Von Rostock nach Zwickau

Von Rostock nach Zwickau

Manche Bilder des Pogroms von Rostock-Lichtenhagen im August 1992 sind unvergessen: Der Schnauzer-Nazi mit der vollgepissten Jogginghose, die Aufschrift »Happi happi bei Api« an der Imbissbude, die den Mob mit Würsten und Bier versorgte, und die Polizisten, die den Angriffen tatenlos zusahen. Vergessen wurde aber, dass dieses Pogrom kein »Ausrutscher«, kein Anfang und kein Schlusspunkt war.

Wir hatten in Reih und Glied beim Fahnenappell gestanden und Teile des Marxschen Œuvres auswendig gelernt. Oder wenigstens die Pioniergebote. Wir waren durch Kiefernwälder gerobbt, hatten mit Granaten um die Wette geschmissen und im Angesicht der Wehrübungen älterer Mitschüler kapiert, dass alles schlimmer würde, sinnloser. Ein Klassenfoto der Jugendweihe 1989 zeigt eine Trauergemeinde: alle in schwarz. Keiner lacht. Wenig später saßen wir mit unseren Eltern, Freunden und Nachbarn in der Kirche auf unbequemen Holzbänken, froren und starrten die Redner an, deren Worte uns weniger berührten als das, was sie in den Gesichtern der Erwachsenen auslösten: Zorn und Freude, Euphorie und manchmal blanken Hass. Dann knallten eigene Worte aus ungeübten Kehlen, panisch. Laut und undeutlich. Bei der ersten Montags-Demo sangen nochmal alle zusammen: »Völker hört die Signale. Auf zum letzten Gefecht.« Es war kläglich. Klar artikuliert folgten die ersten Zwischenrufe: »Deutschland den Deutschen, Ausländer raus.«

Ausgerechnet Helmut Roewer, der ehemalige Präsident des Landesamts für Verfassungsschutz, in dessen Amtszeit die Gründung des »Thüringischen Heimatschutzes« und des terroristischen NSU fallen, schreibt auf seiner Website, die Wurzeln heutiger Nazi-Verbrechen seien in den frühen neunziger Jahren zu suchen. Roewer, der seine Bücher gern im antisemitischen Ares-Verlag veröffentlicht und diverse Finanzspritzen für die thüringische Neonazi-Szene zu verantworten hat, mag damit von der vielfältigen Vernetzung des VS mit den späteren Mördern ablenken wollen, recht hat er dennoch. Die Gemengelage aus »labiler Polizeistruktur«, »Altlasten«, »unfähigen Westimporten« und »zügelloser Gewalt unter anpolitisierten Jugendlichen«, die er bei seinem Amtsantritt 1994 vorgefunden habe, ist (nimmt man noch eine Justiz hinzu, die sich nach Kräften weigert, rassistische Straftaten als solche zu verurteilen) treffend skizziert. Da aber die rechte »Anpolitisierung« der Jugendlichen bereits vor dem Abschluss des Einheitsvertrages einsetzte, darf man getrost von »durchpolitisierten Erwachsenen« sprechen. Was Roewer nicht erwähnt, ist die Tatsache, dass diese fatale Gemengelage von Seiten des Staates gezielt benutzt und durch »unfähige Westimporte« wie ihn selbst gefördert wurde.

Das alte Misstrauen kroch aus dem Asphalt, den Zeitungen und Radiomeldungen, bekam immer neue Nahrung. Alle waren verdächtig. Bonzenjagd. Du Spitzelschwein! Denunzianten und Selbstmörder. Stasi verrecke! West-Beamte fuhren in schwarzen BMW gen Osten, parkten vor den Kreisverwaltungen. Zukünftige Amtsleiter stellten sich kurz vor und glänzten bei Amtsantritt mit Abwesenheit. Voilà, ihr Deppen. Auch Lehrer kamen. Die Art, wie sie sprachen, sich gaben, berührte uns peinlich. Aber wir waren ja die Idioten. Oder? Muttis standen Möbeln gleich in Wohnzimmern herum, blätterten in Katalogen und versuchten zu kapieren, was mit ihnen geschah. Die machen uns fertig. Die kaufen uns auf. Schlag dir endlich das WIR aus dem Kopf!

