Weg frei für den Fiskalpakt

Nach dem Urteil kommt das Sparen

Das Bundesverfassungsgericht hat mit dem Urteil zur deutschen Beteiligung am Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) den Weg für die Fiskalunion frei gemacht. Ob es den Regierungen der Krisenländer jedoch gelingt, die strengen Spar­auflagen des ESM innenpolitisch durchzusetzen, ist eine andere Frage.

Am Ende waren alle erleichtert. In seltener Eintracht lobten Gregor Gysi, Fraktionsvorsitzender der Linkspartei im Bundestag, und der bayerische Finanzminister Markus Söder (CSU) die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts. Das Urteil der Verfassungsrichter über die deutsche Beteiligung am Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) habe zu »mehr Demokratie geführt«, meinte Gysi. Und Söder zeigte sich erfreut, dass zumindest eine klare Grenze für den ESM benannt wurde. »Jetzt ist notariell beglaubigt, wie hoch die deutsche Haftung ist«, äußerte er im Spiegel.
Ob die restlichen 37 000 Kläger ebenso zufrieden sind, darf bezweifelt werden. An der größten Verfassungsbeschwerde in der Geschichte der Bundesrepublik beteiligten sich nicht nur die üblichen Verdächtigen wie der notorische Euro­skeptiker und CSU-Politiker Peter Gauweiler, sondern viele Bürger, die das Verfassungsgericht als letzten Hüter nationaler Souveränität betrachten. So argumentierten die Kläger, dass die Verträge zum ESM gegen das Grundgesetz verstießen, da sie die Haushaltsautonomie des Bundestags ignorierten. Zudem gehe Deutschland in den Verträgen zum ESM und zum Fiskalpakt unbegrenzte und irreversible Haftungsrisiken ein.
Insgesamt darf laut dem Urteil von Mitte September die Summe von 190 Milliarden Euro für den Rettungsfonds nicht überschritten werden. Deutschland übernimmt 27,15 Prozent des ESM, was rund 22 Milliarden Euro an Barkapital entspricht. Hinzu kommen 168 Milliarden Euro an Bürgschaften. Noch im September wollen die Euro-Finanzminister in Brüssel eine sogenannte interpretierende Erklärung unterzeichnen und damit die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts bestätigen. Ihr Inhalt soll klarstellen, dass die im Vertrag festgehaltenen Haftungsobergrenzen der einzelnen Länder nur mit Zustimmung des jeweiligen Parlaments überschritten werden dürfen.

Auf der Grundlage dieses Urteils kann die Bundesregierung den ESM und den Fiskalpakt ratifizieren. Der ESM löst auf Dauer den zeitlich befristeten Rettungsfonds EFSF ab. Er wird am Ende ein eingezahltes Kapital von 80 Milliarden Euro haben und über einen Kreditrahmen für Krisenstaaten von 500 Milliarden Euro verfügen.
Ob nun die von den Karlsruher Richtern vorgeschriebene Grenze tatsächlich eingehalten werden kann, ist aber auch mit dem Urteil nicht zweifelsfrei geklärt. Wenn andere Bürgen ausfallen oder Notsituationen eintreten, kann die Summe von 190 Milliarden Euro nach vorheriger Konsultation des Bundestags durchaus wieder überschritten werden. Angesichts der maroden finanziellen Situation zahlreicher Euro-Staaten bedarf es nicht viel Phantasie, um sich solche Ausnahmen vorzustellen.
Faktisch hat das Verfassungsgericht damit den Weg zu einer Fiskalunion frei gemacht – und seine früheren Urteile zumindest indirekt revidiert. Bis dahin hatte das Gericht stets argumentiert, dass über die Finanzpolitik letztlich das nationale Parlament entscheide. Unzählige Male hatte Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) Vorschläge aus Brüssel mit Verweis auf die Beschränkungen abgewiesen, die ihr von den Richtern auferlegt worden seien. Das Urteil in Karlsruhe hat jetzt klargestellt, dass die Bewältigung der Euro-Krise eine politische Aufgabe ist, die von den Mitgliedern der Euro-Zone gemeinsam gelöst werden muss.

