Das Neue in der Philosophie der griechischen Antike

Die Liebe zur Weisheit

Über das philosophische Denken der griechischen Antike und seine gegenwärtige Bedeutung.

Die Antike umfasst gut ein bis zwei Jahrtausende Geschichte des Mittelmeerraumes. Das griechische Altertum reicht von ungefähr 800 bis 30 vor unserer Zeit. Die Entstehung der Homerischen Epen, »Illias‹« und »Odyssee«, wird auf das achte oder siebte Jahrhundert datiert; der Übergang ins Römische Imperium fällt schließlich mit dem Zusammenbruch des hellenistischen Reichs zusammen, wenige Jahrzehnte vor Geburt Jesu Christi. Zur Kanonisierung der griechischen Antike gehören, in ihrer Bedeutung fürs Abendland, also die westlich-europäische Welt bis weit in die Neuzeit hinein, freilich nicht nur die Politik, die als polis und attische Demokratie idealisierte Sklavenhaltergesellschaft, sondern die Mythen, Künste und Wissenschaften, deren ideologische Figurationen bis heute nachleben – das Pantheon und der Götterhimmel, das The­ater (mit seinen Grundformen Tragödie und Komödie), die Baukunst und überhaupt die Architektur der Stadtstaaten, schließlich und vor allem die Philosophie.
Naiv wäre es freilich, das überlieferte Wissen von der Antike auf das gegenwärtige Griechenland oder auf Europa und die übrige Welt zu applizieren. Zwar ist seit Herodot der Name Europa (auch eine Göttin der griechischen Mythologie) für das Landgebiet nördlich des Mittelmeeres überliefert, und noch immer steht, wenn auch in fortschreitendem Verfall, die Akropolis; aber angesichts der Weltveränderungen, die sich seit der Antike zugetragen haben, zumal in den letzten beiden Jahrhunderten, haben selbst die schönsten Sprichwörter eigentlich ihren Sinn verloren: Eulen nach Athen zu tragen, bezeichnet heute nicht mehr, wie noch bei Aristophanes, eine überflüssige Tätigkeit – ganz im Gegenteil, auch und gerade, wenn dennoch und heute erst recht zu gelten scheint, dass, nach Hegels Wort, »die Eule der Minerva erst mit der einbrechenden Dämmerung ihren Flug« beginne: Auch die metaphorischen Eulen sind in Athen längst ausgestorben.

Sicherlich reicht die Geschichte philosophischen Denkens weit in die Frühzeit menschlichen Lebens zurück, dafür finden sich auf allen Kontinenten zu beinahe allen Zeiten die unterschiedlichsten, nicht nur sprachlich-schriftlichen Zeugnisse. Doch die Philosophie im engeren Sinne entsteht erst in der griechischen Antike. Ihre Blütezeit hat sie mit dem sogenannten Hellenismus, nach Johann Gustav Droysens Zuordnung mit der Regierungszeit Alexanders des Großen im vierten Jahrhundert vor unserer Zeit beginnend. Philosophie entsteht hier in einer beacht­lichen Fülle und Vielfalt an Gedanken: Kosmologie, Atomlehre, Zahlentheorien, sowohl ewiges Werden und unaufhörlicher Wandel – Heraklits »Alles fließt« – als auch unveränderliches Sein – Parmenides und die Eleaten –, die mit den berühmten Namen Sokrates, Platon, Aristoteles verbundenen Theoriegebäude, Höhlengleichnis oder Metaphysik, um nur einige Stichworte zu nennen, schließlich der Hedonismus, die kluge Lebenskunst oder das heroische Lebens­ideal – Epikur oder die Stoiker.
