Schulden und Demokratie

Wer ist schuld?

Die Schuldenkrise setze die Demokratie in Griechenland außer Kraft, warnen linke Ökonomen, die das Aussetzen der Zahlungen an die Gläubiger und ein »Schuldenaudit« fordern. Dabei berufen sie sich auf die Theorie der »illegitimen Schulden«. Ob sich diese Wirtschaftsdoktrin auf die Lage in Griechenland anwenden lässt, ist allerdings fraglich.

Schulden, nichts als Schulden. Auf rund 315 Milliarden Euro belaufen sich die Forderungen privater und staatlicher Gläubiger an die griechische Regierung. Das entspricht, umgerechnet auf die Gesamtbevölkerung, rund 31 430 Euro pro Einwohner, vom Kleinkind bis zum Greis. Insgesamt beläuft sich der Schuldenstand damit auf 152 Prozent des Bruttoinlandsprodukts des Landes.
Die Summe ist so gewaltig, dass sie trotz aller gegenteiligen Beteuerungen griechischer Politiker wohl niemals vollständig zurückgezahlt werden kann. Selbst der Internationale Währungsfonds (IWF), der ansonsten nicht gerade für eine besonders generöse Haltung bekannt ist, drängt wieder vehement auf einen neuen Schuldenschnitt für Griechenland. Anderenfalls droht der Fonds, künftig keine Kredite mehr zu vergeben. Eine Pleite des Landes wäre dann unausweichlich.
Dem griechischen Journalisten und Ökonomen Leonidas Vatikiotis gehen solche Forderungen nicht weit genug. Gemeinsam mit 30 anderen Wissenschaftlern veröffentlichte er vor zwei Jahren einen Aufruf, in dem das vollständige Aussetzen der Zahlungen an die Gläubiger und ein Ausstieg aus dem Euro gefordert werden, weil »die Strategie des IWF zu einem radikalen Konjunkturrückgang und damit zu einer weiteren Schrumpfung der Staatsfinanzen führen wird«. Die Schuldenkrise würde faktisch Verfassungsprinzipien und die Demokratie in Griechenland außer Kraft setzen.
Für den Herbst ruft die Initiative zusammen mit anderen sozialen Bewegungen in Europa zu einer »breiten Mobilisierung« auf, »als Ausdruck unserer Solidarität mit dem griechischen Volk gegen die illegalen, illegitimen, verabscheuungswürdigen oder nur unzumutbaren Schulden und die internationalen Finanzinstitute«.
Die Forderung nach einem »Schuldenaudit« wird von vielen anderen zivilgesellschaftlichen Initiativen unterstützt. Seit geraumer Zeit fordern linke Parteien, entwicklungspolitische Gruppen und kirchliche Organisationen ein solches Verfahren, das die Verbindlichkeiten eines Staates offenlegen und ihre Legitimität prüfen soll.
Beispiele, in denen sich Regierungen weigerten, ihre Schulden anzuerkennen, finden sich, lange bevor Griechenland in Schwierigkeiten geriet. So zitieren die Unterstützer eines Audits gerne den Fall Costa Rica gegen Großbritannien: 1917 putschte der frühere Kriegsminister Frederico Tinoco in Costa Rica und errichtete eine Diktatur. Anschließend nahm er Kredite zu seinen Gunsten auf und schloss verfassungswidrige Verträge mit britischen Firmen. Nach seinem Sturz weigerte sich die Folgeregierung, diese Schulden zurückzahlen – und erhielt vor dem höchsten US-Gericht Recht, da die Kredite und Verträge nur der persönlichen Bereicherung des Diktators dienten.
Wenige Jahre später versuchte der russische Jurist Alexander Sack, aus solchen Vorgängen eine völkerrechtlich verbindliche Doktrin abzuleiten. Nach seinem Konzept der »illegitimen« oder »verabscheuungswürdigen Schulden« (odious debt) sind staatliche Verbindlichkeiten rechtswidrig, wenn sie von undemokratischen Regierungen aufgenommen und nicht zum Nutzen der Einwohner eingesetzt wurden. Voraussetzung ist, dass der Kreditgeber von diesen Tatsachen gewusst hat.
Zu den ersten Regierungen, die sich explizit auf Sacks Doktrin beriefen, gehörten allerdings ausgerechnet die Nationalsozialisten. Nach der Übernahme von Österreich weigerte sich die NS-Regierung, die »illegitimen Schulden« der österreichischen Republik zu übernehmen, konnten sich aber damit bei den Gläubigern nicht durchsetzen.