Für die Euro-Skeptiker besteht genau darin der große Sündenfall, denn nun könnten die Schuldnerländer darauf vertrauen, dass ihnen notfalls der ESM oder die Europäische Zentralbank (EZB) aus der Klemme helfen. Viele Skeptiker sehen zudem in der EZB das gravierendere Problem. Deren Vorsitzender Mario Draghi hatte kürzlich verkündet, dass die Bank in unbegrenztem Umfang Staatsanleihen kaufen könne, wenn die Umstände es gebieten. So werde die EZB spanische oder italienische Anleihen erwerben, um ­deren Zinssätze zu reduzieren.
Draghis Plan ist die letzte Möglichkeit, um die Euro-Zone vor dem Zerfall zu bewahren. Denn während Deutschland von der Krise profitiert und für seine Anleihen historisch niedrige Renditen zahlt, müssen die vermeintlichen Krisenstaaten extreme Risikoaufschläge verkraften, die sie dauerhaft nicht finanzieren können.
Euro-Skeptiker hoffen nun, dass in weiteren Verhandlungen die Verfassungsrichter der EZB den unbegrenzten Ankauf von Staatsanleihen untersagen. Dabei hat die Bank längst deutlich gemacht, dass sie nur Staaten unterstützt, die zuvor Hilfe beim ESM beantragt haben und die damit verbundenen Auflagen akzeptieren. »Einem Staat, der seine öffentlichen Finanzen nicht in Ordnung bringen will, wird die Hilfe verweigert werden«, sagte vergangene Woche das EZB-Ratsmitglied Christian Noyer. Die EZB werde nicht zögern, »die Aufkäufe sofort einzustellen, wenn das Programm des ESM nicht streng befolgt wird«.
Wenig verwunderlich ist es daher, dass Bundeskanzlerin Merkel sowohl mit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts als auch mit Draghis Plänen einverstanden ist. Sie kann nun dem schon fast panischen Drängen vor allem der spanischen Regierung entgegenkommen. Ministerpräsident Mariano Rajoy hatte erst vor wenigen Wochen davor gewarnt, dass Spanien ohne EZB-Hilfe demnächst zahlungsunfähig sei. Die erhoffte Unterstützung aus Frankfurt ist nun möglich – aber nur unter der Voraussetzung, dass die spanische Regierung die Bedingungen des ESM akzeptiert. Die Bundesregierung kann also sicher sein, dass ihre Sparvorgaben weiterhin befolgt werden, auch wenn die EZB im Zweifelsfall mit ihren unbegrenzten Geldmitteln einspringt.
Für die Bundesregierung stellen diese Entscheidungen unter den gegebenen Umständen den bestmöglichen Kompromiss dar. Ohne den Einsatz der Notenpresse sind einige Länder nicht mehr in der Eurozone zu halten. Und von allen Zukunftsszenarien wäre ein Scheitern des Euro die teuerste Variante. Andererseits muss die Regierung in Berlin auch künftig nicht von ihren harten Sparvorgaben abrücken.
Die Bundesregierung kann nun die politische Verantwortung den jeweiligen Ländern zuschieben. Die Maßnahmen, die die Mittel aus ESM und EZB kombinieren, könnten tatsächlich die hohen Renditen bei Staatsanleihen reduzieren – eine wesentliche Voraussetzung, um die Schuldenkrise zu entschärfen. Im Falle von Italien und Spanien genügte bereits Draghis Ankündigung, um die Finanzmärkte zu beruhigen. Die Börsenkurse gingen kurz darauf an fast allen europäischen Börsen nach oben, während die Renditen für südeuropäische Staatsanleihen fielen.

Eine ganz andere Frage ist jedoch, ob es den Krisenländern gelingt, die dafür geforderten Auflagen innenpolitisch durchzusetzen. So scheut sich Rajoy nach wie vor, einen Antrag beim ESM zu stellen. Die rigiden Sparprogramme seiner Regierung haben dazu geführt, dass sich die Wirtschaft in einer tiefen Rezession befindet. In keinem anderen Land Europas liegt die Arbeitslosenquote höher, bei Jugendlichen ist sie mit 55 Prozent sogar weltweit rekordverdächtig. Die starken Belastungen stellen auch den Zusammenhalt des Landes in Frage. So demonstrierten kürzlich eineinhalb Millionen Menschen in Barcelona für die Unabhängigkeit Kataloniens. Die wohlhabende Region sperrt sich insbesondere dagegen, die Haushaltsdefizite anderer Provinzen mitzutragen.
Auch im Nachbarland Portugal scheint die Bevölkerung mit ihrer Geduld langsam am Ende zu sein. Viele glauben nicht mehr den Beschwörungen der liberal-konservativen Koalition von Ministerpräsident Pedro Passos Coelho, dass nach den harten Kürzungen eine wirtschaftliche Erholung in Sicht sei. Vor kurzem streikten die Hafenarbeiter und legten die Öl- und Gasversorgung teilweise lahm. Auf mehreren Großdemonstra­tionen forderten Hunderttausende ein Ende der Sparpolitik.
Auch Deutschland bleibt von den Folgen der Euro-Krise nicht verschont. Die Bundeskanzlerin verweist zwar gerne darauf, dass kein anderes Land in Europa die Krise so erfolgreich bewältigt habe. Der jüngste Armutsbericht der Bundesregierung zeichnet aber ein anderes Bild. Demnach hat sich das staatliche Vermögen in den vergan­genen zwei Jahrzehnten um 800 Milliarden Euro reduziert. Im Zuge der Rettungsmaßnahmen anlässlich der Finanz- und Wirtschaftskrise sei »eine Verschiebung privater Forderungen und Verbindlichkeiten in staatliche Bilanzen feststellbar«, heißt es.
Während die reichsten fünf Prozent der Bevölkerung ihr Vermögen in den vergangenen Jahren steigern konnten und mittlerweile über die Hälfte aller Vermögenswerte verfügen, mussten die ärmsten zehn Prozent drastische Einkommensbußen hinnehmen. Vor allem die Beschäftigten im Niedriglohnsektor, die einen überproportionalen Anteil ihres Einkommens für Miete, Lebensmittel und Energie aufbringen müssen, sind von dieser Entwicklung betroffen.
Die Prophezeiung von Bundeskanzlerin An­gela Merkel, Deutschland werde gestärkt aus der Krise hervorgehen, scheint sich tatsächlich zu bewahrheiten. Sie gilt allerdings nur für den reichsten Teil der Gesellschaft.