Bestimmt ist die Philosophie der griechischen Antike von dem, was Herbert Schnädelbach einmal das »ontologische Paradigma« nannte, nämlich von den Grundfragen nach dem Sein, also der Problematisierung dessen, was die Welt im Innersten wie Äußersten zusammenhält. Neu in der Philosophie der griechischen Antike ist mithin, dass das Denken selbst zum Gegenstand des Denkens, Philosophie reflexiv wird. Bei allem Reichtum und aller Vielfalt der antiken Philosophie gibt es doch zwei Konzepte, die das griechische Denken in spezifischer Weise charakterisieren: »Logos« und »Eidos«, das sind »Logik« und »Idee«, oder »Wort« und »Gestalt«, oder »Name« und »Bild«. Immer sind es hierbei auch Widersprüche, Bewegungen, Antinomien, die die Griechen interessieren; in der Verbindung mit Logos und Eidos ist das dann vor allem die Dialektik – als Methode. Und die Rhetorik. Die Kunst des überzeugenden Gesprächs ist für die antike Philosophie genauso von Belang wie die argumentierende Rede und Gegenrede. Gerade in der Philosophie erweist sich die griechische Kultur als Streitkultur – eine patriarchal dominierte, autoritäre wie aggressive Kultur ritualisierter Männlichkeit. Zur Agora, dem Markt im Zentrum des Stadt- und Staatslebens, gehört der Wettkampf, das Aushandeln von Konflikten und Kräftemessen. Und auch das meint der dem Protagoras zugeschriebenen Satz: »Der Mensch ist das Maß aller Dinge.«
Bemerkenswert ist allerdings, wie fern dem griechischen Denken, bei aller antiken Klugheit, die Emanzipation ist, das Streben nach menschlicher Freiheit als Selbstbefreiung des Menschen. Die hellenistische Philosophie ist alles andere als revolutionär. Zwar finden sich, spätestens mit Aristoteles, auf radikale Weise die Verhältnisse von Theorie und Praxis, darüber hinaus Möglichkeit und Wirklichkeit thematisiert, aber nicht als soziale Verhältnisse; Aristoteles unterscheidet etwa »In-Möglichkeit-Seiendes« (dynámei ón) vom »Nach-Möglichkeit-Seienden« (katà tò dynatón), jedoch noch nicht im Sinne einer Prozesskategorie möglicher Geschichte des Menschen. Das Dynamische bleibt in der Ordnung der Gesellschaft eingeschlossen, ohne eigentlich einen Begriff von ihr zu haben. Insofern standen die griechischen Philosophen mit ihren Gedanken und Fähigkeiten in vollem Einklang mit den herrschenden Zuständen; nicht selten waren sie an der Politik beteiligt, bezogen machtvolle Positionen in den attischen Gemeinden oder pflegten ein ruhiges, freies Leben im Abseits. Gleichwohl verstand sich das philosophische Denken als Haltung. Gelehrte waren als Lehrer immer auch Lebenskünstler; und das durchaus im Sinne eines Berufes: Die Sophisten, wie man die vorsokratischen Gelehrten nannte, also die Weisheitsbringer, verkauften die Weisheit, die sie brachten – sie boten für Geld ihre über alle Wissensgebiete verteilten Kenntnisse an, ließen sich für ihr rhetorisches Vermögen bezahlen.
Dagegen wird dann aber, mit Sokrates und überliefert durch Platon, die Philosophie im buchstäblichen Sinne stark gemacht; es dürfte bekannt sein, dass das Wort »Philosophie« der griechischen Sprache entnommen ist und »Freund­schaft« oder sogar »Liebe zur Weisheit« bedeutet. Der durchaus auch für die griechische Gesellschaft provokative Einwand gegen die Sophisten ist in dieser Wortwendung impliziert: Die Weisheit kann man nicht besitzen; sie ist kein Eigentum, über das mit Geld verfügt werden kann. So kommt der Philosoph als Freund der Weisheit ins Spiel: Er liebt die Weisheit, statt sie wie die Sophisten als Geschäft zu betreiben; er philosophiert um der Philosophie willen, nicht, um sich und anderen Vorteile zu verschaffen.