Neue Anerkennung erhielt das Konzept nach dem Sturz des irakischen Diktators Saddam Hussein. Die Nachfolgeregierung argumentierte, dass Hussein die ausländischen Kredite dazu benutzt habe, um aufzurüsten, die Bevölkerung zu unterdrücken und Kriege zu führen, ein Politik, die seine internationalen Kreditgebern billigend in Kauf genommen hätten. Im November 2004 einigten sich Gläubiger und die neue Regierung in Bagdad auf einen stufenweisen Schuldenerlass von 80 Prozent der irakischen Auslandsschulden – der höchste, der bisher gewährt wurde.
Als Grund wurde jedoch nicht die Illegitimität der Schulden angeführt, sondern der schlichte Umstand, dass das Land nach dem Krieg völlig pleite war. Die Gläubiger entgingen damit allerdings auch der unangenehmen Debatte darüber, wer die Diktatur von Hussein finanziell unterstützt hatte.

Internationale Aufmerksamkeit erregte schließlich die Regierung Ecuadors, als sie 2007 eine staatliche Kommission einsetzte, die die Legitimität der Auslandsschulden des Landes bei privaten Banken, IWF und Weltbank prüfte. Der größte Teil dieser Forderungen wurde für illegitim befunden, und die Regierung von Präsident Rafael Correa beschloss, nur etwa 30 Prozent davon zurückzuzahlen. Die befürchtete Klagewelle der Kreditgeber blieb aus. »Wir konnten beweisen, dass es Absprachen zwischen den privaten Gläubigern und den Internationalen Finanzinstitutionen gab, um die Gläubiger zu bevorteilen«, beschreibt der damalige Außenminister Ricardo Patino den Erfolg seiner Regierung. Wesentlich nüchterner stellt die deutsche Gesellschaft für Außenwirtschaft den Fall dar. »Der Zugang Ecuadors zu ausländischen Kreditgebern ist wegen seiner einsei­tigen Schuldenumstrukturierung 2008, die von den Analysten als Zahlungsausfall gewertet wird, begrenzt«, heißt es lapidar auf ihrer Website.
Korruption hat in Griechenland ebenfalls dazu beigetragen, dass das Land in Schulden versinkt. Das zeigen die Skandale rund um die Olympischen Spiele in Athen (siehe Seite 11). Als Griechenland 1997 den Zuschlag für 2004 erhielt, sollten die Spiele etwas weniger als eine Milliarde Euro kosten. Tatsächlich musste die Regierung am Ende mehr als 20 Milliarden Euro investieren und dafür hohe Kredite aufnehmen. Insbesondere Siemens und die griechische Filiale Siemens Hellas hatten die Preise für die Zulieferung massiv erhöht. Damit die griechischen Behörden dies akzeptierten und weitere Staatsaufträge vergaben, bestach Siemens Beamte und Politiker, unabhängig davon, ob sie zur Pasok oder zur Nea Dimokratia gehörten. In diesem Frühjahr einigten sich die griechische Regierung und Siemens nach jahrelangem Streit auf eine Entschädigung in Höhe von 270 Millionen Euro. Die Summe lässt nur erahnen, in welchem Ausmaß Schmiergelder geflossen sind. Auch Daimler, MAN, Thyssen und andere bekannte deutsche Firmen sollen nach Angaben der griechischen Staatsanwaltschaft hohe Bestechungsgelder gezahlt haben.
Für Spekulationen sorgte auch ein umstrittener Deal mit der US-Investmentbank Goldman Sachs. Die Bank half 2001 dem griechischen Finanzministerium, die Haushaltszahlen zu frisieren, um die Voraussetzungen für den Euro-Beitritt zu erfüllen. Mit Hilfe eines Kredits von 2,8 Milliarden Euro und komplizierten Währungsgeschäften gelang es tatsächlich, das griechische Defizit um die erforderlichen zwei Prozent zu senken. Vier Jahre später hatte sich der anfänglich so lukrative Deal gänzlich anders entwickelt als von der griechischen Regierung erwartet – der ursprüngliche Kreditbetrag hatte sich auf über fünf Milliarden Euro fast verdoppelt. »Die Rolle, die Goldman Sachs bei der Frisierung der griechischen Bücher spielte, würde man in jedem schlechten linken Politthriller übertrieben finden«, schrieb dazu kürzlich die FAZ.
Auffällig sind zudem die griechischen Rüstungsausgaben. Nach dem aktuellen Bericht des Stockholmer Friedensinstituts (SIPRI) gab die Regierung allein zwischen 2007 und 2011 durchschnittlich drei Prozent des Bruttosozialprodukts für den Kauf von neuen Waffen aus. Die übrigen EU-Staaten investierten maximal anderthalb Prozent. 2008 war Griechenland sogar der größte Rüstungsimporteur weltweit, im vergangenen Jahr immerhin noch der sechstgrößte hinter fünf asiatischen Staaten. Und obwohl Griechenland weitgehend von Küsten umgeben ist, verfügt die Armee über 1 600 deutsche Leopard-II-Panzer – viermal soviel wie die Bundeswehr. Gerechtfertigt werden diese Ausgaben durch die angebliche Bedrohung durch den Nato-Partner Türkei.
Die größten Rüstungslieferanten kommen aus Deutschland und Frankreich, die zugleich die größten Gläubigerstaaten sind. Selbst 2010, als im Bundestag heftig über neue Hilfszahlungen für Griechenland gestritten wurde, genehmigte die Bundesregierung den Verkauf von U-Booten im Wert von fast einer Milliarde Euro. Bezahlt werden sollten sie mit den Hilfskrediten, die sie zuvor bewilligt hatte.

