Damals in Rostock. Antifaschisten erinnern sich

»Wir hätten dort bleiben sollen«

Anfang der neunziger Jahre gab es bereits eine autonome Antifa-Szene. Wie hat sie das Pogrom von Rostock erlebt? Antifaschisten erinnern sich.

»Die erste Szene, an die ich mich entsinne: Es ist Sonntag, 23. August 1992, später Nachmittag oder früher Abend. Da sind wir endlich das erste Mal rausgefahren nach Lichtenhagen, mit knapp 100 Leuten. Meine Erinnerung: So stelle ich mir Bürgerkrieg vor …« So beschreibt unter anderem die Antifaschistin Olga in der aktuellen Ausgabe des Antifaschistischen Infoblatts (AIB) ihre Erinnerung an die Ankunft in Rostock, wo im Stadtteil Lichtenhagen seit dem Vortag schwere Angriffe von Bürgern und Neonazis auf ein Vertragsabeiterheim, das sogenannte Sonnenblumenhaus, tobten. Diese entwickelten sich innerhalb weniger Stunden zu einem Pogrom, das nicht nur international für Aufmerksamkeit sorgte, sondern zum Synonym für nationalistische Gewalt und rassistische Politik geworden ist.

Bereits ein Jahr zuvor, mit den Angriffen auf ein Flüchtlingswohnheim in Hoyerswerda, hatte sich eine neue Qualität der rassistischen Ausschreitungen gezeigt. »Seit dem Pogrom in Hoyerswerda im September 1991 hatten wir fast jedes Wochenende irgendwo in Brandenburg oder Ostberlin vor einem Flüchtlingsheim oder einem besetzten Haus gestanden. Und, ganz ehrlich, die erste Reaktion war: ›Uff, schon wieder losfahren?‹« Ähnliche Empfindungen hatte nicht nur Karen zu dieser Zeit, die sich dennoch mit einigen Hundert anderen auf den Weg machte. Vor Ort bot sich den anwesenden Antifaschistinnen und Antifaschisten ein erschreckendes Bild: die rassistischen Parolen und der Lärm des kreisenden Polizeihubschraubers. Sie versuchten, sich von hinten an das Sonnenblumenhaus heranzuschleichen, durchs Gebüsch zu robben und sich immer wieder vor der Polizei und den Neonazis zu verstecken. Nachdem die rund 100 angereisten Antifaschistinnen und Antifaschisten von den Umstehenden jedoch erkannt worden waren, traten sie den Rückzug an. »Danach war das Gefühl nicht Ohnmacht, sondern Wut«, berichtet Olga, die mit rund 300 weiteren Antifaschistinnen und Antifaschisten in derselben Nacht zurückfuhr. »(Wir) haben die Autos geparkt an der Stadtautobahn, haben Ketten gebildet, waren zügig, kraftvoll, laut und wütend, sind voller Hass auf den Mob vors Sonnenblumenhaus losgelaufen und haben die Nazis, die davor standen, vertrieben. Ein unbeschreibliches Gefühl (…) Wir hätten dort bleiben sollen: Stattdessen sind wir in die Stadt zurück gefahren und wurden auf dem Rückweg festgenommen.«
Blieb die spontane Vertreibung des Mobs vor dem Sonnenblumenhaus in der Nacht des 23. August für die nächsten Tage der effektivste Ausdruck von praktischer Gegenwehr, gelang es kleineren antifaschistischen Gruppen aber weiterhin, sich in der Nähe des Sonnenblumenhauses aufzuhalten und zu handeln. Während der fortgesetzten rassistischen Angriffe zündeten sie etwa einen von Neonazis genutzten Jugendclub in Rostock-Lichtenhagen an und gingen direkt gegen Neonazis vor. »Was wir tun können, ist, uns welche von den Schweinen auf dem Hin- oder Rückweg vorzuknöpfen. Da wir gut getarnt sind, können wir sie einfach fragen, ob’s Spaß macht da vorne – wenn sie ›ja‹ sagen, schnappen wir sie uns.« (A. G. Grauwacke, 2008: 298)
In Rostock waren das Jugend-Alternativ-Zentrum und die zu diesem Zeitpunkt rund acht besetzten Häuser die zentralen Anlaufpunkte für anreisende Antifaschistinnen und Antifaschisten. Doch herrschte nicht nur in diesen Räumen Uneinigkeit darüber, wie mit der Situation vor dem Sonnenblumenhaus umzugehen sei. Karen beschreibt eines der Plena: »Die Positionen lagen extrem auseinander – von ›Los, lasst uns endlich rausfahren nach Lichtenhagen, egal wie viele Nazis da rumstehen‹ bis zu ›Was macht eigentlich die Polizei?‹«

Einige Hundert Mitglieder antifaschistischer Gruppen konnten die Pogrome selbst nicht beenden, und erst eine Woche später versammelten sich 15 000 bis 20 000 Menschen, um gegen die Angriffe, die Berichterstattung in den Medien und für Solidarität mit den Angegriffenen zu demonstrieren. Dies wurde jedoch nicht von allen in der antifaschistischen Szene positiv bewertet, zu unterschiedlich waren die politischen Vorstellungen vom konkreten Umgang mit den Angriffen. »Wir fragen uns heute, wo die Antifa in den Tagen vom 22. bis 27. August 1992 gesteckt hat. An der bundesweiten ›Stoppt die Pogrome‹-Demo haben bestimmt mehrere Tausend Leute teilgenommen. Diese Demo kommt viel zu spät!«, kritisiert eine Gruppe in der Zeitschrift interim. Um dieser Kritik praktischen Ausdruck zu verleihen, verwüsteten autonome Antirassistinnen und Antirassisten zwar die Redaktionsräume der Norddeutschen Neuesten Nachrichten in Rostock, doch veränderten die Diskussionen um den ruhigen Verlauf der Demonstration, die Frage der Militanz und des Umgangs mit der Lichtenhagener Bevölkerung die antifaschistische Szene stark. So stellt Karen im AIB rückblickend fest: »Wir sind aus Rostock zurückgekommen und die Spaltung, die sich schon vorher abgezeichnet hatte, vertiefte sich eigentlich: Die einen haben sich auf Antira-Politik konzentriert, die damals noch sehr praktisch ausgerichtet war, (…) viele andere (auf) Anti-Nazi-Recherche (…).« Abschließend hält sie fest: »In dem Moment waren wir uns (…) nicht bewusst, welche Konsequenzen es haben würde, dass wir nicht entschieden haben, um jeden Preis zum Sonnenblumenhaus zu kommen.« Ihrer Meinung nach hätte sich die Situation in den folgenden 24 Stunden wahrscheinlich durch einen provozierten Polizeieinsatz, bei dem vielleicht viele »von uns« verletzt worden wären, anders entwickelt, und die Lage vor Ort hätte anders aussehen können. Fest überzeugt ist Karen allerdings davon, »dass die Welle der rassistischen Gewalt des folgenden Jahrzehnts und die extrem rechte Hegemonie, die wir heute haben, anders verlaufen wären ohne das Pogrom«.