigkeit der wirtschaftlichen Elite verlor angesichts der katastrophalen Finanzkrise zwar schnell an Glanz. Die Verachtung für die Verlierer dauert indes an, wie die öffentlichen Debatten über den Umgang mit den Euro-Schuldenstaaten fast täglich zeigen. Die Deutschen haben sich mit den Hartz-Reformen arrangiert, seit sie den abendlichen Fernsehnachrichten entnehmen können, dass anderenorts die Zustände noch übler sind. Denn was in Griechenland oder Portugal bereits alltäglich ist, könnte vielleicht auch hierzulande blühen, wenn sich die wirtschaftlichen Bedingungen ändern. So ist sich der ehemalige Kanzler Schröder sicher, dass die bisherigen Reformen nicht ausreichen. Auf die Frage, ob eine »Agenda 2020« nötig sei, antwortete er entschieden: »Ja, wobei der Name egal ist. Hauptsache, es passiert was.« Hartz IV war wohl erst der Anfang.