Weil ein signifikanter Teil der griechischen Staatsschulden aufgrund ähnlicher Geschäfte entstanden ist, halten Kritiker wie Leonidas Vatikiotis einen völligen Zahlungsstopp für legitim. Die Kre­dite hätten im wesentlich dazu gedient, dass sich politische und wirtschaftliche Eliten bereichern konnten, während die Bevölkerung die Kosten tragen muss.
Die Begründung ist allerdings widersprüchlich. Griechische Politiker mögen unfähig und korrupt sein. Diktatoren, wie sie Alexander Sack in seinem Konzept voraussetzte, sind sie sicherlich nicht. Ihre Macht basiert vielmehr auf einem klientelistischen System, das nur funktioniert, wenn zumindest auch ein Teil der Bevölkerung durch Ämterpatronage und Begünstigungen profitiert.
Zudem resultieren Griechenlands Probleme nicht nur aus den enormen Auslandsschulden, sondern auch aus den geringen Staatseinnahmen. Schätzungen zufolge werden lediglich ein Fünftel der eigentlich vorgeschrieben Steuerabgaben entrichtet. Während mittlerweile selbst Obdachlose Steuern entrichten sollen, zahlt aus­gerechnet der vermögende Teil der Bevölkerung kaum Abgaben. Die Schulden sind somit Ausdruck ungleicher Machtverhältnisse nicht nur in der Euro-Zone, sondern auch innerhalb Griechenlands. Diese lassen sich wohll kaum alleine mit Hilfe juristischer Begriffe verändern.
In gewisser Weise könnten die Schulden sogar hilfreich sein. Die Verbindlichkeiten sind so enorm, dass nicht nur Griechenland existentiell gefährden ist. Ein Staatsbankrott hätte auch für Deutschland dramatische Konsequenzen, zumal die Folgen für die Euro-Zone gar nicht absehbar sind. Die Gläubiger könnten daher einen weiteren Schuldenschnitt als kleineres Übel vorziehen. Schulden können vor Pleiten schützen. Vorausgesetzt, sie sind hoch genug.