Dem Sophismus setzt Sokrates das, was er »Mäeutik« nennt, entgegen, eine didaktische, dialektische Methode, die durch Nachhaken, Fragen, Prüfen gleichsam als Hebamme (= maieútria) der philosophischen Erkenntnis fungiert. Entscheidend eben: Hier wird Weisheit nicht verkauft, sondern der am wohlüberlegten Gedanken interessierten Person wird geholfen, selbst zur gesuchten Weisheit zu gelangen; Philosophie ist damit kein abgeschlossenes Wissen, sondern ein fortwährender reflexiver Versuch, sich selbst zu erkennen. Das stellt herrschende Gewissheiten in Frage – und zwar nicht durch ein anderes Wissen, sondern durch das Denken selbst, durch die Methode. Alle Erkenntnis beginnt immer wieder mit dem gefährlichen Zweifel, »dass ich von mir selbst weiß, dass ich gar nichts weiß«, wie Sokrates in seiner Vertei­digungsrede sagt. Er wird zum Tode verurteilt. 399 vor unserer Zeit trinkt Sokrates den giftigen Schierlingsbecher, hingerichtet für das philosophische Denken an sich. Sokrates begründete ja nicht nur in Abgrenzung zu anderen Tätigkeiten die Praxis des Philosophierens, sondern zeigt auch, dass die Philosophie nichts Exklusives ist, dass nämlich alle philosophieren können. Er erklärt das Staunen, die Verwunderung (thaumadzein) zum Ursprung der Philosophie und verteidigt damit erstmals eine Freiheit des Gedankens, die Einheit des Wahren und Guten, für die es sich sogar zu sterben lohne.
Das Staunen, schreibt die ungarische Philosophin Ágnes Heller in ihrer Rekonstruktion der »Philosophie des linken Radikalismus« 1978 mit Bezug auf Sokrates, ist der »Ausgangspunkt jeder Philosophie«; das thaumadzein ist ein naives Staunen. »Die Philosophie besitzt die wunderbare Fähigkeit, den Mut, die kindischsten Fragen zu stellen: Was ist das? Wieso ist das? Warum ist das gerade so? Warum muss das so sein? Welchen Zweck hat das? Warum muss das so gemacht werden? Warum darf man dies nicht so tun?« In der Tat vermochten die Griechen die philosophischen Fragen naiv zu stellen, als Kinderfragen. Mit der Aufklärung wird, trotz klassischem Rückbezug auf die Antike, auch über diese Naivität aufgeklärt. Friedrich Schiller begründete eindrucksvoll, warum die naive Dichtung durch eine sentimentalische aufgehoben werden müsse – und das gilt auch für die Philosophie. Damit hat sich allerdings das antike Denken wie auch die griechische Kunst längst noch nicht erledigt. So notierte Marx in seinen ökonomischen Manuskripten: »Lebt in der Kindernatur nicht in jeder Epoche ihr eigner Charakter in seiner Naturwahrheit auf? Warum sollte die geschichtliche Kindheit der Menschheit, wo sie am schönsten entfaltet, als eine nie wiederkehrende Stufe nicht ewigen Reiz ausüben? Es gibt ungezogene Kinder und altkluge Kinder. Viele der alten Völker gehören in diese Kategorie. Normale Kinder waren die Griechen. Der Reiz ihrer Kunst für uns steht nicht im Widerspruch zu der unentwickelten Gesellschaftsstufe, worauf sie wuchs.«

Die Philosophie der griechischen Antike, Platon und Aristoteles vor allem, bildet fraglos den Grundstock des abendländischen Denkens bis weit in die Moderne hinein. Im Mittelalter steht dem Platonismus ein verbotener Aristoteles gegenüber; die Ideenlehre Platons passt zur Ideo­logie der katholischen Kirche, jüdische und islamische Gelehrte reaktivieren dagegen das materialistische Philosophieren der alten Griechen – Ernst Bloch spricht hier von einer »Aristotelischen Linken«. Langsam keimt ein realer Humanismus auf, der schließlich im Namen der