Seit 1990 war klar, dass sich in der noch existierenden DDR eine rechte Massenbewegung konstituierte, teils aus eigenen in den achtziger Jahren entstandenen Skinhead-Strukturen, teils von westdeutschen Gruppen gefördert. Im April 1991 waren daher SEK-Einheiten aus den alten Bundesländern in Brennpunkten wie Hoyerswerda im Einsatz, allerdings nicht (wie sich dort vier Monate später zeigen sollte), um rechte Aktivitäten zu unterbinden, sondern, um »das Schlimmste zu verhüten«. In Hoyerswerda sah das so aus, dass Polizeieinheiten tagelang Korridore sicherten, durch die die Bewohner vom Vertragsarbeiter- und Flüchtlingswohnheim einen Einkaufsmarkt und die Mülltonnen ihres Blocks erreichen konnten. Einsätze gegen den stetig wachsenden Mob rund um diese Korridore fanden nicht statt. Mob und Polizei waren hier gleichermaßen Vollstrecker des auf höchster politischer Ebene gefassten Entschlusses, der lange geplanten Abschaffung des alten Asylgesetzes die nötige Mehrheit im Bundestag zu verschaffen. Eine komplexe Eskalationsinszenierung mit dem Ziel, den Abtransport der Opfer, also das Einknicken vor dem »Volkswillen«, als einzige Lösung erscheinen zu lassen.

Die Vertragsarbeiter, in den Kasernen, draußen im Naturschutzgebiet, waren schutzlos. Seit einer meiner Mitschüler im Vollsuff auf einen der jungen Mosambikaner losgegangen war, versuchten sie, sich unsichtbar zu machen. Ihm, dem Messerstecher, schien es peinlich zu sein. Vor allem die bewundernden Blicke der Mädchen. Eine versprach ihm: Wenn du mich beim nächsten Mal mitnimmst, zum Negerstechen, kannst du mich ficken. Es lag ein solcher Ekel in der Luft, ein Furor in den Kneipen, den Bussen und Hauseingängen. Aufrufe zum »Fidschis Klatschen« verbreiteten sich wie Lauffeuer in den Schulfluren. Endlich passiert mal was. Morgen früh Abfahrt nach Hoyerswerda. Nehmt euch was zu essen mit.

Nicht, dass Hoyerswerda an irgendeinem Schreibtisch ausgewählt worden wäre, um genau dort die »Das Boot ist voll«-Metaphorik der Politik medial zu bebildern. Die Ausgangslage etwa in Guben oder Schwedt war die gleiche: wartende Polizisten und wachsender Volkszorn. Die Leute in »Hoywoy« waren nur schneller als andere. Politisch brachte es nicht den gewünschten Erfolg, was auch daran gelegen haben mag, dass sich das triste Braunkohlenstädtchen in der fernen Lausitz nicht wirklich als Blaupause für eine gesamtdeutsche Perspektive eignete, sich die schockierte Berichterstattung eher auf halbbarbarische Ostmenschen konzentrierte. Das Prinzip aber wurde als richtig erkannt. So diente die Vorgehensweise in Hoyerswerda als Generalprobe für jene in Rostock-Lichtenhagen ein Jahr später. Hier hatte man endlich eine Großstadt als Spielbrett, und alle wussten von Anfang an, was von ihnen erwartet wurde: Medien, Polizei, Nazis und der um ein vielfaches größere Mob.
Der Sommer des Jahres 1992 war heiß. Ein »Jahrhundertsommer«. Ich war 17 und träumte davon, als Reporterin die Welt zu bereisen. Dabei hockte ich in meinem Zimmer und traute mich nicht raus, denn draußen sein war mörderisch. Der lokale Polizeibericht schwieg zu Menschenjagden und Überfällen. Stattdessen wurde akribisch jeder Einbruch in Kleingartenanlagen vermeldet. Diebesbanden. Asylanten. So was erregte die Gemüter: Das Wetter und die drohende »Überfremdung« der neuen Republik. An der Hitze ließe sich nichts ändern. An der Sache mit den »Ausländern« schon. Es mangelte nicht an pragmatischem Tatendrang in den Biergärten, im Schatten der Kastanien im ganzen Land.