Renaissance – also wörtlich Wiedergeburt – aus der griechischen Philosophie heraus ein neues Menschenideal gebiert. Selbsterkenntnis steigert sich zur Welterkenntnis. Logos und Eidos sind nun wieder die treibenden Kräfte des Denkens – und mehr noch: Sie entfalten jetzt ihr kritisches Potential als Vernunft und Sinnlichkeit. So setzt sich, über Giordano Bruno, in der Barockphilosophie, bei Descartes, Spinoza, Leibniz etc., das griechische Denken fort, bis es sich im 18. Jahrhundert im Schatten der europäischen Aufklärung und Revolutionen als radikalisierte Frage nach dem Menschen erneuert. Die eigentliche Philosophie der Antike gerät immer mehr in den Hintergrund; akzentuiert werden stattdessen wieder die Kunst und die Mythologie. Insbesondere die Klassik beansprucht als Maßstab ihrer Gegenwart das griechische Ideal (dem freilich die hellenistische Wirklichkeit nieentsprach). Mit der Romantik schließlich ist der aktualisierende Bezug auf das griechische Denken vollends kritisch geworden. Die Einheit der antiken Kunst wie auch der überlieferten Mythologie wird einer Welt kontrastiert, die bloß noch als zerbrochen und verloren erfahren wird. Die Idealität »echter Griechheit« (Friedrich Schlegel) findet ihren Ort schlechterdings in der Kunst. Aber diese Idealität ist verloren. »Die schönen Tage der griechischen Kunst«, heißt es lapidar bei Hegel, »sind vorüber.«

Mit Hegel setzt sich fort, was im Zeitbewusstsein Augustinus’ und im Geschichtsbewusstsein Vicos bereits angelegt war: Er verbindet den griechischen Logos und Eidos als Vernunft und Sinnlichkeit in welthistorischer Perspektive mit der Freiheit des Menschen beziehungsweise menschlichen Freiheit. Berühmt ist Hegels Diktum: »Die Weltgeschichte ist der Fortschritt im Bewusstsein der Freiheit – ein Fortschritt, den wir in seiner Notwendigkeit zu erkennen haben (…) und zwar zunächst in der Form, dass die Orientalen nur gewusst haben, dass Einer frei, die griechische und römische Welt aber, dass einige frei sind, dass wir aber wissen, alle Menschen an sich, das heißt der Mensch als Mensch sei frei.«
Im Zustand der Unfreiheit wird allerdings Philosophie selbst problematisch. Wenn Walter Benjamin in seinen »Thesen über den Begriff der Geschichte« notiert, dass »das Staunen darüber, dass die Dinge, die wir erleben, im 20. Jahrhundert ›noch‹ möglich sind, (…) kein philosophisches« ist, dann trifft diese Absage an die Philosophie das Erbe des griechischen Denkens allemal. Es kommt nicht von ungefähr, dass in der »Dialektik der Aufklärung« von Adorno und Horkheimer die Konstruktion ihrer negativen Geschichtsphilosophie ihren Ausgangspunkt und ihr Modell nicht in der griechischen Philosophie hat, sondern in der griechischen Mythologie, den Homerischen Epen.
Geschuldet ist das der Einsicht, dass am philosophischen Denken der griechischen Antike nur zu retten ist, was – bis heute – unabgegolten bleibt. Die Glückseligkeit, welche zum Beispiel von der hedonistischen Philosophie Diogenes’ und Epikurs versprochen wurde, kann im Zeit­alter der Massenvernichtung so wenig politisch »angerufen« werden wie die Metaphysik Aristoteles’. Zu retten ist allerdings der Impuls, dass es einen seit den alten Zeiten bis heute unerfüllten Anspruch auf beides gibt, Glück und Metaphysik. Aufbewahrt bleibt dieser Anspruch in der kritischen Vermittlung von Logos und Eidos, Vernunft und Sinnlichkeit; dass darüber der Mensch das Maß aller Dinge bleibt, ist Aufgabe nicht der Philosophie, sondern der Praxis.