Die für 300 Menschen geeignete Zentrale Aufnahmestelle (ZASt) in Lichtenhagen hatte im Sommer 1992 die fünffache Anzahl an Flüchtlingen zu versorgen. Menschen mussten tagelang rund um das Gebäude campen. Alle Eingaben von Anwohnern und Heimleitung, selbst Anträge für mobile Toiletten, blieben unbeantwortet. Die Lokalpresse hetzte täglich über in Vorgärten scheißende »Zigeuner«, bis sich Mitte August ein rassistischer Massenaufstand formiert hatte, dem man – wie in Hoyerswerda – mit dem Abtransport der Flüchtlinge begegnete. Nun geriet das benachbarte Vertragsarbeiterwohnheim der Vietnamesen ins Visier. Jugendliche Pogromtouristen strömten aus den Dörfern in die Stadt, um gemeinsam mit den Rostocker Bürgern und den wartenden Fernsehteams die Inszenierung zu vollenden. Eine bis heute nicht restlos aufgedeckte Befehlskette zwischen Bonn, Schwerin und den Einsatzleitern vor Ort läutete schließlich zum finalen Akt: Alle Einsatzgruppen der Polizei wurden für Stunden abgezogen und gaben die Bewohner des Hauses zur Lynchjustiz frei.

Am meisten fürchtete ich die Gang aus unserer Stadt, die ständig wuchs und alle meine männlichen Mitschüler, die Nachbarsjungen und deren jüngere Geschwister verschluckte. Wer nicht zu ihnen gehörte, war wahlweise Publikum oder Objekt ihrer Hass- und Gewaltausbrüche. Den Jahreswechsel hatten sie mit einem Mord eingeleitet. Am Rande der Disko traten sie so lange auf Guido ein, bis er sich nicht mehr regte. Die Tanzveranstaltung wurde ordnungsgemäß fortgesetzt. Selber Schuld. Scheiß Dorfdepp. Schnauze halten. Schnauze. Jetzt halt endlich dein Maul!

In Goethes berühmtem Gedicht kann der arme Zauberlehrling die Geister, die er rief, nicht wieder bannen. Im Nachklang des Pogroms von Lichtenhagen gab es nicht mal den Versuch, sie zu bannen. Nachdem das individuelle Grundrecht auf Asyl abgeschafft und das Gros der Flüchtlinge gen Westen evakuiert worden war, wandten sich Politik und Medien einvernehmlich ab und anderen Themen zu. Mission accomplished. Die in den Pogromjahren entstandenen »national befreiten Zonen« in Ostdeutschland wurden sich selbst überlassen, und so kurz wie das Strafmaß geriet auch das Medienecho auf all die folgenden Morde, wie etwa die an Belaid Baylal (1993), Ahmed Bahir (1996) oder Farid Gouendoul (1999). Die meisten wurden nicht mal als »rassistisch motiviert« anerkannt. Erst acht Jahre nach Lichtenhagen blies Kanzler Schröder in Folge des Brandanschlags auf die Düsseldorfer Synagoge endlich zur Re-Education. Doch dieser »Aufstand der Anständigen« war schnell vorbei, als zwei junge Muslime die Tat gestanden.

Ich erinnere mich an polierte Glatzen im Sonnenlicht. Sie ließen sich bewundern, draußen auf der Straße, vor den Kneipen, im Stadtbad. Für ihre Heldentaten und frisch gestochenen Tattoos. Seit Hoyerswerda hatten sie die Straßen der Kleinstädte und Dörfer mit martialischen Auftritten erobert. Klar gab es Gegenwehr. Kneipenwirte und Bauern bewaffneten sich mit Knüppeln, mit Mistgabeln. Aussichtslos. Sie kamen mit ihren Baseballschlägern, Stahlkappenschuhen, Äxten und – Mordlust. Kaum war der erste Überfall überstanden, erschienen die nächsten. Manchmal in derselben Nacht. Erst die Oranienburger, dann die Henningsdorfer, die mit den schwarzen Lederjacken gefolgt von denen mit den grünen Bomberjacken, oder umgekehrt. Die wehrhaften Bauern verloren in jenem Sommer mehr als diese Schlacht. Die Ernte verdorrte, Felder gingen in Flammen auf.

Obwohl Helmut Roewer sicher einiges dazu beigetragen hat, ist die Entstehung der »Zwickauer Zelle« weder ihm allein noch speziell dem Thüringer VS anzulasten. Böhnhardt, Mundlos und Zschäpe hätten ebenso gut aus Mecklenburg, Sachsen oder Brandenburg kommen können. Ihr entscheidendes Profilmerkmal ist, dass sie jener Generation entstammen, die sich die Pogrome von Hoyerswerda und Rostock wie einen Orden für erfolgreiche politische Mitwirkung an die Brust heften durfte. Ein Erfolg, der bis heute sichtbar ist. Der Anteil von Migranten an der Gesamtbevölkerung liegt in den westlichen Bundesländern meist um 20, in allen östlichen um zwei Prozent. Institutioneller Rassismus gehört zum Inventar der Amststuben im ganzen Land.

Mit 19 landete ich bei der Lokalzeitung. Ich vervollständigte Polizeiberichte, informierte über die Lage der ehemaligen Vertragsarbeiter, versuchte, der allgemeinen Gleichgültigkeit die Stirn zu bieten. So wie ein paar andere auch. Aber alles, was wir taten, wurde misstrauisch beäugt. Nestbeschmutzer. Linke Sau. Das Gerücht, ich unterhielte gute Kontakte zu Kreuzberger Autonomen, war so lächerlich wie hilfreich. Ich nahm die Rolle an.
Als mich 1998 GTIs mit getönten Scheiben beschatteten, sie in den Läden und Clubs vor Ort nach mir suchten, hab ich schließlich die Koffer gepackt. Die Menschenjäger, Guidos Mörder, der Messerstecher – sie sind dageblieben und hüten die Ordnung auf ihre Weise. Sie bringen ihre Kinder zur Schule, spielen Fußball in der Altherrenmannschaft und sitzen im Vorstand von Hundesport- und Jugendhilfeverein. Ein »Eisneger« kostet einen Euro.

Die Autoren sind gemeinsam mit Karsten Krampitz Herausgeber der Anthologie »Kaltland – Eine Sammlung« (Rotbuch 2011) zu den Pogromen von Hoyerswerda und Rostock.
Lesetermine:
Sonntag, 19. August, »Kosmotique e.V.«, Dresden, 19 Uhr
Dienstag, 21. August, »Polyester Club«, Oldenburg, 19.30 Uhr
Mittwoch, 22. August, Stadtbibliothek, Bremen, 20 Uhr
Donnerstag, 23. August, »k-fetisch«, Berlin, 19.30 Uhr
Samstag, 25. August, »Peter-Weiss-Haus«, Rostock, 20 Uhr
Donnerstag, 6. September, »Rote Flora«, Hamburg, 19.30 Uhr
Donnerstag, 27. September, »Kulturfabrik«, Hoyerswerda, 19.30 Uhr